Normen
BFA-VG 2014 §9
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190010.L00
Spruch:
Die Revisionen werden zurückgewiesen.
Begründung
1 Die Revisionswerber sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und gehören der tschetschenischen Volksgruppe an. Sie stellten am 31. Mai 2013 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des im Jahr 2004 geborenen Zweitrevisionswerbers und des im Jahr 2011 geborenen Drittrevisionswerbers. 2 Mit Bescheiden jeweils vom 28. Dezember 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Revisionswerber zur Gänze ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest.
3 Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobenen Beschwerden der Revisionswerber nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revisionen gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig seien.
4 Begründend führte das BVwG insbesondere aus, die Erstrevisionswerberin sei mit ihren Kindern nach Österreich gereist, weil sich hier ihr früherer Lebensgefährte als Asylwerber aufgehalten habe. Ihre Behauptung, dass ihr Lebensgefährte der Vater des Zweit- und Drittrevisionswerbers sei, sei - wie das weitere Verfahren ergeben habe - wissentlich falsch gewesen. Den Vater des Zweit- und des Drittrevisionswerbers habe die Erstrevisionswerberin nicht angegeben. Das Fluchtvorbringen der Erstrevisionswerberin sei nicht glaubhaft. Vom Zweitrevisionswerber und vom Drittrevisionswerber seien keine eigenen Fluchtgründe angegeben worden.
5 Die Integration der Revisionswerber in Österreich sei nur gering ausgeprägt. Die Erstrevisionswerberin habe die deutsche Sprache nicht erlernt. Sie habe den Lebensunterhalt für sich bzw. den Zweit- und den Drittrevisionswerber durch die Grundversorgung bestritten und sei keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Ihre Zeit in Österreich habe sie im Wesentlichen im Kreis ihrer Kernfamilie verbracht und sich um den Haushalt gekümmert. Sie habe hier lediglich eine Freundschaft geknüpft, sich sonst aber nicht sozial integriert. Der ehemalige Lebensgefährte der Erstrevisionswerberin halte sich zwar weiterhin - trotz Abweisung eines Antrages auf internationalen Schutz und Erlassung einer Rückentscheidung - in Österreich auf, es bestehe jedoch kein engerer Kontakt bzw. kein Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihm und den Revisionswerbern. Weiters sei ein Onkel der Erstrevisionswerberin im Inland aufhältig, wobei jedoch nur gelegentliche gegenseitige Besuche zwischen ihm und den Revisionswerbern stattfänden. Der Drittrevisionswerber habe zuletzt die erste Klasse einer Volksschule besucht, wo er als außerordentlicher Schüler geführt worden sei. Er sei nicht zum Aufstieg in die nächste Klasse berechtigt und weise Entwicklungsrückstände im Bereich der Beherrschung der deutschen Sprache und der Aufmerksamkeit auf. Der Zweitrevisionswerber, der gut Deutsch spreche, habe die Neue Mittelschule erfolgreich abgeschlossen, sei jedoch in mehreren Fächern nur mit dem Zusatz "grundlegende Allgemeinbildung" benotet worden. Es sei von ihm nunmehr der Besuch eines polytechnischen Lehrgangs geplant. Sowohl vom Zweit- als auch vom Drittrevisionswerber werde die Freizeit im Wesentlichen alleine verbracht. Ihre soziale Integration sei auch durch häufige Umzüge innerhalb Österreichs erschwert worden. 6 Die Revisionswerber verfügten in Tschetschenien, wo sich insbesondere eine Schwester, die Pflegemutter sowie sieben Onkel und Tanten der Erstrevisionswerberin befänden, über ein enges familiäres Netz, zu dem weiterhin Kontakt bestehe. Sie seien bei einer Rückkehr nicht von Obdachlosigkeit bedroht, sondern könnten - wie bereits vor ihrer Ausreise - im Haus von Angehörigen wohnen. Die Erstrevisionswerberin sei arbeitsfähig und könne in Tschetschenien aufgrund ihrer Schulbildung und ihrer beruflichen Erfahrung für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder durch eigene Erwerbstätigkeit aufkommen. Auch könne sie auf Unterstützung durch ihren Familienverband bzw. durch das Sozialsystem der Russischen Föderation vertrauen. Dem Zweit- und dem Drittrevisionswerber sei von der Erstrevisionswerberin, die kaum Deutsch spreche, auch in Österreich die tschetschenisch/russische Kultur vermittelt worden. Von allen Revisionswerbern werde die russische und die tschetschenische Sprache gesprochen.
