VwGH Ra 2020/14/0482

VwGHRa 2020/14/048231.8.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel sowie die Hofrätinnen Mag. Schindler und Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des A B in C, vertreten durch Dr. Sylvia Freygner, LL.M., Rechtsanwältin in 9020 Klagenfurt, Sterneckstraße 19, diese vertreten durch Mag. Sonja Scheed in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. September 2020, W122 2120729‑3/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §21 Abs7
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020140482.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Iran, stellte am 4. Juli 2019 den gegenständlichen dritten Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

2 Mit Bescheid vom 30. Oktober 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte dem Revisionswerber keine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung in den Iran zulässig sei (Spruchpunkt V.) und legte keine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.). Unter einem erließ die Behörde gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VII.) und trug ihm auf, ab dem 27. September 2020 in einem näher bezeichneten Quartier Unterkunft zu nehmen (Spruchpunkt VIII.).

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ‑ ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ mit Erkenntnis vom 17. Februar 2020 hinsichtlich des Spruchpunktes I. als unbegründet ab. Im Übrigen gab es der Beschwerde statt und behob die Spruchpunkte II. bis VIII.

4 Die Aufhebung begründete es zusammengefasst damit, dass das BFA zwar Feststellungen zum psychischen Zustand des Revisionswerbers (depressive Episode ggw. mittelgradig sowie Anpassungsstörung F34.2), zu den Möglichkeiten medizinischer Betreuung und zur Situation von Rückkehrern getroffen habe. Allerdings habe es keine konkreten Feststellungen zur individuellen Situation des Revisionswerbers im Fall seiner „Rückkehr“ in den Iran getroffen. Dieser gehöre als sunnitischer Kurde einer ethnischen und religiösen Minderheit an, sodass der Zugang zur medizinischen Versorgung möglicherweise auf Hindernisse stoße. Überdies verfüge dieser über keine familiären Beziehungen im Iran, wo er auch noch nie gelebt habe. Auch wenn einem psychisch gesunden jungen Mann grundsätzlich die „Rückkehr“ in den Iran zugemutet werden könne, selbst wenn er dieses Land noch nie gesehen habe, stelle sich die Situation bei einem psychisch Kranken deutlich anders dar.

5 Mit Bescheid vom 10. August 2020 wies das BFA im zweiten Rechtsgang den Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt II.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.), stellte fest, dass seine Abschiebung in den Iran zulässig sei (Spruchpunkt IV.) und legte keine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt V.). Unter einem erkannte es einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt VI.) und erließ ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VII.).

6 Zur medizinischen Versorgung im Iran stellte das BFA unter Heranziehung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation fest, dass alle iranischen Staatbürger inklusive Rückkehrende Anspruch auf grundlegende Gesundheitsleistungen hätten. Es gebe zwei Arten von Krankenversicherung: Versicherung über den Arbeitsplatz oder private Versicherung. Notwendige Dokumente für die Anmeldung seien eine Kopie der iranischen Geburtsurkunde, ein Passfoto und ein vollständiges medizinisches Check-up. Für Schutzbedürftige gebe es öffentliche und private Zentren. Die öffentlichen Einrichtungen seien in der Regel überlaufen und es gebe lange Wartezeiten, weshalb Personen, die über die nötigen Mittel verfügten, sich oft an kleinere spezialisierte private Zentren wenden würden. Es gebe einige Zentren unter Aufsicht der Behzisti Organisation, welche Personen in Not Hilfe gewähren würde. Solche Leistungen seien kostenfrei. Aufgrund der hohen Nachfrage und einiger Beschränkungen würden viele zahlungspflichtige private Zentren bevorzugen. Im Zuge der aktuellen Sanktionen gegen den Iran sei es zu gelegentlichen Engpässen beim Import von speziellen Medikamenten gekommen. Im Generellen gebe es aber keine ernsten Mängel an Medizin, Fachärzten oder Equipment im öffentlichen Gesundheitssystem des Iran. Pharmazeutika würden zumeist unter Führung des Gesundheitsministeriums aus dem Ausland importiert. Zusätzlich gebe es für Bürger Privatkrankenhäuser mit Spezialleistungen in größeren Ballungsräumen. Die öffentlichen Einrichtungen würden zwar grundsätzlich fast alle Leistungen zu sehr niedrigen Preisen anbieten, aber aufgrund langer Wartezeiten und überfüllter Zentren, würden sich einige für die kostenintensivere Behandlung bei privaten Gesundheitsträgern entscheiden. Des Weiteren wies die Behörde auf eine eingeholte Anfragebeantwortung der Staatendokumention zur Frage des Zugangs von sunnitischen Kurden zur medizinischen Versorgung im Iran hin, wonach es keine Berichte über die Diskriminierung der kurdischen Minderheit im Gesundheitssystem des Iran gebe. Es seien keine spezielle Einrichtungen vorhanden, die sunnitische Kurden unterstütze. Dem Revisionswerber stünden im Iran psychiatrische Behandlungen ohne Einschränkungen offen. Dies gelte für den Zugang zur allgemeinen medizinischen Behandlung und Medikamenten. Der Revisionswerber unterziehe sich auch in Österreich selbständig und ohne Unterstützung seiner Behandlung.

