VwGH Ra 2018/22/0289

VwGHRa 2018/22/028925.4.2019



Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 18. September 2018, VGW- 151/068/12080/2017-15, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: A G, vertreten durch Mag.a Doris Einwallner, Rechtsanwältin in 1050 Wien, Schönbrunner Straße 26/3), zu Recht erkannt:

Normen

ARB1/80 Art13
ARB1/80 Art14
EURallg
FrÄG 2011
MRK Art8
NAG 2005 §11 Abs3
NAG 2005 §21a Abs4 Z1 idF 2018/I/056
NAG 2005 §21a Abs4 Z2 idF 2018/I/056
NAG 2005 §21a Abs5 Z1 idF 2018/I/056
NAG 2005 §21a Abs5 Z2 idF 2018/I/056
NAG 2005 §21a idF 2018/I/056
VwRallg
31972R2760 ZusProt FinanzProt AssAbk Türkei Art41 Abs1
62003CJ0383 Dogan VORAB
62017CJ0123 Yön VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018220289.L00

 

Spruch:

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat der Mitbeteiligten Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien (VwG) wurde der Mitbeteiligten, einer türkischen Staatsangehörigen, der Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) für die Dauer von 12 Monaten zur Familienzusammenführung mit ihrem Ehemann, einem türkischen Staatsangehörigen, der über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt-EU" verfügt, erteilt. Eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde für unzulässig erklärt.

Begründend führte das VwG u.a. aus, aufgrund der fallbezogen anwendbaren Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (ARB 1/80) seien neu eingeführte Beschränkungen wie etwa "Deutsch vor Zuzug" nicht anwendbar. Die übrigen Erteilungsvoraussetzungen lägen vor, Hinweise auf Versagungsgründe seien nicht hervorgekommen. 2 Dagegen erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.

3 Die Mitbeteiligte beantragte die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

4 In ihrer Zulässigkeitsbegründung bringt die Revision vor, es fehle an höchstgerichtlicher Rechtsprechung zu der Frage, ob im Fall der Anwendbarkeit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 die in § 21a NAG vorgesehene Verpflichtung des Nachweises von Deutschkenntnissen eine neue Beschränkung im Sinn der Judikatur des EuGH (Hinweis insbesondere auf EuGH 10.7.2014, C-138/13 , Dogan; 19.7.2012, C-451/11 , Dülger; 12.4.2016, C-561/14 , Genc) darstelle. Falls die Verpflichtung des Nachweises von Deutschkenntnissen eine neue Beschränkung darstelle, sei sie jedenfalls zulässig, weil sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt, zur Erreichung des angestrebten legitimen Zieles geeignet und angemessen sei (Hinweis insbesondere auf EuGH C-138/13 , Dogan, Rn. 33 bis 37; C-561/14 , Genc, Rn. 44 bis 46 sowie 51; 7.11.2013, C-225/12 , Demir, Rn. 40). Drittstaatsangehörige könnten mit Sprachkenntnissen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und sich besser in den Arbeitsmarkt integrieren; es würden ohnehin nur elementare Kenntnisse der deutschen Sprache gefordert und es gebe Ausnahmen, etwa für unmündige Minderjährige, bei Unzumutbarkeit aufgrund eines physischen oder psychischen Gesundheitszustandes oder auf begründeten Antrag etwa aus Gründen des Art. 8 EMRK, weshalb diese Bestimmung auch angemessen sei.

5 Die Revision ist im Hinblick auf die Zulässigkeit neuer Beschränkungen gemäß Art. 13 ARB 1/80 zulässig. Sie ist aber nicht begründet.

6 § 21a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 56/2018, lautet auszugsweise:

"Nachweis von Deutschkenntnissen

§ 21a. (1) Drittstaatsangehörige haben mit der Stellung eines Erstantrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen. Dieser Nachweis hat mittels eines allgemein anerkannten Sprachdiploms einer durch Verordnung gemäß Abs. 6 oder 7 bestimmten Einrichtung zu erfolgen, in welchem diese schriftlich bestätigt, dass der Drittstaatsangehörige über Kenntnisse der deutschen Sprache zumindest zur elementaren Sprachverwendung auf einfachstem Niveau verfügt. Das Sprachdiplom darf zum Zeitpunkt der Vorlage nicht älter als ein Jahr sein.

(2) ...

(4) Abs. 1 gilt nicht für Drittstaatsangehörige,

  1. 1. die zum Zeitpunkt der Antragstellung unmündig sind,
  2. 2. denen auf Grund ihres physischen oder psychischen

    Gesundheitszustandes die Erbringung des Nachweises nicht zugemutet werden kann; dies hat der Drittstaatsangehörige durch ein amtsärztliches Gutachten oder ein Gutachten eines Vertrauensarztes einer österreichischen Berufsvertretungsbehörde nachzuweisen; steht kein oder kein geeigneter Vertrauensarzt zur Verfügung, hat der Drittstaatsangehörige diesen Nachweis durch ein Gutachten eines sonstigen von der österreichischen Berufsvertretungsbehörde bestimmten Arztes oder einer von dieser bestimmten medizinischen Einrichtung zu erbringen

    3. ...

(5) Die Behörde kann auf begründeten Antrag eines Drittstaatsangehörigen von einem Nachweis nach Abs. 1 absehen:

1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen (§ 2 Abs. 1 Z 17) zur Wahrung des Kindeswohls, oder

2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3).

Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt.

(6) ..."

7 Zur Frage, ob die Verpflichtung des Nachweises von Deutschkenntnissen eine neue Beschränkung darstellt, wird auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hingewiesen, wonach die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 der Anwendung von neuen Beschränkungen wie etwa eines neu eingeführten Erfordernisses des Nachweises von Deutschkenntnissen für die Ermöglichung des Familiennachzuges für Ehegatten von in Österreich lebenden türkischen Staatsangehörigen entgegensteht (vgl. etwa VwGH 18.4.2018, Ra 2018/22/0004; 24.3.2015, Ro 2014/09/0057).

Der Revisionswerber führt selbst aus, dass das Erfordernis zum Nachweis von Sprachkenntnissen in Österreich erstmals durch das Fremdenrechtsänderungsgesetz 2011 - somit nach Inkrafttreten des ARB 1/80 mit Beitritt Österreichs zur Europäischen Union am 1. Jänner 1995 - eingeführt wurde und somit eine neue Bestimmung darstellt. Dass eine neue Bestimmung (Nachweis einfacher Kenntnisse der Amtssprache vor Einreise in den Mitgliedstaat), die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als das Zusatzprotokoll in Kraft trat, auch eine "neue Beschränkung" der Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch diese türkischen Staatsangehörigen im Sinn von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen (diesem kommt dieselbe Wirkung wie der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 zu) darstellt, brachte der EuGH im Urteil C-138/13 , Dogan, in Rn. 36 deutlich zum Ausdruck.

8 Es trifft zwar zu, dass eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt wird, die Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen als denen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ARB 1/80 galten, nicht generell unzulässig ist. Zulässig ist eine solche "neue Beschränkung" aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit (Art. 14 ARB 1/80), oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht (vgl. EuGH 7.8.2018, C-123/17 , Yön, Rn. 72, mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung des EuGH).

9 In Rn. 38 des Urteils C-138/13 , Dogan, führte der EuGH zur Frage der Zulässigkeit aus, auch wenn man davon ausgehe, dass die Einführung einer "neuen Beschränkung" auf zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, etwa zur Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und zur Förderung der Integration, beruhe, gehe diese Bestimmung über das hinaus, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich sei, weil der fehlende Nachweis des Erwerbs hinreichender Sprachkenntnisse automatisch zur Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung führe, ohne dass besondere Umstände des Einzelfalls berücksichtigt würden.

