VwGH Ra 2016/22/0033

VwGHRa 2016/22/00337.12.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 19. Jänner 2016,VGW- 151/074/6901/2015-1, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: H K A in Wien), zu Recht erkannt:

Normen

ARB1/80 Art6;
B-VG Art130 Abs4;
NAG 2005 §24 Abs4;
NAG 2005 §43 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §28 Abs2;
VwGVG 2014 §28 Abs3;
ARB1/80 Art6;
B-VG Art130 Abs4;
NAG 2005 §24 Abs4;
NAG 2005 §43 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §28 Abs2;
VwGVG 2014 §28 Abs3;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten, eines türkischen Staatsangehörigen, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 8. April 2015, mit welchem der Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck "Niederlassungsbewilligung" gemäß § 43 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen worden war, Folge und behob den angefochtenen Bescheid. Weiters sprach das Verwaltungsgericht aus, dass eine ordentliche Revision nicht zulässig sei.

2 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, dem Mitbeteiligten sei eine Aufenthaltsbewilligung "Studierender", gültig bis 6. Oktober 2013, ausgestellt worden. Am 4. Oktober 2013 habe der Mitbeteiligte einen Antrag auf Verlängerung dieser Aufenthaltsbewilligung gestellt. Am 27. November 2013 habe der Mitbeteiligte, der seit 2. Juli 2012 ein Handelsgewerbe betreibe, seinen Antrag auf "Niederlassungsbewilligung für selbständige Erwerbstätigkeit" modifiziert; er bezwecke einen "Kombiantrag" gemäß § 24 Abs. 4 NAG und habe dazu in der mündlichen Verhandlung vom 22. Dezember 2015 angegeben, einen "Aufenthaltstitel für selbständige und unselbständige Erwerbstätigkeit" anzustreben.

3 Weiters stellte das Verwaltungsgericht fest, dass der Mitbeteiligte seit 6. November 2014 als Pizzazusteller bei ein und demselben Arbeitgeber beschäftigt sei.

4 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, der Mitbeteiligte sei somit seit über einem Jahr ununterbrochen einer nicht bloß untergeordneten unselbständigen Erwerbstätigkeit als Pizzazusteller im Ausmaß von mindestens zehn Wochenstunden beim selben Arbeitgeber nachgegangen und sei weiterhin dort beschäftigt. Der Mitbeteiligte erfülle damit die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich des Assoziationsratsbeschlusses 1/1980 (ARB 1/80) und habe demnach Anspruch auf Verlängerung seiner arbeitsmarktrechtlichen Bewilligung, welche ihm mit Bescheid des Arbeitsmarktservice Wien vom 26. November 2015 gemäß § 4c Ausländerbeschäftigungsgesetz auch ausgestellt worden sei. Damit korrespondiere ein Aufenthaltsrecht zwecks Durchsetzung der beschäftigungsrechtlichen Position. Dieses Aufenthaltsrecht als Folge des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf die tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung sei ab diesem Zeitpunkt unmittelbar aus dem ARB 1/80 herzuleiten und werde nicht erst durch die Erteilung einer entsprechenden nationalen Erlaubnis begründet. Deshalb habe eine Aufenthaltserlaubnis für die Anerkennung des Aufenthaltsrechtes nur deklaratorische Bedeutung und Beweisfunktion.

5 Der Verlängerungsantrag vom 4. Oktober 2013 sei am 27. November 2013 auf Niederlassungsbewilligung für selbständige Erwerbstätigkeit gemäß § 8 Abs. 1 Z 4 NAG modifiziert worden. Dieser Antrag sei mit dem Bescheid der Behörde abgewiesen worden. Die bis 31. Dezember 2013 im NAG vorgesehene Niederlassungsbewilligung zwecks Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit mit entsprechender arbeitsmarktrechtlicher Bewilligung sei mit 1. Jänner 2014 entfallen.

6 Der Mitbeteiligte habe in der mündlichen Verhandlung vom 22. Dezember 2015 vor dem Verwaltungsgericht angegeben, einen Aufenthaltstitel für selbständige und unselbständige Erwerbstätigkeit anzustreben. Er hätte mit seinem Schreiben an die Behörde vom 10. November 2013 noch keinen Antrag auf Erteilung des im Schreiben erwähnten Aufenthaltstitels für den Zweck "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gestellt. Dem Verwaltungsgericht sei es verwehrt, eine Umdeutung des Antrages vorzunehmen.

7 Gegenstand des vorliegenden verwaltungsgerichtlichen Verfahrens - so das Verwaltungsgericht weiter - sei die durch die Behörde vorgenommene Abweisung des Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Niederlassungsbewilligung". Da der beantragte Titel trotz Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 nicht mehr erteilt werden könne und eine Umdeutung des Antrages dahin, dass ein auf einen anderen Rechtsgrund gestützter Aufenthaltstitel, etwa für den Zweck "Rot-Weiß-Rot - Karte plus", vom Verwaltungsgericht erteilt werde, unzulässig sei, sei spruchgemäß zu entscheiden gewesen.

8 Die ordentliche Revision sei unzulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen gewesen sei.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des Landeshauptmannes von Wien. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision beantragte.

