VwGH Ra 2019/01/0188

VwGHRa 2019/01/018825.10.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. April 2019, Zl. W193 2164013- 1/9E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: P G, in B), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019010188.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seiner Spruchpunkte A. III. und A. IV. (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels), wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, hält sich seit März 2017 in Österreich auf und stellte am 6. März 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 23. Juni 2017 wurde dieser Antrag vollinhaltlich abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.), sowie eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt IV.).

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkte A I. und II.), der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. und IV. des erstbehördlichen Bescheides stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei (Spruchpunkt A III.), und dem Revisionswerber gemäß §§ 58 Abs. 2 iVm 55 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt (Spruchpunkt A IV.). Im Übrigen wurde die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt B). 5 Begründend führte das BVwG zur Person des Mitbeteiligten u. a. aus, er sei unverheiratet und habe keine Kinder in Afghanistan. Hinweise für das Bestehen eines Familienlebens in Österreich seien nicht hervorgekommen. Lediglich seine Cousine lebe hier. Zu ihr pflege er jedoch erst seit kurzer Zeit Kontakt. Der Mitbeteiligte verfüge in Österreich über soziale Kontakte und sei bisher aktiv um Integration in die Österreichische Gesellschaft bemüht gewesen. Er habe die Deutschprüfung A1 erfolgreich absolviert, stehe unmittelbar vor der Prüfung A2 und lerne weiterhin Deutsch (derzeit auf Niveau B2). Der Mitbeteiligte nehme an Basisbildungskursen zur Nachholung der Pflichtschulreife teil und habe an einem Werte- und Orientierungskurs im Juli 2017 teilgenommen. Er verrichte jeden Donnerstag für die Gemeinde B gemeinnützige Tätigkeiten und sei strafrechtlich unbescholten. 6 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG hinsichtlich der Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung aus, der "weite" Familienbegriff des Art. 8 EMRK werde nicht erfüllt. Der unbescholtene Mitbeteiligte lebe seit rund zwei Jahren in Österreich, habe sich um eine umfassende Integration bemüht und ein schützenswertes Privatleben entwickelt. Er spreche Deutsch auf dem Niveau A2 und verbessere seine Deutschkenntnisse stetig. Der Mitbeteiligte sei gemeinnützig tätig, bemühe sich um einen Schulabschluss und habe glaubhaft dargelegt, weitere Integrationsschritte setzen zu wollen. Er sei ein am Leben in Österreich und seinen Werten interessierter, freundlicher, am Kontakt mit Österreichern interessierter, hilfsbereiter Mann mit Lerneifer, weshalb auch davon auszugehen sei, dass der Mitbeteiligte seinen Lebensunterhalt künftig ohne staatliche Unterstützung bestreiten könne. Der Mitbeteiligte habe einen hohen Grad der Integration in sprachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht erreicht und es sei durch ihn nicht von einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auszugehen. Die privaten Interessen des Mitbeteiligten würden somit die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens überwiegen.

7 Gegen die Feststellung der Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sowie die Erteilung eines Aufenthaltstitels (Spruchpunkte A III. und A IV. des angefochtenen Erkenntnisses) richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurück- bzw. Abweisung der Revision.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Amtsrevision macht zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst geltend, das Verwaltungsgericht habe die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufgestellten Grundsätze für die nach § 9 BFA-VG vorzunehmende Interessenabwägung missachtet, weil es das Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG nicht entsprechend berücksichtigt habe. Das führe im vorliegenden Fall dazu, dass die Interessenabwägung als unvertretbar einzustufen sei. Die vom BVwG herangezogenen Merkmale der Integration begründeten im vorliegenden Fall keine derart außergewöhnliche Situation, sodass sich eine Aufenthaltsbeendigung als unzulässig darstellen würde.

Zudem weiche das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, weil es über die Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung bzw. deren Gegenstück, die Feststellung der Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 9 BFA-VG und den damit einhergehenden Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 abspreche, obwohl es der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 (Stattgebung der Beschwerde gegen den gesamten Spruchpunkt III. des Bescheides) stattgebe. Außerdem widerspreche die Begründung des Erkenntnisses, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 nicht vorlägen, dem Spruch des Erkenntnisses. Über die Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte sei erst zu entscheiden, wenn ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde. 9 Die Revision ist aus den dargelegten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.

10 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. für viele VwGH 19.6.2019, Ra 2019/01/0051, Rn. 12, mwN).

11 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).

12 Dies ist aus folgenden Erwägungen vorliegend der Fall:

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 28. Februar 2019, Ro 2019/01/0003, bereits ausführlich dargelegt, dass es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Auf die nähere Begründung dieser Entscheidung wird gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen. Der in dieser Rechtsprechung angeführte Aspekt, es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht akzeptiert werden, dass der Fremde mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen, trifft auch auf den vorliegenden Revisionsfall zu.

14 Auch zeigt die Amtsrevision im Zusammenhang mit dem erst rund zweijährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass gegenständlich jedenfalls nicht von einer solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. etwa zu einem erst dreibzw. dreieinhalbjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet VwGH jeweils vom 10.4.2019, Ra 2019/18/0049 und Ra 2019/18/0058, sowie vom 19.6.2019, Ra 2019/01/0051).

15 Indem das BVwG im vorliegenden Fall das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber den festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet hat und gänzlich außer Acht ließ, dass der Mitbeteiligte sämtliche Integrationsschritte in Bewusstsein seines unsicheren Aufenthaltsstatus setzte, hat das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und damit seinen Anwendungsspielraum überschritten. 16 Das Erkenntnis war somit schon deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 25. Oktober 2019

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