Normen
MSG NÖ 2010 §8 Abs2
MSG NÖ 2010 §8 Abs3
MSG NÖ 2010 §8 Abs5
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019100142.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Das Land Niederösterreich hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Antrag vom 24. August 2017, eingelangt bei der belangten Behörde am 25. August 2017, begehrte die Revisionswerberin Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nach dem Niederösterreichischen Mindestsicherungsgesetz (NÖ MSG). 2 Mit Bescheid vom 22. Mai 2018 wies die belangte Behörde den Antrag der Revisionswerberin auf Leistung zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes gemäß § 5 Abs. 1 und 2 sowie § 8 Abs. 5 NÖ MSG ab.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 22. Juli 2019 wies das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (LVwG) die dagegen erhobene Beschwerde - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Begründend stellte das LVwG im Wesentlichen fest, die Revisionswerberin habe im verfahrensrelevanten Zeitraum gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer volljährigen Schwester im Eigenheim der Eltern gewohnt. Die Eltern hätten monatliche Wohnkosten in der Höhe von EUR 137,67 zu tragen. Für die Erhaltung der über einen Bach zum Wohnhaus führenden Brücke seien bei ihren Eltern Kosten in der Höhe von EUR 583,20 angefallen. Die Revisionswerberin leide an einer Autoimmunerkrankung und sei aufgrund ihrer Erkrankung (vorläufig) arbeitsunfähig. Sie erhalte von ihren Eltern Naturalunterhalt in Form von Wohnen, Pflege und Betreuung. Im verfahrensrelevanten Zeitraum habe die Revisionswerberin ein - näher angeführtes - schwankendes Einkommen aus ihrer stundenweisen Beschäftigung sowie erhöhte Familienbeihilfe und Pflegegeld der Stufe 2 in der Höhe von EUR 230,-- erhalten. Die Revisionswerberin verfüge über kein Vermögen. Ergänzend traf das LVwG Feststellungen zu den Einkünften der Eltern sowie der Schwester der Revisionswerberin.
5 Rechtlich führte das LVwG aus, der Revisionswerberin stünden dem Grunde nach Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zu. Da die Revisionswerberin keinen regelmäßig wiederkehrenden Aufwand für Miete, allgemeine Betriebskosten und wohnbezogene Abgaben zu leisten habe, stünde ihr kein Mindeststandard zur Deckung des notwendigen Wohnbedarfes zu. Die Revisionswerberin, ihre Eltern und ihre Schwester bildeten eine Bedarfsgemeinschaft. Für die Berechnung der zustehenden Leistungen sei der Mindeststandard gemäß § 11 Abs. 1 Z 2 NÖ MSG iVm § 1 Abs. 1 Z 2 lit. a Niederösterreichische Mindeststandardverordnung (NÖ MSV) maßgebend, weil die Revisionswerberin als Einzige der im gemeinsamen Haushalt lebenden Personen Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung beanspruche. Der Bezug der erhöhten Familienbeihilfe und der Bezug von Pflegegeld seien nicht als Eigenmittel zu berücksichtigen. Die von der Revisionswerberin im Zeitraum August 2017 bis Juli 2018 erzielten Einkünfte seien als Einkommen in Abzug zu bringen.
6 Die Revisionswerberin sei nicht selbsterhaltungsfähig und es bestehe ein Unterhaltsanspruch gegenüber ihren Eltern. Durch das Wohnen im elterlichen Haushalt sowie durch die Betreuung und Pflege würden ihre Eltern jedenfalls den Großteil ihrer Unterhaltspflicht erfüllen. Aufgrund der hohen Verschuldung der Eltern, der massiven Sanierungsbedürftigkeit des Wohnhauses und sonstiger Kosten könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Revisionswerberin weitergehende (Geld‑)Unterhaltsleistungen von ihren Eltern erhalte, zumal ihre Schwester, die ebenfalls behindert sei, in manchen Monaten nur Einkommen unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz beziehe und in dieser Zeit unterstützungsbedürftig sei. Aufgrund der angespannten finanziellen Situation erscheine die Verfolgung eines allenfalls bestehenden Unterhaltsanspruchs wenig aussichtsreich und unzumutbar. Die Revisionswerberin habe daher gegenüber ihren Eltern keine Geldunterhaltsansprüche im Sinne des § 8 Abs. 5 NÖ MSG zu verfolgen. Der von den Eltern geleistete Naturalunterhalt in Form von Pflege und Betreuung sei bei der Bemessung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung unberücksichtigt zu lassen, da dies nicht vom Mindeststandard zur Deckung des Lebensunterhaltes gedeckt sei. Obwohl die Eltern der Revisionswerberin für das Wohnen, die Betreuung und die Pflege aufkämen, ändere dies nichts daran, dass sie als "unterhaltsverpflichtete Personen" im Sinne des § 8 Abs. 2 NÖ MSG anzusehen seien. Das Einkommen der Unterhaltspflichtigen werde bei der Bemessung des Mindeststandards der antragstellenden, unterhaltsberechtigten Person berücksichtigt, soweit es den für den Unterhaltspflichtigen maßgebenden Mindeststandard übersteige. Durch die Anrechnung der Einkommensüberschüsse der Eltern gemäß § 8 Abs. 2 NÖ MSG werde der der Revisionswerberin zustehende Mindeststandard zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes vollständig gedeckt, weshalb ihr keine Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zustünden.
7 § 8 Abs. 3 NÖ MSG finde im Zusammenhang mit der Anrechnung der Einkommensüberschüsse der Eltern keine Anwendung. Aus der näheren Beschreibung der in § 8 Abs. 3 NÖ MSG genannten Leistungen ergebe sich, dass sich diese Bestimmung lediglich auf Ansprüche gegenüber den in Abs. 2 leg. cit. genannten Personen beziehe. Als Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Bestimmung werde ausdrücklich die fehlende Möglichkeit der Rechtsverfolgung nach Abs. 5 leg. cit. genannt und es komme eine rechtliche Verfolgung wiederum nur bei Vorliegen eines "Anspruches gegen Dritte" in Betracht.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Der Verwaltungsgerichtshof führte das Vorverfahren durch. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revisionswerberin bringt vor, das angefochtene Erkenntnis weiche von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 8 Abs. 3 NÖ MSG ab, wonach § 8 Abs. 3 NÖ MSG im Zusammenhang mit der Anrechnung der Einkommensüberschüsse der Eltern Anwendung finde. Schon diesbezüglich erweist sich die Revision als zulässig und berechtigt.
10 § 8 NÖ MSG, LGBl. 9205-0 idF LGBl. Nr. 71/2015, lautet
auszugsweise:
"§ 8
Berücksichtigung von Leistungen Dritter
(1) Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung sind nur soweit zu erbringen, als der jeweilige Bedarf nicht durch Geld- oder Sachleistungen Dritter gedeckt ist.
(2) Das Einkommen eines mit der Hilfe suchenden Person im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehegatten bzw. einer Ehegattin, eines eingetragenen Partners bzw. einer eingetragenen Partnerin oder einer sonst unterhaltsverpflichteten Person sowie eines Lebensgefährten bzw. einer Lebensgefährtin ist bei der Bemessung der Mindestsicherung insoweit zu berücksichtigen, als es den für diese Personen nach § 11 Abs. 1 maßgebenden Mindeststandard übersteigt.
(...)
(3) Kann die Hilfe suchende Person glaubhaft machen, von den in Abs. 2 genannten Personen keine Leistungen oder nur in einem geringeren Ausmaß zu erhalten und kommt auch eine Rechtsverfolgung nach Abs. 5 nicht in Betracht, ist ihr der entsprechende Mindeststandard für eine volljährige Person in Haushaltsgemeinschaft (§ 11 Abs. 1) bzw. der entsprechende Differenzbetrag auf diesen Mindeststandard zu gewähren.
(...)
(5) Eine Hilfe suchende Person hat Ansprüche gegen Dritte, bei deren Erfüllung Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nicht oder nicht in diesem Ausmaß zu leisten wären, zu verfolgen, soweit dies nicht offenbar aussichtslos oder unzumutbar ist. Solange sie alle gebotenen Handlungen zur Durchsetzung solcher Ansprüche unternimmt, dürfen ihr die zur unmittelbaren Bedarfsdeckung erforderlichen Leistungen nicht verwehrt, gekürzt oder entzogen werden."
11 In § 8 Abs. 2 NÖ MSG ist vorgesehen, dass das Einkommen von näher umschriebenen Personen bei der Bemessung der Mindestsicherung der Hilfe suchenden Person insoweit zu berücksichtigen ist, als es den für diese Person maßgebenden Mindeststandard übersteigt. Die Personen nach Abs. 2 leg. cit. umfassen den im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehegatten bzw. die Ehegattin, einen eingetragen Partner bzw. eine eingetragene Partnerin oder eine sonst unterhaltsverpflichtete Person sowie einen Lebensgefährten bzw. eine Lebensgefährtin. Für den Fall, dass eine Hilfe suchende Person keine Leistungen von unterhaltspflichtigen Angehörigen oder mit ihr in Lebensgemeinschaft lebenden Personen erhält und auch keine Rechtsverfolgung in Betracht kommt, sind in § 8 Abs. 3 NÖ MSG Vorkehrungen getroffen worden (vgl. ErläutIA Ltg.-515/A-1/32-2010, 23). Gemäß § 8 Abs. 3 NÖ MSG steht einer Hilfe suchenden Person der entsprechende Mindeststandard für eine volljährige Person in Haushaltsgemeinschaft bzw. der entsprechende Differenzbetrag auf diesen Mindeststandard zu, wenn sie glaubhaft macht, von den in Abs. 2 leg. cit. genannten Personen keine Leistungen oder solche nur in einem geringeren Ausmaß zu erhalten und eine Rechtsverfolgung nach Abs. 5 leg. cit. nicht in Betracht kommt. 12 Im konkreten Fall bejahte das LVwG die grundsätzliche Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber der Revisionswerberin. Bei den Eltern der Revisionswerberin handelt es sich daher um "sonst unterhaltsverpflichtete Personen" iSd § 8 Abs. 2 NÖ MSG. Damit ist aber - entgegen der Rechtsansicht des LVwG - § 8 Abs. 3 leg. cit. grundsätzlich anwendbar, weil dieser auf die in Abs. 2 genannten Personen abstellt, wozu die Eltern der Revisionswerberin zählen (vgl. zur grundsätzlichen Möglichkeit der Berücksichtigung von Wohnkosten von Elternteilen nach § 8 Abs. 3 NÖ MSG VwGH 30.1.2019, Ra 2018/10/0098; 4.7.2018, Ra/2017/10/0215 und 0216). 13 Der Umstand, dass § 8 Abs. 3 NÖ MSG zum einen auf die in Abs. 2 leg. cit. genannten Angehörigen verweist, zum anderen auf Abs. 5 leg. cit., in dem von "Ansprüchen gegen Dritte" die Rede ist, führt entgegen der Ansicht des LVwG nicht zur Unanwendbarkeit des § 8 Abs. 3 NÖ MSG im Rahmen der Beurteilung der Einkommensüberschüsse im gemeinsamen Haushalt lebender Angehöriger (Abs. 2 leg. cit.). Auch die im gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen stellen nämlich - im Vergleich zu der Hilfe suchenden Person selbst - "Dritte" iSd § 8 Abs. 5 NÖ MSG dar. 14 Das LVwG hätte daher nicht von der Unanwendbarkeit des § 8 Abs. 3 NÖ MSG ausgehen und das Vorliegen dessen Voraussetzungen ungeprüft lassen dürfen. Indem das LVwG dies verkannte, belastete es das vorliegende Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, weswegen es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen näher einzugehen war.
15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 25. März 2020
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