Normen
AsylG 2005 §2 Abs1 Z23;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §68 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs3;
VwGG §28 Abs3;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017190198.L00
Spruch:
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Die mitbeteiligten Parteien sind - nach eigenen Angaben - miteinander verheiratet und stammen aus der Teilrepublik Tschetschenien der Russischen Föderation. Sie stellten im Jahr 2003 in Österreich Anträge auf internationalen Schutz und gaben dazu an, der Erstmitbeteiligte habe in den Kriegen in Tschetschenien als Kommandant einer militärischen Einheit für die Unabhängigkeit Tschetscheniens gekämpft. Er werde daher in seinem Herkunftsstaat verfolgt.
2 Das Bundesasylamt wies diese Anträge mit Bescheiden vom 21. Dezember 2004 ab und wies die mitbeteiligten Parteien in die Russische Föderation aus. Die Beschwerden gegen diese Bescheide wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnissen vom 7. Juni 2010 als unbegründet ab. Das Fluchtvorbringen der mitbeteiligten Parteien erachtete der Asylgerichtshof nicht als glaubhaft.
3 In den Jahren 2010 und 2011 stellten die beiden mitbeteiligten Parteien jeweils zwei neuerliche Anträge auf internationalen Schutz, die wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen wurden.
4 Am 8. Juni 2016 stellten die mitbeteiligten Parteien die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstmitbeteiligte gab dazu an, sein Bruder sei vom russischen Inlandsgeheimdienst verhört und nach dem Aufenthaltsort des Erstmitbeteiligten befragt worden. Von den Beamten des Geheimdienstes sei bei diesem Verhör mitgeteilt worden, von tschetschenische Kämpfern sei gestanden worden, dass auch der Erstmitbeteiligte in deren "Aktionen involviert gewesen sei". Eine Rückkehr in die Russische Föderation würde - so der Erstmitbeteiligte weiter - sein "Ende bedeuten". Die Zweitmitbeteiligte gab an, keine eigenen Fluchtgründe zu haben, sich aber dem Vorbringen des Erstmitbeteiligten anzuschließen.
5 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ließ die Verfahren gemäß § 28 Abs. 1 AsylG 2005 zu und händigte - wie aus den in den Akten erliegenden Speicherauszügen aus den vom BFA EDVunterstützt geführten Datenbanken ersichtlich - den mitbeteiligten Parteien jeweils eine "Aufenthaltsberechtigungskarte weiß (§ 51 AsylG 2005)" aus.
6 Mit Bescheiden vom 6. und 7. März 2017 wies das BFA die Anträge der mitbeteiligten Parteien gemäß § 68 Abs. 1 AVG jeweils wegen entschiedener Sache zurück, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass die Abschiebung der mitbeteiligten Parteien in die Russische Föderation zulässig sei und keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe.
7 Dagegen erhoben die mitbeteiligten Parteien die mit 20. März 2017 datierten Beschwerden. Am 24. März 2017 legten sie als Reisepässe bezeichnete Dokumente der "Nohchiin Respublik Ichkeerin (auch: Ichkeeri)" (englisch: "Chechen Republic of Ichkeria") mit einem Ausstellungsdatum vom 17. März 2017 vor und gaben dazu an, daraus ergebe sich, dass sie keine Staatsangehörigen der Russischen Föderation seien, weshalb eine Abschiebung dorthin "nicht in Frage" komme.
8 Mit der als Erkenntnis bezeichneten angefochtenen Entscheidung gab das Bundesverwaltungsgericht, den Beschwerden der mitbeteiligten Parteien "gemäß § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG iVm § 68 Abs 1 AVG" statt und behob die angefochtenen Bescheide. Eine Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
9 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht - nach der Wiedergabe des Verfahrensverlaufs - aus, der Erstmitbeteiligte habe schon gegenüber dem BFA angegeben, seine Zugehörigkeit zur Russischen Föderation abzulehnen. Im Beschwerdeverfahren seien von den mitbeteiligten Parteien nunmehr Reisepässe der "Tschetschenischen Republik Itschkerien" - somit eines von tschetschenischen Separatisten ausgerufenen, international aber nicht anerkannten Staates - vorgelegt worden. Aufgrund des Ausstellungsdatums dieser Reisepässe ergebe sich, dass der Erstmitbeteiligte damit behaupte, wegen "Verhaltensweisen bedroht" zu sein, die er erst nach Erlassung der die Anträge der mitbeteiligten Parteien auf internationalen Schutz abweisenden Erkenntnisse des Asylgerichtshofes vom 7. Juni 2010 gesetzt habe, sodass "diese Verhaltensweisen" noch nicht Gegenstand dieser Erkenntnisse gewesen sein könnten. Im Übrigen habe es das BFA unterlassen, den Erstmitbeteiligten näher zu den Details und dem Hergang der Vorkommnisse, die sein Bruder ihm geschildert habe und auf die der Erstmitbeteiligte seinen Antrag gegründet habe, zu befragen bzw. dazu weitere Ermittlungsschritte zu setzen. Im Akt befänden sich auch fremdsprachige Schriftstücke, die der Erstmitbeteiligte offensichtlich anlässlich seiner Einvernahme zum Akt gegeben habe. Das BFA habe diese Schriftstücke nicht übersetzen lassen. In Hinblick auf diese "beschriebenen Schwächen der Ermittlung" erscheine die Durchführung einer mündlichen Verhandlung geboten. Unter dieser Voraussetzung sehe § 21 Abs. 3 BFA-VG jedoch die Behebung des angefochtenen Bescheides vor.