VwGH Ra 2020/19/0449

VwGHRa 2020/19/044914.4.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 27. Oktober 2020 mündlich verkündete und am 3. Dezember 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, W203 2208975‑1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: A S in T, vertreten durch die CHG Czernich Haidlen Gast & Partner Rechtsanwälte GmbH in 6020 Innsbruck, Bozner Platz 4), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §58 Abs2
AVG §60
FlKonv Art1 AbschnA Z2
VwGG §42 Abs2 Z3
VwGVG 2014 §29 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190449.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 11. Juli 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen brachte er vor, er stamme aus einem Dorf in der Provinz Kapisa. Sein Vater und sein Bruder seien für eine Dorfmiliz tätig gewesen. Von den in der Provinz aktiven Taliban sei versucht worden, ihn als Kämpfer zu rekrutieren. Aus Angst vor den Taliban, die ihn gesucht hätten, habe er schließlich Afghanistan verlassen und mehrere Jahre im Iran gelebt. Nach einer kurzen Rückkehr in seinen Herkunftsstaat sei er schließlich nach Europa geflüchtet.

2 Mit Bescheid vom 24. September 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise fest.

3 Hinsichtlich des Fluchtvorbringens führte des BFA zusammengefasst aus, der Mitbeteiligte habe eine aktuelle Bedrohung durch die Taliban nur sehr vage dargestellt. Die Familie des Mitbeteiligten lebe weiterhin in Afghanistan. Nach den eigenen Angaben des Mitbeteiligten würden seine Familienangehörigen, obwohl sein Vater und sein Bruder weiterhin für die Dorfmiliz tätig seien, von den Taliban nicht behelligt. Ausgehend von seinen Aussagen sei der Mitbeteiligte im Zeitpunkt des Versuches der Taliban, ihn zu rekrutieren, zwölf Jahre alt gewesen. Unter Beachtung der langen Zeit seit den vom Mitbeteiligten geschilderten Vorfällen sei nicht davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte von den Taliban noch gesucht werde. Es drohe ihm daher bei Rückkehr zu seiner Familie nach Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung. Alternativ könne der Mitbeteiligte etwa auch nach Mazar‑e Sharif übersiedeln. Da er keine exponierte Persönlichkeit und somit kein „high value target“ sei, sei jedenfalls nicht zu erwarten, dass die Taliban eine Veranlassung hätten, ihn dort zu suchen. Dem Mitbeteiligten stehe daher auch eine innerstaatliche Fluchtalternative offen.

4 In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde brachte der Mitbeteiligte insbesondere vor, aufgrund der Tätigkeit seiner Familienangehörigen für die lokalen Sicherheitskräfte, die von der Regierung unterstützt würden, sei auch er als Angehöriger durch die Taliban gefährdet. In Zusammenhalt mit seiner Weigerung, sich von den Taliban rekrutieren zu lassen, drohe ihm daher asylrelevante Verfolgung.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der Beschwerde des Mitbeteiligten nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung Folge, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das BVwG für nicht zulässig.

6 Das BVwG stellte fest, der Mitbeteiligte gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und sei Sunnit. Er stamme aus der Provinz Kapisa. Sein Vater und sein Bruder seien seit mehreren Jahren für die von der afghanischen Regierung unterstützte Dorfmiliz der Arbaki tätig. Von den Taliban sei versucht worden, den Mitbeteiligten zu rekrutieren. Da sich der Mitbeteiligte dem widersetzt habe bzw. aufgrund der Tätigkeit seiner Familienangehörigen für die Dorfmiliz Arbaki sei er „in das Blickfeld der Taliban“ geraten, wobei ihm eine gegen die Taliban gerichtete politische Gesinnung unterstellt worden sei. Im Fall einer Rückkehr drohe dem Mitbeteiligten in ganz Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch die Taliban.

7 Im Zuge der Beweiswürdigung führte das BVwG aus, es ergebe sich aus Länderberichten, dass die Grenze zum Erwachsenwerden in Afghanistan fließend verlaufe. Es erscheine daher plausibel, dass der Mitbeteiligte, der zum Zeitpunkt des Verlassens Afghanistans etwa 13 Jahre alt gewesen sei, bereits damals das Interesse der Taliban geweckt habe. Umso mehr sei zu erwarten, dass dies im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan auch für den nunmehr 21 Jahre alten Mitbeteiligten gelte. Da die Dorfmilizen von der Regierung unterstützt würden, sei davon auszugehen, dass den Mitgliedern dieser Miliz und ihren Familienangehörigen von den Taliban eine gegen sie gerichtete Gesinnung unterstellt werde. Damit drohe dem Mitbeteiligten aber in ganz Afghanistan Verfolgung. Aufgrund der in Afghanistan vorherrschenden „Stammesgesellschaft mit nahen Familiennetzen“ stelle es nämlich für die Taliban kein Problem dar, jemanden zu finden, wenn sie „es wirklich“ wollten.

8 Da dem Mitbeteiligten somit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in ganz Afghanistan Verfolgung drohe, sodass ihm auch keine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe, sei ihm der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Amtsrevision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Zur Zulässigkeit der Revision wird im Wesentlichen geltend gemacht, die Begründung des BVwG werde den Anforderungen, die der Verwaltungsgerichtshof hinsichtlich der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte in seiner (in der Revision näher angeführten) Rechtsprechung dargestellt habe, nicht gerecht. Das BVwG habe sich insbesondere nicht mit den beweiswürdigenden Erwägungen im Bescheid des BFA auseinandergesetzt und nicht nachvollziehbar begründet, warum dem Mitbeteiligten im gesamten Gebiet Afghanistans Verfolgung drohe.

11 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG festgehalten, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in der Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Dies erfordert in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidung tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 23.6.2020, Ra 2020/20/0143, mwN).

13 Es entspricht weiters der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass das Verwaltungsgericht, wenn es von einer Entscheidung der Verwaltungsbehörde abweichen will, gehalten ist, auf die beweiswürdigenden Argumente der Verwaltungsbehörde einzugehen und nachvollziehbar zu begründen hat, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. VwGH 6.7.2020, Ra 2019/01/0426; 16.2.2021, Ra 2020/19/0195; jeweils mwN).

14 Der bloße und nicht näher begründete Hinweis auf das Vorliegen einer „Stammesgesellschaft mit nahen Familiennetzen“, die das Auffinden von Personen, wenn man es „wirklich wolle“, ermögliche, vermag fallbezogen nicht darzutun, dass dem Mitbeteiligten mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in ganz Afghanistan Verfolgung drohe und ihm daher schon deshalb keine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe. Das BVwG ging davon aus, dass der Mitbeteiligte den Herkunftsstaat im Alter von 13 Jahren verlassen habe, sodass bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG acht Jahre vergangen waren. Das BVwG hätte sich in diesem Zusammenhang mit den Argumenten des BFA im Bescheid vom 24. September 2018 auseinandersetzen müssen, wonach der Mitbeteiligte jedenfalls kein „high value target“ darstelle und somit nicht davon auszugehen sei, dass er von den Taliban außerhalb seiner Herkunftsregion ‑ insbesondere in Mazar‑e Sharif ‑ gesucht bzw. gefunden würde (vgl. idS VwGH 27.5.2020, Ra 2019/14/0566, mwN; vgl. dazu, dass die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung für die Annahme einer Verfolgungsgefahr iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nicht genügt, etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, mwN).

15 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben.

Wien, am 14. April 2021

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