Dieses Urteil bezog sich auf eine nationale (konkret: deutsche) Rechtslage, in der ein Absehen von der Verpflichtung eines Ehepartners, sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen zu können, vorgesehen war, wenn die Ehe bereits bestand, als der Ausländer seinen Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegte, oder der Ehegatte wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage war, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen (vgl. EuGH C-138/13 , Dogan, Rn. 15).

Nach dem Urteil C-138/13 , Dogan, wurde die deutsche Rechtslage insofern geändert, als nunmehr das Erfordernis des Nachweises zumindest grundlegender Deutschkenntnisse auch dann unbeachtlich ist, wenn es dem Ehegatten auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht möglich oder nicht zumutbar ist, vor der Einreise Bemühungen zum Erwerb einfacher Kenntnisse der deutschen Sprache zu unternehmen (vgl. die Wiedergabe in EuGH 7.8.2018, C-123/17 , Yön, Rn. 25).

Der EuGH führte im Urteil C-123/17 , Yön, in Rn. 86 zur Frage der Zumutbarkeit, das Visumverfahren im Herkunftsland nachzuholen, aus, sollte Frau Yön aufgrund gesundheitlicher Probleme oder anderer Schwierigkeiten so stark von der Hilfe und persönlichen Unterstützung ihres Ehemanns abhängig sein, dass er sie in die Türkei begleiten müsste, damit sie in diesem Drittstaat das Verfahren zur Erteilung des erforderlichen Visums nachholen kann, und sollte das den zuständigen Behörden eingeräumte Ermessen es ihnen unter solchen Umständen ermöglichen, nicht von der Visumpflicht abzusehen, obwohl sie bereits über alle für die Entscheidung über das Aufenthaltsrecht der Klägerin des Ausgangsverfahrens in Deutschland erforderlichen Gesichtspunkte verfügen - was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist -, würde die Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahme über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels erforderlich ist.

10 Wie der Revisionswerber zur Rechtslage in Österreich zutreffend vorbringt, liegt keine Verpflichtung zum Nachweis von Sprachkenntnissen für Unmündige (§ 21a Abs. 4 Z 1 NAG) und für Drittstaatsangehörige vor, denen auf Grund ihres physischen oder psychischen Gesundheitszustandes die Erbringung des Nachweises nicht zugemutet werden kann (§ 21a Abs. 4 Z 2 NAG); darüber hinaus kann die Behörde auf begründeten Antrag eines Drittstaatsangehörigen von der Nachweisverpflichtung für unbegleitete Minderjährige (§ 21a Abs. 5 Z 1 NAG) und gemäß § 21a Abs. 5 Z 2 NAG dann absehen, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3 NAG) erforderlich ist; ein solcher Antrag ist bis zur Erlassung eines Bescheides zulässig.

Diese Ausnahmeregelung erlaubt jedoch kein Absehen vom Nachweis der Deutschkenntnisse, wenn deren Erwerb dem Drittstaatsangehörigen nicht aufgrund eines physischen oder psychischen Gesundheitszustandes, sondern aus anderen Gründen unmöglich oder unzumutbar ist, sofern diese Gründe nicht von Art. 8 EMRK umfasst sind.

Die Behörde ist aufgrund der in § 21a NAG festgelegten Ausnahmen von der Verpflichtung zum Nachweis von Deutschkenntnissen nicht in der Lage, alle relevanten Umstände zu berücksichtigen, die es einem Drittstaatsangehörigen möglicherweise unmöglich oder unzumutbar machen, einen solchen Nachweis zu erbringen. Im Hinblick auf die oben dargestellte Judikatur des EuGH zur Zulässigkeit neuer Beschränkungen ist daher davon auszugehen, dass § 21a NAG über das zur Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels der Förderung der Integration türkischer Staatsangehöriger Erforderliche hinausgeht und somit eine unzulässige neue Beschränkung im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 darstellt.

11 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

12 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20

14.

Wien, am 25. April 2019

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