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revision des BFA nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem Revisionsbeantwortungen nicht erstattet wurden, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Zur Begründung der Zulässigkeit seiner außerordentlichen Revision bringt das BFA unter anderem vor, das Asylverfahren der mitbeteiligten Parteien sei zugelassen worden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, von der das Bundesverwaltungsgericht abweiche, sei § 21 Abs. 3 BFA-VG aber nur im Zulassungsverfahren und nicht im zugelassenen Verfahren anwendbar. Eine Entscheidung nach § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG habe auch nicht in der Form eines Erkenntnisses, sondern eines Beschlusses zu ergehen. Es sei in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Übrigen gesichert, dass in einem zugelassenen Verfahren das Verwaltungsgericht von der Möglichkeit einer Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nur bei krassen oder besonders schweren Ermittlungslücken des behördlichen Verfahrens Gebrauch machen könne. Derartige Ermittlungslücken habe das Bundesverwaltungsgericht nicht dargestellt, sodass in der Sache zu entscheiden gewesen wäre. Soweit das Bundesverwaltungsgericht bei seinen Erwägungen die von den mitbeteiligten Parteien während des Beschwerdeverfahrens vorgelegten Reisepässe der "Tschetschenischen Republik Itschkerien" berücksichtige, weiche es von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, wonach für die Beurteilung der Frage, ob bei einem Folgeantrag "ein geänderter Sachverhalt" vorliege, der Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides durch die Behörde maßgebend sei.
12 Die Revision ist aus den dargestellten Gründen zulässig und berechtigt.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 5. Oktober 2016, Ra 2016/19/0208, ausgesprochen, dass eine rechtsrichtige Anwendung des § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG nach seinem insoweit unmissverständlichen Wortlaut das Vorliegen einer "Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren" voraussetzt.
14 Im vorliegenden Fall wurden die Verfahren über die Folgeanträge der mitbeteiligten Parteien vor Bescheiderlassung zugelassen. Indem das Bundesverwaltungsgericht - ungeachtet der Verfahrenszulassung - daher davon ausging, es sei die Bestimmung des § 21 Abs. 3 BFA-VG zur Anwendung zu bringen, hat es die Rechtslage verkannt und die angefochtene Entscheidung schon aus diesem Grund mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Die angefochtene Entscheidung gleicht insoweit in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht in den entscheidungsrelevanten Punkten jener, über die vom Verwaltungsgerichtshof mit dem zitierten Erkenntnis vom 5. Oktober 2016, Ra 2016/19/0208, entschieden wurde. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird auf die Entscheidungsgründe des genannten Erkenntnisses verwiesen. Aus den dort genannten Gründen ist eine Entscheidung nach § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG im Übrigen in Beschlussform zu treffen.
15 Wie die Revision weiters zutreffend aufzeigt, hat das Bundesverwaltungsgericht auch den Gegenstand seiner Prüfung verkannt.
16 "Sache" des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht war die Frage, ob die Zurückweisung des verfahrenseinleitenden Antrags durch das BFA gemäß § 68 Abs. 1 AVG zu Recht erfolgt ist. Das Bundesverwaltungsgericht hatte dementsprechend zu prüfen, ob das BFA auf Grund des von ihm zu berücksichtigenden Sachverhalts zu Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass im Vergleich zu den rechtskräftig entschiedenen Asylverfahren der mitbeteiligten Parteien keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist. Dabei entspricht es im Hinblick auf wiederholte Anträge auf internationalen Schutz der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung - nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen - berechtigen und verpflichten kann, der rechtlich für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen Relevanz zukommt; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen "glaubhaften Kern" aufweisen (VwGH 25.4.2017, Ra 2016/01/0307).
17 Diese Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags auf Grund geänderten Sachverhalts hat - von allgemein bekannten Tatsachen abgesehen - im Beschwerdeverfahren nur anhand der Gründe, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens vorgebracht wurden, zu erfolgen (vgl. VwGH 24.6.2014, Ra 2014/19/0018). Neues Sachverhaltsvorbringen in der Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Bescheid nach § 68 AVG ist von der "Sache" des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht somit nicht umfasst und daher unbeachtlich (VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0025).
18 Davon weicht die angefochtene Entscheidung insoweit ab, als das Bundesverwaltungsgericht auch das nach Erlassung der Bescheide des BFA vom 6. und 7. März 2017 von den mitbeteiligten Parteien erstattete Vorbringen bzw. die von den mitbeteiligten Parteien dazu vorgelegten Urkunden ("Reisepässe der Tschetschenischen Republik Itschkerien") berücksichtigt und dem BFA dazu eine Ergänzung des Ermittlungsverfahrens aufgetragen hat.
19 Die angefochtene Entscheidung war daher wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.
Wien, am 22. November 2017
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)