VwGH Ra 2016/22/0098

VwGHRa 2016/22/009821.3.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Schreiber, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 10. August 2016,VGW- 151/074/7090/2016-6, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: O A, MSc, in Wien), zu Recht erkannt:

Normen

62003CJ0230 Sedef VORAB;
62003CJ0383 Dogan VORAB;
ARB1/80 Art6 Abs1;
ARB1/80 Art6 Abs2;
ARB1/80 Art6;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2016220098.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis erteilte das auf Grund einer Säumnisbeschwerde zuständig gewordene Verwaltungsgericht Wien dem Mitbeteiligten, einem türkischen Staatsangehörigen, einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" für die Dauer von zwölf Monaten (Spruchpunkt I.). Als Rechtsgrundlage wurden § 8, § 16 Abs. 2 und § 28 VwGVG in Verbindung mit § 26 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 (ARB 1/80) herangezogen. Weiters wurde der Mitbeteiligte zum Ersatz von Barauslagen verpflichtet (Spruchpunkt II.) und sprach das Verwaltungsgericht aus, dass eine ordentliche Revision nicht zulässig sei (Spruchpunkt III.).

2 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, der Mitbeteiligte sei bisher (seit 2007) auf Grund einer Aufenthaltsbewilligung "Student" - zuletzt gültig bis 22. Juni 2015 - in Österreich rechtmäßig aufhältig gewesen. Vor Ablauf der Gültigkeitsdauer habe der Mitbeteiligte im Juni 2015 einen Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" bei der Behörde gestellt, wobei er sich auf den ARB 1/80 berufen habe. Am 20. Mai 2016 sei die Säumnisbeschwerde des Mitbeteiligten eingebracht worden.

3 Der Mitbeteiligte sei vom 22. Juli 2010 bis 30. September 2010, vom 13. Oktober 2011 bis 30. September 2014 und vom 22. Juni 2015 bis 30. Juni 2016 bei der K. KEG und vom 27. September 2014 bis 16. April 2015 bei der M. GmbH beschäftigt gewesen.

4 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht aus, dass der Mitbeteiligte nach den getroffenen Feststellungen zuerst ca. zwei Monate, nach einer Unterbrechung von etwa einem Jahr fast drei Jahre und nach einer weiteren Unterbrechung von neun Monaten wiederum ein Jahr bei der K. KEG beschäftigt gewesen sei. In den neun Monaten zwischen der dreijährigen und der einjährigen Beschäftigung bei der K. KEG sei der Mitbeteiligte bei der M. GmbH sechs Monate und zwei Wochen beschäftigt gewesen. Der Mitbeteiligte könne eine ununterbrochene ordnungsgemäße Beschäftigung von nahezu drei Jahren - sohin jedenfalls von mehr als einem Jahr - vorweisen. Folglich sei - so das Verwaltungsgericht weiter - Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 anzuwenden. Dem Mitbeteiligten sei - mangels einer entsprechenden innerstaatlichen Gesetzesbestimmung einer für diese Fälle auszustellenden Dokumentation - jener nationale Aufenthaltstitel zu erteilen, der den türkischen Staatsangehörigen in die Lage versetze, von seinen aus dem ARB 1/80 ableitbaren Rechten im österreichischen Bundesgebiet auch in Hinkunft effektiv Gebrauch zu machen. Der vom Mitbeteiligten begehrte Aufenthaltstitel verschaffe ihm das in der genannten Bestimmung festgeschriebene Aufenthaltsrecht.

5 Die ordentliche Revision sei unzulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen gewesen sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des Bundesministers für Inneres. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision beantragte.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 In seiner Zulässigkeitsbegründung gemäß § 28 Abs. 3 VwGG bringt der Revisionswerber vor, das Verwaltungsgericht habe die für die Ableitung eines Anspruches nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erforderliche durchgehende Beschäftigung verkannt. Das Verwaltungsgericht hätte prüfen müssen, weshalb die relevanten Beschäftigungsverhältnisse unterbrochen worden seien und ob diese Unterbrechungen allenfalls gemäß Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 anzurechnen wären bzw. nicht zu einem Verlust bereits erworbener Rechte nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 geführt hätten. Seien die Unterbrechungen der Beschäftigungszeiten nämlich nicht durch die Gründe des Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 gerechtfertigt, müssten die in den Art. 6 Abs. 1 erster bis dritter Spiegelstrich ARB 1/80 vorgesehenen Zeiten stets von Neuem zurückgelegt werden und es könnten Beschäftigungszeiten, die zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr bestanden hätten - wie jene Beschäftigung von knapp drei Jahren bei der K. KEG, welche das Verwaltungsgericht als anspruchsbegründend herangezogen habe - nicht mehr berücksichtigt werden.

8 Weiters gehöre der Mitbeteiligte "zum Entscheidungszeitpunkt" nicht mehr dem regulären Arbeitsmarkt an und beabsichtige auch nicht, nochmals bei der K. KEG beschäftigt zu sein. Die in Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 vorgesehene Verlängerung der Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber werde daher nicht beansprucht. Ein Aufenthaltsrecht unmittelbar auf Grund des Art. 6 ARB 1/80 sei nur dann abzuleiten, wenn es sich als Folge des Rechts auf die tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung ergebe (Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 23. Juni 2015, Ro 2014/22/0038).

