VwGH Ra 2017/22/0154

VwGHRa 2017/22/015422.2.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 30. Mai 2017, VGW-151/063/16076/2016- 10, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: S E, vertreten durch Dr. Arthus Mikesi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 7), zu Recht erkannt:

Normen

NAG 2005 §11 Abs1 Z5;
NAG 2005 §21 Abs2 Z5;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017220154.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung (Spruchpunkt I.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 22. November 2016 wurde der Antrag des Mitbeteiligten, eines mazedonischen Staatsangehörigen, vom 26. Februar 2016 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" abgewiesen. Begründend führte der nunmehrige Revisionswerber aus, der Mitbeteiligte sei berechtigt, sich neunzig Tage innerhalb der letzten einhundertachtzig Tage im Bundesgebiet aufzuhalten. Der Mitbeteiligte sei am 24. Dezember 2015 in Österreich eingereist, weshalb der 22. März 2016 der letzte sichtvermerkfreie Tag gewesen sei. Der Mitbeteiligte habe es unterlassen, nach Ablauf der sichtvermerkfreien Zeit auszureisen.

2 Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Verwaltungsgericht Wien mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis Folge und erteilte dem Mitbeteiligten den begehrten Titel gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) für die Dauer von zwölf Monaten (Spruchpunkt I.). Weiters verpflichtete das Verwaltungsgericht den Mitbeteiligten zum Ersatz von Barauslagen (Spruchpunkt II.) und sprach aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei (Spruchpunkt III.).

3 Begründend führte das Verwaltungsgericht - soweit für den vorliegenden Revisionsfall relevant - aus, dass die Antragstellung am 26. Februar 2016 während des rechtmäßigen Aufenthaltes des Mitbeteiligten erfolgt sei. Es sei somit gemäß § 21 Abs. 2 Z 1 NAG von der Zulässigkeit der Antragstellung im Inland auszugehen. Der Mitbeteiligte sei mittlerweile aus dem Bundesgebiet freiwillig ausgereist. Zwar sei es zutreffend, dass zuvor (der letzte Aufenthalt des Mitbeteiligten in Österreich habe durchgehend seit 2. Oktober 2016 bestanden) die Dauer des erlaubten sichtvermerkfreien Aufenthaltes überschritten worden sei, doch habe sich der Mitbeteiligte "einsichtig" gezeigt und mittlerweile auch das Bundesgebiet freiwillig verlassen. Daher sei davon auszugehen, dass das Erteilungshindernis des § 21 Abs. 1 zweiter Fall NAG, wonach die Entscheidung im Ausland abzuwarten sei, nicht mehr vorliege.

4 In der - erkennbar gegen Spruchpunkt I. dieses Erkenntnisses gerichteten - Revision des Landeshauptmannes von Wien wurde zu ihrer Zulässigkeit ausgeführt, das Verwaltungsgericht habe die Rechtslage verkannt. Der Mitbeteiligte habe der Bestimmung des § 21 Abs. 6 NAG zuwidergehandelt und es liege der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG vor. Die Antragstellung am 26. Februar 2016 sei nach rechtmäßiger Einreise und während des rechtmäßigen Aufenthaltes in Österreich erfolgt. Obwohl der Mitbeteiligte daraus kein darüber hinausgehendes Bleiberecht habe ableiten können, habe er sich dennoch über die Dauer des erlaubten visumfreien Aufenthaltes von neunzig Tagen hinaus - und ab dem 2. Oktober 2016 durchgehend - im Bundesgebiet aufgehalten.

 

5 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch den Mitbeteiligten erwogen:

6 Die Revision ist zulässig und auch berechtigt. 7 Die maßgeblichen Bestimmungen des NAG, BGBl. I Nr. 100/2005

in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, lauten auszugsweise:

"Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel

§ 11. (1) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nicht

erteilt werden,

wenn

1. ...

5. eine Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien

oder visumpflichtigen Aufenthalts im Zusammenhang mit § 21 Abs. 6

vorliegt oder

6. ...

(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die

Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen

rechtswidrig war;

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4. der Grad der Integration;

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Drittstaatsangehörigen;

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im

Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des

Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich

die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des

Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(4) ...

Verfahren bei Erstanträgen

§ 21. (1) Erstanträge sind vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.

(2) Abweichend von Abs. 1 sind zur Antragstellung im Inland berechtigt:

1. ...

5. Fremde, die an sich zur visumfreien Einreise berechtigt

sind, während ihres erlaubten visumfreien Aufenthalts;

6. ...

(6) Eine Inlandsantragstellung nach Abs. 2 Z 1, Z 4 bis 10, Abs. 3 und 5 schafft kein über den erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalt hinausgehendes Bleiberecht. Ebenso steht sie der Erlassung und Durchführung von Maßnahmen nach dem FPG nicht entgegen und kann daher in Verfahren nach dem FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten."

8 Die Erläuterungen, RV 952 BlgNR 22. GP , 129, führen zu § 21 NAG unter anderem Folgendes aus:

"Abs. 1 stellt klar, dass Erstanträge - also Anträge von in Österreich nicht oder nicht mehr aufhältigen Fremden - vom Ausland aus zu stellen sind und dass die Entscheidung im Ausland abzuwarten ist. Die Norm steht natürlich einer kurzfristigen, rechtmäßigen Einreise - etwa aus touristischen Zwecken - nicht entgegen, sofern diese Aufenthalte wieder rechtzeitig beendet werden."

9 Davon abweichend sind Fremde, die an sich zur visumfreien Einreise berechtigt sind, während ihres erlaubten visumfreien Aufenthalts gemäß § 21 Abs. 2 Z 5 NAG zur Antragstellung im Inland berechtigt.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG einerseits einen sichtvermerkfreien Aufenthalt des Antragstellers sowie andererseits die Überschreitung der Dauer des so erlaubten Aufenthaltes voraussetzt (vgl. VwGH 20.1.2011, 2008/22/0903, mwN).

11 Zweck der Bestimmung des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG ist zu verhindern, dass Fremde ihren Aufenthalt im Bundesgebiet durch das Stellen eines Antrages nach dem NAG über den sichtvermerkfreien Zeitraum hinaus ohne Vorliegen eines Aufenthaltstitels ausdehnen. Das Verfahren ist nach rechtmäßiger Antragstellung und Ablauf des sichtvermerkfreien Zeitraumes im Ausland abzuwarten. Ein Zuwiderhandeln steht der Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels grundsätzlich entgegen, auch wenn zwischenzeitlich eine Ausreise erfolgt ist.

12 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den unstrittigen Feststellungen des Verwaltungsgerichts, dass der Mitbeteiligte nach rechtmäßiger Einreise am 24. Dezember 2015 und Stellung des gegenständlichen Antrages am 26. Februar 2016 - nach Ausreise und Wiedereinreise - über den sichtvermerkfreien Zeitraum in Österreich verblieben ist und sich auch ab dem 2. Oktober 2016 über die Dauer des erlaubten visumfreien Aufenthaltes von neunzig Tagen bis zum 10. Mai 2017 im Bundesgebiet aufgehalten hat. Damit hat der Mitbeteiligte den Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG verwirklicht. Dass der Aufenthaltstitel dennoch aus Gründen des Art. 8 EMRK (vgl. § 11 Abs. 3 NAG) zu erteilen gewesen sei, ist mangels diesbezüglicher Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht ersichtlich.

13 Das angefochtene Erkenntnis war daher im Umfang seiner Anfechtung wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 22. Februar 2018

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte