VwGH Ra 2019/21/0117

VwGHRa 2019/21/011724.10.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Sulzbacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des A S J, in W, vertreten durch Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. Oktober 2018, W220 2015916- 1/7E, betreffend insbesondere Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Normen

BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs1 Z1
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210117.L00

 

Spruch:

1. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 richtet, zurückgewiesen.

2. zu Recht erkannt:

Im Übrigen, Umfang der Anfechtung, betreffend Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen, wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber ist indischer Staatsangehöriger. Er reiste im Februar 2001 in das Bundesgebiet ein und stellte hier einen Asylantrag. Dieser wurde mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 9. Jänner 2002 abgewiesen, außerdem wurde (insbesondere) die Abschiebung des Revisionswerbers nach Indien für zulässig erklärt.

2 In der Folge wurde der Revisionswerber nach dem Fremdengesetz 1997 ausgewiesen, und zwar letztlich mit Berufungsbescheid der Sicherheitsdirektion Wien vom 25. November 2002. Der Revisionswerber verblieb jedoch in Österreich und stellte einen zweiten Asylantrag, den das Bundesasylamt mit Bescheid vom 12. Juni 2003 gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückwies. Die dagegen erhobene Berufung (dann Beschwerde) wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 1. September 2008 als unbegründet ab, die Behandlung einer gegen dieses Erkenntnis eingebrachten Beschwerde lehnte der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 7. November 2008 ab. 3 Mittlerweile - am 6. April 2004 - hatte der Revisionswerber eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet und im Anschluss daran die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung beantragt. Dieser Antrag wurde im Hinblick auf die dem Revisionswerber damals weiterhin zukommende vorläufige asylrechtliche Aufenthaltsberechtigung abgewiesen. Außerdem wurde gegen den Revisionswerber mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 15. Mai 2009 ein zehnjähriges Aufenthaltsverbot verhängt, weil es sich bei der - dann im Dezember 2009 geschiedenen - Ehe des Revisionswerbers um eine "Aufenthaltsehe" handle. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des VwGH 13.9.2012, 2011/23/0427, abgewiesen.

4 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vertrat in der Folge die Auffassung, dass das genannte Aufenthaltsverbot "auf Grund der geänderten Gesetzeslage" mit 15. Juni 2014 abgelaufen sei. Mit Bescheid vom 18. November 2014 sprach es dann allerdings aus, dass dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 5557 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Unter einem erließ es gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 1 Z 1 FPG, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

5 Der Revisionswerber erhob Beschwerde. Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) entschied hierüber mit Erkenntnis vom 23. Oktober 2018; es behob den angefochtenen Bescheid insoweit, als damit über die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 abgesprochen wurde, und wies die Beschwerde im Übrigen als unbegründet ab. Außerdem sprach es gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

 

6 Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 25. Februar 2019, E 4848/2018-8, wurde die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis erhobenen Beschwerde abgelehnt und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichthof zur Entscheidung abgetreten. Über die in der Folge ausgeführte außerordentliche Revision, die sich erkennbar nur gegen die Beschwerdeabweisung richtet, hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

7 Hat das Verwaltungsgericht - so wie hier das BVwG - in seinem Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG)

.

8 In Bezug auf die Entscheidung nach § 57 AsylG 2005 fehlt es gänzlich an einem entsprechenden Vorbringen in der vorliegenden Revision. Insoweit war sie daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.

9 Im Übrigen, die Rückkehrentscheidung sowie die damit im Zusammenhang stehenden Aussprüche betreffend, erweist sich die Revision aber als zulässig und berechtigt, weil die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG - wie von der Revision zutreffend aufgezeigt wird - von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht.

10 Bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG und damit bei der Beurteilung der Frage, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt und somit zu unterbleiben hat, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Dabei geht der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (und umgekehrt die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005) ausnahmsweise nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen.

11 Allerdings ist auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. zum Ganzen grundlegend VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 11 bis 16, und darauf verweisend zuletzt VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0100, Rn. 9 f).

12 Das BVwG stellte fest, dass der Revisionswerber seit Februar 2001 "überwiegend" im österreichischen Bundesgebiet lebe, allerdings in den Jahren 2010, 2011 und 2012 für mehrwöchige Zeiträume nach Indien zurückgekehrt sei. Auf Grund der von ihm im April 2004 eingegangenen "Aufenthaltsehe" sei er seit Mai 2004 durchgehend in Österreich erwerbstätig, und zwar seit Dezember 2004 in einem Restaurant als Koch, wobei er durchschnittlich EUR 1.285,-- netto verdiene und (daher) selbsterhaltungsfähig sei. Er besitze - letztlich seit September 2003 - einen indischen Reisepass und habe noch regelmäßigen Kontakt zu seinen Eltern. Im Bundesgebiet wohne er allein in einer Mietwohnung, besuche in seiner Freizeit regelmäßig mit Freunden den "Sikh-Tempel" und pflege überwiegend mit indischen Landsleuten - aber auch mit Österreichern - freundschaftliche Kontakte. Er habe Deutschkenntnisse auf dem Niveau B 1 und könne sich in deutscher Sprache über Alltägliches auf einfachem Niveau verständigen.

13 Aus alldem folgerte das BVwG, auf die oben dargestellte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bezugnehmend, dass dem langen Inlandsaufenthalt des Revisionswerbers (17 Jahre und acht Monate) zwar ein bedeutendes Gewicht zukomme und dass zudem gewisse integrationsbegründende Aspekte in wirtschaftlicher, sozialer und sprachlicher Hinsicht gegeben seien. Dem stehe jedoch entgegen, dass der Revisionswerber einen unberechtigten Asylfolgeantrag gestellt habe und dass er eine "Aufenthaltsehe" eingegangen sei, um durch die Täuschungshandlung einen Aufenthaltstitel zu erlangen und einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu bekommen. Deshalb habe die Interessenabwägung zu seinen Lasten auszugehen.

14 Diesen Überlegungen ist insoweit zuzustimmen, als die wiederholte Asylantragstellung, das Schließen einer "Aufenthaltsehe" sowie die Nichtbeachtung des daran anknüpfenden Aufenthaltsverbotes nach der angesprochenen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Umstände darstellen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Der inländische Aufenthalt des Revisionswerbers dauert allerdings nach den Feststellungen des BVwG bereits 17 Jahre und acht Monate an, sodass - was zunächst klarzustellen ist - seinen weiter festgestellten Heimreisen nach Indien nur der Charakter von "Urlaubsreisen" zukommen kann. Von daher ist der vorliegende Fall aber nicht schlichtweg durch einen mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt gekennzeichnet, sondern es liegt eine Konstellation vor, in der die "Zehnjahresgrenze" deutlich überschritten wurde. Vor diesem Hintergrund verlieren die zuvor aufgezeigten, das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung des Revisionswerbers grundsätzlich verstärkenden Umstände an Bedeutung, zumal das ihnen zu Grunde liegende fremdenrechtliche Fehlverhalten bereits viele Jahre zurückliegt. Das gilt insbesondere für die wiederholte Asylantragstellung, die bereits im Mai 2003 erfolgte und wozu dann noch unter dem Aspekt des § 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG anzumerken ist, dass das im Zuge der Erledigung dieses Antrags abgeführte Berufungs-/Beschwerdeverfahren aus nicht ersichtlichem Grund über fünf Jahre dauerte.

15 Aber auch der Abschluss der "Aufenthaltsehe" und die Vornahme der darauf gestützten Täuschungshandlungen ist nicht rezent, das darauf geründete Aufenthaltsverbot ist - jedenfalls nach Ansicht des BFA - bereits im Juni 2014 abgelaufen. 16 Jedenfalls deshalb kommt der festgestellten, knapp 18- jährigen Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich, verbunden mit den vom BVwG aufgezeigten Integrationsschritten, ein solches Gewicht zu, dass sich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung - das insoweit abgeführte Beschwerdeverfahren dauerte, worauf abermals unter dem Aspekt des § 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG hingewiesen wird, ohne ersichtlichen Grund nahezu vier Jahre - nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes ungeachtet des angesprochenen fremdenrechtlichen Fehlverhaltens des Revisionswerbers als unverhältnismäßig erwiese (siehe zu Konstellationen mit ähnlich langem Inlandsaufenthalt und Phasen behördlicher Untätigkeit etwa VwGH 20.12.2018, Ra 2018/21/0174, insbesondere Rn. 13, oder VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0177, insbesondere Rn. 10).

17 Von daher kann das angefochtene Erkenntnis im aus dem Spruch zu Punkt 2. ersichtlichen Umfang keinen Bestand haben und war daher insoweit - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

18 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 50 VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 24. Oktober 2019

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