9 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu Abweisung der Revision beantragt, und im Wesentlichen ausführt, dass selbst dann, wenn von der Rechtsrichtigkeit der Revisionsbegründung auszugehen wäre, das angefochtene Erkenntnis nicht rechtswidrig wäre. Art. 13 ARB 1/80 enthalte ein Verschlechterungsverbot, wonach die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Eine solche Verschlechterung stelle die durch BGBl. I Nr. 72/2013 erfolgte Abschaffung der Arbeitserlaubnis dar. Nach § 14a Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) in der Fassung vor der angeführten Änderung hätte der Mitbeteiligte einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis gehabt, weil er in den letzten vierzehn Monaten insgesamt 52 Wochen - vom 22. Juni 2015 bis zum 30. Juni 2016 - im Bundesgebiet erlaubt beschäftigt und rechtmäßig niedergelassen gewesen sei. Dies bedeute nach Ansicht des Mitbeteiligten, dass er weiterhin freien Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt genieße. Dem Mitbeteiligten stehe sohin ein Aufenthaltsrecht zu, das nach der Systematik des NAG lediglich in Form eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gewährt werden könne, weil sonst kein Aufenthaltstitel bestehe, der die Ausübung einer dem AuslBG unterliegenden Erwerbstätigkeit umfasse.

10 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 11 Gemäß den unbestrittenen Feststellungen stellte der Mitbeteiligte im Juni 2015 einen Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" und berief sich dabei auf den ARB 1/80. Der Mitbeteiligte, der seit 2007 auf Grund von immer wieder verlängerten Aufenthaltsbewilligungen "Studierender" rechtmäßig in Österreich aufhältig war, beabsichtigt, in Österreich einer unselbständigen Tätigkeit - bei einem anderen Arbeitgeber als bisher - nachzugehen.

12 Das Verwaltungsgericht stützte die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels auf Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 und bejahte das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß dem ersten Spiegelstrich der angeführten Norm.

13 Gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 hat - vorbehaltlich der hier fallbezogen nicht in Betracht kommenden Bestimmungen in Art. 7 ARB - ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat

(2.) zwei weitere Jahre für diesen gearbeitet hat (Urteil Sedef, Rnr. 44).

16 Für die Phase der Entstehung der nach Maßgabe der Dauer der Ausübung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis schrittweise erweiterten Rechte, die unter den drei Spiegelstrichen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 festgelegt sind, und damit für die Zwecke der Berechnung der insoweit erforderlichen Beschäftigungszeiten, sieht Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 vor, dass sich verschiedene Fälle der Unterbrechung der Arbeit auf diese Zeiten auswirken. Anders als der erste und der zweite Spiegelstrich dieser Vorschrift verlangt der dritte Spiegelstrich nicht die grundsätzlich ununterbrochene Ausübung einer Beschäftigung. Von dem Zeitpunkt an, zu dem der türkische Arbeitnehmer die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllt und daher das in dieser Bestimmung vorgesehene uneingeschränkte Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis sowie das diesem entsprechende Aufenthaltsrecht bereits erworben hat, ist Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 nicht mehr anwendbar (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. November 2011, 2011/23/0454, unter Hinweis auf das Urteil Dogan, Rnr. 15f und 18).

17 Das bedeutet aber, dass ein türkischer Arbeitnehmer, der noch nicht das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 in Anspruch nehmen kann, im Aufnahmemitgliedstaat grundsätzlich eine ununterbrochene ordnungsgemäße Beschäftigung während der erforderlichen Zeit ausüben muss, sofern er keinen legitimen Grund der in Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 genannten Art für die Unterbrechung seiner Beschäftigungszeiten anführen kann (Urteil Sedef, Rnr. 53).

18 Auf den vorliegenden Fall angewendet bedeutet das, dass der Mitbeteiligte keine Rechte aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 darlegen konnte, weil er weder bei dem Arbeitgeber, bei dem er zuletzt ein Jahr lang durchgehend beschäftigt war, weiterarbeiten will (und somit nicht in den Anwendungsbereich des ersten Spiegelstrichs fällt), noch einen in Art. 6 Abs. 2 genannten Grund für die festgestellten Arbeitsunterbrechungen angeführt hat und auch bisher noch kein uneingeschränktes Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung gemäß dem dritten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erworben hat.

19 An diesem Ergebnis ändern auch die Ausführungen des Mitbeteiligten in der Revisionsbeantwortung im Zusammenhang mit § 14a AuslBG in der Fassung vor BGBl. I Nr. 72/2013nichts, weil sich der Mitbeteiligte in seinem Antrag ausdrücklich auf ein aus dem ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht (gemäß Art. 6) beruft und auf Grund des ARB 1/80 kein Anspruch auf Ausstellung einer konstitutiv wirkenden Arbeitserlaubnis bestanden hat (vgl. Akyürek, Das Assoziationsabkommen EWG-Türkei, S. 110, sowie das hg. Erkenntnis vom 20. März 2002, 99/09/0142, mwN). Im Übrigen stellte der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 23. Juni 2015, Ro 2014/22/0038, klar, dass ein Anspruch auf eine beschäftigungsrechtliche Bewilligung per se noch keine Berechtigung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verschafft.

20 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 21. März 2017

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