7 In der dagegen erhobenen Beschwerde bestritt der Revisionswerber die Verfügbarkeit und den faktischen Zugang zu den für ihn notwendigen Medikamenten und psychotherapeutischen Behandlungen. Aufgrund des Fehlens einer Geburtsurkunde könne er sich nicht selbst versichern, was den Zugang zu einer psychotherapeutischen Behandlung mittelfristig unmöglich mache. Die Behörde habe außerdem nicht festgestellt, ob die von ihm benötigten Medikamente überhaupt verfügbar seien, was diese kosteten und ob er, der im Iran über keinerlei Unterstützung verfüge, sich die Behandlungskosten leisten könnte. Seine psychische Situation sei derzeit nur deshalb halbwegs stabil, weil er medikamentös eingestellt sei und regelmäßig psychologisch betreut werde. Allgemeiner Zugang zur medizinischen Versorgung heiße nicht automatisch, dass sich eine Person, die über keine Dokumente, Ortskenntnis oder irgendein Unterstützungsnetzwerk verfüge, diese wie erforderlich in Anspruch nehmen werden könne.

8 Das BVwG wies mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 25. September 2020 die vom Revisionswerber erhobene Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei. Die vom Revisionswerber beantragte Verhandlung führte das BVwG nicht durch. Dies begründete das Verwaltungsgericht nicht näher. Es wies jedoch darauf hin, dass der Revisionswerber auf Tatsachebene der belangten Behörde nicht widersprochen habe und in seiner Beschwerde die grundsätzlich bestehende Behandlungsmöglichkeit im Iran bejaht habe, jedoch vermeine, dass er sich diese nicht leisten könne und Opfer willkürlicher Gewalt werden könne.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das BVwG sowie nach Einleitung des Vorverfahrens ‑ es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst unter anderem vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es ‑ trotz substantiierten Bekämpfens in der Beschwerde ‑ zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe. Das BVwG hätte nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen dürfen.

11 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob im Sinn des § 21 Abs. 7 erster Satz BFA‑VG „der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

13 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA‑VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 18.12.2019, Ra 2019/14/0268, mwN).

14 Diese Voraussetzungen lagen im gegenständlichen Fall nicht vor.

15 Der Revisionswerber hat durch das zitierte Beschwerdevorbringen die fehlende Auseinandersetzung mit der individuellen Situation des Revisionswerbers und dem tatsächlichen Zugang zur erforderlichen medizinischen Behandlung und notwendigen Medikamenten auf substantiierte Weise gerügt und ergänzende Tatsachenbehauptungen aufgestellt. Im Hinblick darauf konnte jedoch der Sachverhalt (bloß) aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde keineswegs als geklärt erscheinen, weshalb das Verwaltungsgericht verhalten gewesen wäre, eine ‑ von dem Revisionswerber auch ausdrücklich beantragte ‑ mündliche Verhandlung durchzuführen, um eine umfassende mängelfreie Würdigung sämtlicher relevanter Umstände vornehmen zu können.

16 Das angefochtene Erkenntnis war somit schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

17 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 31. August 2021

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte