VwGH Ra 2019/22/0169

VwGHRa 2019/22/01698.7.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtes Wien jeweils vom 24. Juni 2019, 1. VGW‑151/017/1065/2019-15 und 2. VGW-151/017/1066/2019‑3, jeweils betreffend Daueraufenthaltskarte (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Parteien: 1. I N, und 2. A N, beide vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §56
AVG §73
B-VG Art130 Abs1 Z3
EURallg
NAG 2005 §54 Abs1
NAG 2005 §54a
NAG 2005 §8
NAG 2005 §9
NAG 2005 §9 Abs2 Z2
Verwaltungsgerichtsbarkeits-Nov 2012
VwGG §42 Abs2 Z2
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §8 Abs1
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019220169.L00

 

Spruch:

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben.

Begründung

1 Die Erstmitbeteiligte ist die Mutter des Zweitmitbeteiligten. Beide sind Staatsangehörige der Ukraine.

2 Die mitbeteiligten Parteien verfügten über Aufenthaltskarten als Familienangehörige eines EWR-Bürgers mit Gültigkeit bis zum 5. bzw. 6. Dezember 2017.

3 Am 8. September 2017 (Erstmitbeteiligte) und am 14. April 2016 (Zweitmitbeteiligter) stellten die mitbeteiligten Parteien Anträge auf Ausstellung von Daueraufenthaltskarten beim Landeshauptmann von Wien.

4 Am 4. Jänner 2019 erhoben die mitbeteiligten Parteien Säumnisbeschwerde an das Verwaltungsgericht Wien.

5 Mit den nunmehr angefochtenen Erkenntnissen stellte das Verwaltungsgericht jeweils in Stattgebung der Säumnisbeschwerde gemäß § 8 iVm § 28 Abs. 1 VwGVG fest, dass die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte im Sinn des § 54 Abs. 1 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) vorlägen. Weiters sprach es aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG unzulässig sei.

6 Das Verwaltungsgericht führte ‑ soweit für den vorliegenden Fall relevant ‑ begründend aus, die Ehe der Erstmitbeteiligten mit einem polnischen Staatsangehörigen, von dem sie ihr bis 5. Dezember 2017 gültiges Aufenthaltsrecht abgeleitet hatte, sei am 29. Februar 2016 einvernehmlich geschieden worden. Die Erstmitbeteiligte habe das alleinige Sorgerecht für den Zweitmitbeteiligten erhalten. Am 17. September 2018 habe der Landeshauptmann von Wien der Erstmitbeteiligten mitgeteilt, dass mangels Erfüllung der Erteilungsvoraussetzungen eine Anfrage gemäß § 55 Abs. 3 NAG beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) erfolgen werde. Mit Schreiben vom 9. April 2019 habe das BFA mitgeteilt, dass kein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme eingeleitet werde.

7 In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass die mitbeteiligten Parteien die Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 NAG beantragt hätten und der Landeshauptmann von Wien säumig gewesen sei.

8 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

9 Die Revision wendet sich nicht gegen die Beurteilung des Verwaltungsgerichtes, wonach der Landeshauptmann von Wien säumig gewesen sei. In der Zulässigkeitsbegründung führt die Revision im Wesentlichen aus, das Verwaltungsgericht habe durch die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen gemäß § 54 NAG seine Befugnis zur Entscheidung in der Sache überschritten. Der verfahrenseinleitende Antrag auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte sei unerledigt geblieben.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung eines Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet ‑ erwogen:

11 Die Revision ist im Hinblick auf das Revisionsvorbringen zulässig und begründet.

12 Die entscheidungsrelevanten Vorschriften des NAG lauten auszugsweise:

„Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts

§ 9. (1) Zur Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts für mehr als drei Monate werden auf Antrag ausgestellt:

1.eine „Anmeldebescheinigung“ (§ 53) für EWR-Bürger, die sich länger als drei Monate in Österreich aufhalten, und

2.eine „Aufenthaltskarte für Angehörige eines EWR-Bürgers“ (§ 54) für Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern sind.

(2) Zur Dokumentation des unionsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts werden auf Antrag ausgestellt:

1.eine „Bescheinigung des Daueraufenthalts“ (§ 53a) für EWR-Bürger, die das Daueraufenthaltsrecht erworben haben, und

2.eine „Daueraufenthaltskarte“ (§ 54a) für Drittstaatsangehörige, die Angehörige eines EWR-Bürgers sind und das Recht auf Daueraufenthalt erworben haben.

(3) ...

Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWR-Bürgers

§ 54. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§ 51) sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. Dieser Antrag ist innerhalb von vier Monaten ab Einreise zu stellen. § 1 Abs. 2 Z 1 gilt nicht.

[...]

Daueraufenthaltskarten

§ 54a. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, erwerben das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie sich fünf Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. § 53a Abs. 2 ist bei der Berechnung der Fünfjahresfrist zu berücksichtigen.

(2) Vor Ablauf der Fünfjahresfrist erwerben diese Angehörigen das Daueraufenthaltsrecht in den in § 53a Abs. 4 und 5 genannten Fällen.

(3) Zum Daueraufenthalt berechtigten Angehörigen gemäß Abs. 1 und 2 ist auf Antrag bei Vorliegen der Voraussetzungen der Abs. 1 und 2 eine Daueraufenthaltskarte für die Dauer von zehn Jahren auszustellen. Dieser Antrag ist vor Ablauf der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltskarte zu stellen. § 1 Abs. 2 Z 1 gilt nicht.“

13 Gemäß § 8 Abs. 1 VwGVG kann Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B‑VG (Säumnisbeschwerde) erhoben werden, wenn die Behörde die Sache (ausgenommen kürzerer oder längerer gesetzlicher Entscheidungsfristen) nicht innerhalb von sechs Monaten entschieden hat.

14 Die mitbeteiligten Parteien stellten am 8. September 2017 bzw. 14. April 2016 Anträge auf Ausstellung von Daueraufenthaltskarten gemäß § 54a NAG. Nachdem die Behörde über die Anträge nicht entschieden hat, erhoben die Mitbeteiligten am 4. Jänner 2019 Säumnisbeschwerde an das Verwaltungsgericht.

15 Eine Daueraufenthaltskarte nach § 54a NAG gehört gemäß § 9 Abs. 2 Z 2 NAG zu den Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes. In diesen Fällen ergibt sich das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung, sondern Kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts (vgl. VwGH 26.4.2016, Ra 2015/09/0137, zu § 54 NAG). Die Bescheinigung hat bloß deklaratorische Wirkung; ein das Aufenthaltsrecht konstitutiv begründender Aufenthaltstitel liegt mit der Daueraufenthaltskarte damit nicht vor.

16 Mit Erkenntnis vom 10. September 2003, 2002/18/0152, hat der Verwaltungsgerichtshof zur Rechtslage vor Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgesprochen, dass der Devolutionsantrag gemäß § 73 AVG einen Rechtsschutz gegen die Säumnis einer Behörde bei Bescheiderlassung bietet, jedoch nicht dazu geeignet ist, die Ausstellung einer Urkunde zu begehren. Wird die Behörde aber mit der Ausstellung einer nicht als Bescheid zu qualifizierenden Urkunde säumig, hat die im Devolutionsweg angerufene Behörde ‑ falls sie den Anspruch als gegeben erachtet ‑ mit Bescheid festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Urkundenausstellung gegeben sind. Diese Rechtsprechung lässt sich auf die Rechtslage nach Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz mit 1. Jänner 2014 in Bezug auf Säumnisbeschwerden an das Verwaltungsgericht übertragen.

17 Das Verwaltungsgericht war daher berechtigt, im Säumnisbeschwerdeverfahren aufgrund des Antrages auf Ausstellung von Daueraufenthaltskarten festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte gemäß § 54a NAG gegeben sind.

18 Das Verwaltungsgericht hat jedoch festgestellt, dass jeweils die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte im Sinn des § 54 Abs. 1 NAG vorlägen.

19 Sache vor dem Verwaltungsgericht war jedoch die Säumnisbeschwerde betreffend die Anträge der Mitbeteiligten auf Ausstellung von Daueraufenthaltskarten gemäß § 54a NAG. Das Verwaltungsgericht hat keine Feststellung betreffend das (Nicht)Vorliegen der Voraussetzungen für die Ausstellung von Daueraufenthaltskarten gemäß § 54a NAG getroffen. Eine Antragsänderung wurde vom Verwaltungsgericht nicht festgestellt und lässt sich auch dem Akteninhalt nicht entnehmen. Indem das Verwaltungsgericht in Stattgebung der Säumnisbeschwerden festgestellt hat, dass jeweils die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte im Sinn des § 54 Abs. 1 NAG vorlägen, hat es seine Entscheidungsbefugnis überschritten.

20 Das Verwaltungsgericht hat somit seine Entscheidung mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit belastet. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG aufzuheben.

Wien, am 8. Juli 2020

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