VwGH Ra 2020/21/0456

VwGHRa 2020/21/045626.2.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 1. Oktober 2020, G310 2235529‑1/2E, betreffend Behebung eines Aufenthaltsverbotes (mitbeteiligte Partei: J S S, im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH in 1170 Wien, Wattgasse 48/3), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §12a Abs6
B-VG Art133 Abs4
EURallg
FrPolG 2005 §67 Abs1
FrPolG 2005 §67 Abs2
FrPolG 2005 §69 Abs1
VwGG §34 Abs1
32004L0038 Unionsbürger-RL

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210456.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Mit Bescheid vom 25. August 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den 1960 geborenen Mitbeteiligten, einen polnischen Staatsangehörigen, gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf drei Jahre befristetes Aufenthaltsverbot. Gemäß § 70 Abs. 3 FPG erteilte es ihm keinen Durchsetzungsaufschub. Einer Beschwerde gegen das Aufenthaltsverbot erkannte es gemäß § 18 Abs. 3 BFA‑VG die aufschiebende Wirkung ab.

2 Begründend stützte das BFA seine Entscheidung darauf, dass der Mitbeteiligte schon dreimal (mit Bescheiden vom 10. September 2018, 16. September 2019 und 27. Mai 2020) ausgewiesen und sodann zweimal ‑ zuletzt am 15. Juli 2020 ‑ abgeschoben worden sei. Bereits am 18. Juli 2020 sei er wieder von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Bundesgebiet angetroffen worden. Die für einen mehr als dreimonatigen Aufenthalt erforderlichen Voraussetzungen nach § 51 NAG habe er nicht erfüllt. Zwar sei er (gerichtlich und verwaltungsstrafrechtlich) unbescholten, habe sich jedoch nicht polizeilich gemeldet, gehe seit Dezember 2010 im Bundesgebiet keiner erlaubten Arbeitstätigkeit nach und sei mittellos. Ebenso fehle eine Sozial‑ und Krankenversicherung. Die Erfordernisse des § 67 Abs. 1 Satz 1 bis 4 FPG für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots seien somit erfüllt.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 1. Oktober 2020 gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) einer dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten Folge und behob den angefochtenen Bescheid des BFA ersatzlos. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das BVwG zusätzlich zu den Feststellungen des BFA insbesondere aus, dass der Mitbeteiligte zuletzt in Polen als Maurer beschäftigt gewesen sei. Er sei verheiratet und habe vier erwachsene Kinder, von denen ein Sohn in Österreich lebe; weitere Angehörige (Brüder und Schwestern) hielten sich in Polen auf. Vom 27. März 1997 bis zum 25. Juni 2013 sei er mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet gewesen, seither verfüge er hier über keine Wohnsitzmeldung. Zuletzt sei ihm am 19. April 2002 ein bis zum 10. Oktober 2018 gültiger Aufenthaltstitel erteilt worden.

Rechtlich vertrat das BVwG die Ansicht, die ‑ wenn auch unrechtmäßige ‑ Wiedereinreise des Mitbeteiligten nach seiner Abschiebung begründe keine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, und erfülle damit auch nicht die Voraussetzungen des § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG. Diese Norm diene der Umsetzung insbesondere von Art. 27 und 28 der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG ), die für eine Beschränkung des grundsätzlichen Rechts eines Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, im Regelfall strafgerichtliche Verurteilungen forderten, die fallbezogen fehlten. Vielmehr sei der Mitbeteiligte unbescholten, es lägen weder Eintragungen im Kriminalpolizeilichen Aktenindex vor, noch sei ihm gegenüber eine Strafverfügung erlassen worden.

5 Die dagegen erhobene Amtsrevision des BFA erweist sich als unzulässig.

6 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich (unter anderem) wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG „nicht zur Behandlung eignen“, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen dieser in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).

8 Insoweit verweist das BFA in seiner Amtsrevision neuerlich auf die zeitnahe Wiedereinreise des Mitbeteiligten nach seiner Ausweisung und anschließender Abschiebung am 15. Juli 2020, auf den aus dem Fehlen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 NAG und aus der Gesamtdauer des Verbleibs in Österreich (mehr als drei Monate) folgenden unrechtmäßigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet und vor allem auf dessen Mittellosigkeit, welche die Gefahr einer Beschaffung von Unterhaltsmitteln aus illegalen Quellen begründe. Eine Gefährdung iSd § 67 Abs. 1 Satz 1 bis 4 FPG wäre somit insgesamt zu bejahen gewesen.

9 Die angesprochenen Gesichtspunkte begründen aber schon deshalb nicht die Zulässigkeit der Revision, weil die Frage des Vorliegens einer Gefährdung iSd § 67 Abs. 1 Satz 1 bis 4 FPG einer generellen Beurteilung nicht zugänglich ist, sondern immer von den jeweils gegebenen Umständen des Einzelfalles in ihrer Gesamtheit abhängt. Dass den konkret vom BVwG im Rahmen seiner Gefährdungsprognose berücksichtigten (der Sache nach in der Revision nicht bestrittenen) Umständen keine ausreichende, den strengen Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs. 1 Satz 1 bis 4 FPG erreichende Bedeutung zukommt, erscheint aber (zumal unter weiterer Berücksichtigung der früheren legalen Aufenthalte in Österreich, der rezenten Berufstätigkeit mit einem gegen die Mittellosigkeit sprechenden Erwerbseinkommen in Polen sowie der familiären Beziehung zu seinem im Bundesgebiet lebenden Sohn) jedenfalls nicht unvertretbar (vgl. dazu etwa VwGH 25.1.2018, Ra 2017/21/0237, Rn. 11). Im Übrigen wird in der Amtsrevision nicht dargetan, dass sich die dort angesprochenen, aus einer Mittellosigkeit resultierenden Gefahren, beim Mitbeteiligten in der Vergangenheit schon realisiert hätten.

10 Es entspricht zudem auch der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass die ‑ den Kern des gegenüber dem Mitbeteiligten erhobenen Vorwurfs bildende ‑ Befürchtung eines (weiteren) unrechtmäßigen Aufenthalts (als Unionsbürger) in Österreich die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes (nunmehr gemäß § 67 Abs. 1 FPG) nicht rechtfertigt (vgl. etwa VwGH 29.2.2012, 2009/21/0376, und VwGH 22.11.2012, 2011/23/0453).

Soweit die Amtsrevision im vorliegenden Zusammenhang die Ansicht vertritt, diese Judikatur könne auf Fälle von vom BFA unterstellten „qualifizierten Verstößen gegen die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen“ nicht zur Anwendung gelangen, ist dem zu entgegnen, dass von einem solchen „qualifizierten“ Verstoß (durch neuerliche Einreisen des Mitbeteiligten in das Bundesgebiet) sowohl im Hinblick auf die aus § 69 Abs. 1 FPG folgende Gegenstandslosigkeit der Ausweisung infolge Ausreise des Mitbeteiligten als auch aufgrund Fehlens fallbezogener weiterer Ansätze, die eine derartige Schlussfolgerung erlaubten, nicht die Rede sein kann.

Die Anordnung des § 12a Abs. 6 zweiter Satz AsylG 2005, wonach (u.a.) Ausweisungen achtzehn Monate ab der Ausreise des Fremden aufrecht bleiben, hat schon aus unionsrechtlichen Erwägungen zurückzutreten (vgl. VwGH 5.2.2021, Ra 2020/21/0412, Rn. 11).

11 Insgesamt erweist sich die Revision somit mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG als unzulässig. Sie war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 26. Februar 2021

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