10 In seiner Zulässigkeitsbegründung gemäß § 28 Abs. 3 VwGG bringt der Revisionswerber vor, das Verwaltungsgericht habe eine unzulässige inhaltliche Umdeutung des Antrages vorgenommen, indem es festgestellt habe, dem Mitbeteiligten stünde der Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" zu. Auf dieser Grundlage habe das Verwaltungsgericht den Bescheid des Revisionswerbers behoben, obwohl dieser rechtskonform den modifizierten Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels "Niederlassungsbewilligung" abgewiesen habe, weil die besonderen Voraussetzungen hiefür nicht vorgelegen seien. Weiters habe das Verwaltungsgericht spruchgemäß den Bescheid des Revisionswerbers in Form eines Erkenntnisses behoben, ohne jedoch eine meritorische Sachentscheidung in Form einer Titelentscheidung oder einer Antragsabweisung zu treffen. Die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG lägen ebenfalls nicht vor.

11 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 12 § 8, § 24 und § 43 NAG lauten auszugsweise:

"§ 8. (1) Aufenthaltstitel werden erteilt als:

(...)

4. "Niederlassungsbewilligung", die zur befristeten Niederlassung und zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt;

(...)"

"§ 24. (1) Verlängerungsanträge (§ 2 Abs. 1 Z 11) sind vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels, frühestens jedoch drei Monate vor diesem Zeitpunkt, bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen; § 23 gilt. Danach gelten Anträge als Erstanträge. Nach Stellung eines Verlängerungsantrages ist der Antragsteller, unbeschadet der Bestimmungen nach dem FPG, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag weiterhin rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig. Über die rechtzeitige Antragstellung kann dem Fremden auf begründeten Antrag eine einmalige Bestätigung im Reisedokument angebracht werden, die keine längere Gültigkeitsdauer als drei Monate aufweisen darf. Diese Bestätigung berechtigt zur visumfreien Einreise in das Bundesgebiet. Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, Form und Inhalt der Bestätigung durch Verordnung zu regeln.

(2) (...)

(4) Mit einem Verlängerungsantrag (Abs. 1) kann bis zur Erlassung des Bescheides ein Antrag auf Änderung des Aufenthaltszwecks des bisher innegehabten Aufenthaltstitels oder auf Änderung des Aufenthaltstitels verbunden werden. Sind die Voraussetzungen für den beantragten anderen Aufenthaltszweck oder Aufenthaltstitel nicht erfüllt, ist darüber gesondert mit Bescheid abzusprechen und der bisherige Aufenthaltstitel mit dem gleichen Aufenthaltszweck zu verlängern, soweit die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen."

"§ 43. (1) (...)

(2) Drittstaatsangehörigen, denen auf Grund eines Rechtsaktes der Europäischen Union Niederlassungsfreiheit zukommt, kann für die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit eine "Niederlassungsbewilligung" erteilt werden, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen.

(...)"

§ 28 VwGVG lautet auszugsweise:

"(1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

  1. 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
  2. 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

(3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

(...)"

13 Gemäß den Feststellungen des Verwaltungsgerichtes stellte der Revisionswerber am 27. November 2013, nachdem er am 4. Oktober 2013 die Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung "Studierender" begehrt hatte, einen Antrag auf "Niederlassungsbewilligung" für selbständige Erwerbstätigkeit. Dieser gemäß § 24 Abs. 4 NAG zulässige Zweckänderungsantrag wurde von der Behörde mit Bescheid vom 8. April 2015 gemäß § 43 NAG abgewiesen. Die Behörde prüfte erkennbar die Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 NAG und verneinte deren Vorliegen.

14 Mit dem hg. Erkenntnis vom 26. Februar 2015, Ra 2014/22/0103 bis 0105, hielt der Verwaltungsgerichtshof unter Hinweis auf sein Erkenntnis vom 26. Juni 2014, Ro 2014/03/0063, fest, dass dem Verwaltungsgericht sowohl in den in Art. 130 Abs. 4 B-VG vorgesehenen und in § 28 Abs. 2 VwGVG angeordneten, als auch in den von § 28 Abs. 3 erster Satz VwGVG erfassten Fällen, in denen nicht § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG eingreift, eine kassatorische Entscheidung nicht offen steht.

15 Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht im Spruch des angefochtenen Erkenntnisses der gegen den bekämpften Bescheid erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten Folge gegeben und diesen Bescheid behoben. Ein inhaltlicher Abspruch über den Antrag des Mitbeteiligten auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung" erfolgte nicht. Das Verwaltungsgericht hat damit gegen seine Verpflichtung verstoßen, nicht nur die gegen den verwaltungsbehördlichen Bescheid eingebrachte Beschwerde, sondern auch die Angelegenheit zu erledigen, die von der Verwaltungsbehörde zu entscheiden war.

16 Soweit das Verwaltungsgericht der Ansicht ist, dass der Mitbeteiligte (nunmehr) die Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 erfülle und ihm etwa ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" zukäme, so ist ihm entgegenzuhalten, dass der Mitbeteiligte während des vor der belangten Behörde anhängigen Verfahrens unstrittig einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für selbständige Erwerbstätigkeit - die nicht von Art. 6 ARB umfasst ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 23. Juni 2015, Ro 2014/22/0038) - stellte, den er im Beschwerdeverfahren aufrecht hielt. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens war somit die behördliche Abweisung des Zweckänderungsantrages wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 NAG.

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 7. Dezember 2016

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