VwGH Ra 2019/18/0489

VwGHRa 2019/18/04896.8.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin und die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A A, in Wien, vertreten durch die Verfahrenshelferin Mag. Nina Sabina Stiglitz in 1010 Wien, Fleischmarkt 1, diese vertreten durch Dr. Gregor Holzknecht, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Reisnerstraße 29/7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Juni 2019, W256 2147208‑1/17E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §21 Abs7
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
12007P/TXT Grundrechte Charta Art47

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180489.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Baghlan, stellte am 29. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte vor, Afghanistan wegen des Krieges und der schlechten Sicherheitslage verlassen zu haben. Bei Rückkehr fürchte er, von den Taliban mitgenommen zu werden.

2 Mit Bescheid vom 19. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe keine asylrelevante Verfolgung geltend gemacht; die allgemeine schlechte Sicherheitslage rechtfertige jedenfalls kein Asyl. Auch subsidiärer Schutz komme ungeachtet der instabilen Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz nicht in Betracht, weil dem Revisionswerber eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in der afghanischen Hauptstadt Kabul zur Verfügung stehe. Die Rückkehrentscheidung sei mangels eines schutzwürdigen Privat‑ und Familienlebens des Revisionswerbers in Österreich zu erlassen.

4 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) und ergänzte sein Beschwerdevorbringen in einer anwaltlichen Stellungnahme vom 21. Mai 2019. Er präzisierte sein Vorbringen, im Falle der Rückkehr in die Heimatprovinz von Zwangsrekrutierung durch die Taliban bedroht zu sein. Außerdem wandte er sich gegen die Annahme des BFA, ihm stehe in Afghanistan eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Diesbezüglich verwies er im Einzelnen auf Lageberichte und Stellungnahmen des UNHCR, die einerseits eine innerstaatliche Fluchtalternative in der afghanischen Hauptstadt in Zweifel zögen, andererseits aber auch der Zuflucht in anderen afghanischen Städten wie Herat oder Mazar‑e Sharif entgegenstünden. Aufgrund seines ‑ mittlerweile angenommenen ‑ westlichen Erscheinungsbildes und seines Lebensstils würde der Revisionswerber in Afghanistan als „westlich orientierter“ Rückkehrer wahrgenommen und wäre dadurch bedroht. Ihm fehle auch ein soziales Netzwerk. Alle diese Umstände stünden einer erfolgreichen (Wieder)Ansiedlung in Afghanistan entgegen; eine innerstaatliche Fluchtalternative sei nicht zumutbar. Im Übrigen habe sich der Revisionswerber während seines Aufenthalts in Österreich ein ‑ näher dargestelltes ‑ schützenswertes Privatleben aufgebaut, während sämtliche Bindungen des Revisionswerbers zu Afghanistan abgerissen seien. Deshalb hätte er zumindest Anspruch auf einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005. Ausdrücklich wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

6 Begründend führte das BVwG zusammengefasst aus, der Revisionswerber stamme zwar aus einer der am schwersten umkämpften Provinzen Afghanistans mit einer hohen Anzahl an getöteten Zivilisten, weshalb ihm bei Rückkehr dorthin eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte drohe. Er könne aber eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Mazar‑e Sharif in Anspruch nehmen. Dem stehe auch die behauptete „Verwestlichung“ des Revisionswerbers nicht entgegen. Im Übrigen traf das BVwG ‑ gestützt insbesondere auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29. Juni 2018, zuletzt aktualisiert am 26. März 2019 ‑ umfangreiche Feststellungen zur aktuellen Lage in Afghanistan. Auch stellte es Integrationsschritte des Revisionswerbers im Laufe des Beschwerdeverfahrens fest, kam jedoch zu dem Ergebnis, dass diese nicht ausreichten, um seinen Verbleib in Österreich zu rechtfertigen.

7 Dagegen wendet sich die außerordentliche Revision, die in der Zulässigkeitsbegründung und in der Sache unter anderem geltend macht, das BVwG habe seine Verhandlungspflicht verletzt.

8 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die Revision ist zulässig und begründet.

10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet worden sein, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA‑VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2015, Ra 2014/20/0017, 0018).

11 Diese Voraussetzungen für das Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG lagen gegenständlich nicht vor:

12 Der Revisionswerber erstattete im Beschwerdeverfahren neues Vorbringen zur ihm drohenden Zwangsrekrutierung und zur Gefährdung aufgrund seiner angenommenen westlichen Lebensweise. Das BVwG hat sich mit diesem neuen Vorbringen des Revisionswerbers ‑ ohne sich auf das Neuerungsverbot zu berufen ‑ beweiswürdigend auseinandergesetzt. Schon vor diesem Hintergrund lag kein Fall im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA‑VG vor, der ein Absehen von der beantragten Verhandlung ermöglichte (vgl. etwa VwGH 24.2.2015, Ra 2014/18/0063, mwN).

13 Überdies trat der Revisionswerber in seiner Beschwerde der Annahme des BFA, ihm stehe eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in der afghanischen Hauptstadt Kabul zur Verfügung, substantiiert entgegen. Das BVwG hielt diese behördliche Argumentation auch nicht mehr aufrecht, sondern verwies den Revisionswerber (erstmals) auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Mazar‑e Sharif, ohne dem Revisionswerber Gelegenheit zu geben, zu diesem neu angenommenen Sachverhalt im Rahmen der mündlichen Verhandlung Stellung nehmen zu können.

14 Weiters traf das BVwG neue (aktualisierte) Länderfeststellungen auf der Grundlage von Beweismitteln, die erst im Beschwerdeverfahren in das Verfahren eingeführt wurden. Auch dieser Umstand hätte einer Verhandlung bedurft (vgl. etwa VwGH 6.9.2018, Ra 2018/18/0010, Rn. 14, mwN).

15 Schließlich traf das BVwG neue Feststellungen in Bezug auf das Privat‑ und Familienleben des Revisionswerbers in Österreich, weshalb der Sachverhalt auch insofern nicht als geklärt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG angesehen werden konnte.

16 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und ‑ wie hier ‑ des Art. 47 GRC zur Aufhebung der gerichtlichen Entscheidung, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 27.4.2020, Ro 2019/20/0003, Rn. 21, mwN).

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

18 Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

19 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 6. August 2020

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