7 Bei einer Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK würden die privaten Interessen der Revisionswerber am Verbleib im Inland durch das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen überwogen. Durch die Rückkehrentscheidung, die alle in Österreich aufhältigen Mitglieder der Kernfamilie betreffe, werde nicht in das geschützte Familienleben der Revisionswerber eingegriffen. Bei der Entscheidung seien im Sinn der (näher dargestellten) Rechtsprechung auch das Wohlergehen der Kinder, insbesondere die Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen könnten, sowie ihre sozialen und kulturellen Bindungen zum Heimatstaat miteinzubeziehen. Vorliegend seien die Vertrautheit des Zweit- und des Drittrevisionswerbers mit der Kultur und der Sprache ihres Heimatlandes sowie die bestehenden verwandtschaftlichen Bindungen, denen nur eine schwach ausgeprägte soziale Integration in Österreich gegenüberstehe, zu berücksichtigen. Es entspreche auch der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Betroffenheit von Kindern durch eine Rückkehrentscheidung dadurch relativiert werde, dass sie sich noch in einem Alter befänden, in dem eine Anpassung an neue Gegebenheiten leichter möglich sei. Dabei werde nicht verkannt, dass der Zweitrevisionswerber im Entscheidungszeitpunkt bereits 15 Jahre alt sei. Er habe jedoch die ersten neun Jahre seines Lebens in seinem Heimatland verbracht, weshalb er mit den dortigen Verhältnissen vertraut sei und sich auch wieder eingliedern könne. Das Interesse der Erstrevisionswerberin an einem Verbleib im Inland werde auch noch zusätzlich dadurch relativiert, dass sie sich der Vorläufigkeit ihres Aufenthaltsstatus, der nur auf einem Antrag auf internationalen Schutz beruht habe, bewusst sein habe müssen. Die lange Verfahrensdauer sei insbesondere auch dem Umstand geschuldet gewesen, dass die Erstrevisionswerberin ihr unberechtigtes Fluchtvorbringen kontinuierlich gesteigert und wiederholt neue Unterlagen vorgelegt habe.
8 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
9 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. 10 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen. 11 Die Revisionen wenden sich gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidungen und bringen zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG habe die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK in unvertretbarer Weise vorgenommen. Der Aufenthaltsdauer und der Integration des Zweit- und des Drittrevisionswerbers in Österreich sei zu wenig Gewicht zugemessen worden. Das Bundesverwaltungsgericht habe es im Übrigen unterlassen, nähere Erwägungen zum Kindeswohl des Zweit- und des Drittrevisionswerbers anzustellen. Es sei auch zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Zweit- und der Drittrevisionswerber - neben der tschetschenischen -
auch die russische Sprache ausreichend beherrschten. Diese sei aber deshalb relevant, weil die tschetschenische Sprache nur in der Teilrepublik Tschetschenien Amtssprache sei und die Beherrschung der russischen Sprache erforderlich sei, um sich im übrigen Land zurechtzufinden. Auch werde in wesentlichen Massenmedien in Tschetschenien lediglich auf Russisch berichtet. Es sei auch die Frage zu klären, ob sich der Zweit- und der Drittrevisionswerber noch in einem anpassungsfähigen Alter befänden. Dazu fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. 12 Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht im Einzelfall die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 9.1.2020, Ra 2019/19/0356). Das BVwG konnte seine Feststellung, wonach vom Zweit- und Drittrevisionswerber neben der tschetschenischen auch die russische Sprache gesprochen werde, darauf stützen, dass von ihnen nach den Angaben der Erstrevisionswerberin in der mündlichen Verhandlung auch russische Fernsehsendungen konsumiert wurden, beide mit Personen verkehrten, die nur Russisch sprachen, und der Zweitrevisionswerber bis zu seinem neunten Lebensjahr eine Privatschule in der Russischen Föderation besuchte. Eine Unvertretbarkeit dieser Beweiswürdigung vermögen die Revisionen nicht aufzuzeigen. Vor diesem Hintergrund konnte eine Auseinandersetzung damit, welche Auswirkungen fehlende russische Sprachkenntnisse für die Revisionswerber in Tschetschenien hätten, unterbleiben.
13 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind bei einer Rückkehrentscheidung, von der Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, im Rahmen der Abwägung gemäß § 9 BFA-VG "die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder", insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen und ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 24.9.2019, Ra 2019/20/0274, mit weiteren Hinweisen). 14 Der Vorwurf der Revisionen, dass das BVwG diese Aspekte bei seiner Abwägung nicht hinreichend beachtet hätte, trifft nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat sich sowohl mit den Auswirkungen der Rückkehrentscheidung auf den Zweit- und den Drittrevisionswerber und ihren Bindungen zum Heimatstaat, als auch mit ihrer Integration in Österreich (vgl. zu den in diesem Zusammenhang bei Minderjährigen maßgeblichen Aspekten etwa VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251) auseinandergesetzt.
15 Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass dem Umstand, ob sich Kinder in einem anpassungsfähigen Alter befinden, Relevanz für die Interessenabwägung bzw. das dabei - wie dargestellt - zu berücksichtigende Kindeswohl zukommt (vgl. neuerlich VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251, mwN). Die Frage, ob sich der zum Zeitpunkt der Entscheidung 15-jährige Zweitrevisionswerber noch in einem anpassungsfähigen Alter befand, kann dahin stehen, weil das BVwG sich in diesem Zusammenhang zutreffend darauf gestützt hat, dass er seine grundlegende Sozialisierung bereits im Herkunftsland erfahren hat, wodurch eine Wiedereingliederung erleichtert wird (vgl. VwGH 30.7.2015, Ra 2014/22/0055, mwN).
16 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0521, mwN). Die vorliegende Interessenabwägung, deren Mangelhaftigkeit die Revisionen nicht aufzuzeigen vermochten, erweist sich als vertretbar. 17 In den Revisionen werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revisionen waren daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen.
Wien, am 5. März 2020
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