VwGH Ra 2015/08/0185

VwGHRa 2015/08/01854.3.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und den Hofrat Dr. Strohmayer sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Gruber, über die Revision des Arbeitsmarktservice Mattersburg, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25. November 2015, Zl. W121 2016897- 1/17E, betreffend Arbeitslosengeld (mitbeteiligte Partei: P B in B, vertreten durch den Sachwalter Dr. J B), zu Recht erkannt:

Normen

VwGVG 2014 §14 Abs1;
VwRallg;
VwGVG 2014 §14 Abs1;
VwRallg;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht "die bekämpften Bescheide" (Ausgangsbescheid und Beschwerdevorentscheidung) des Arbeitsmarktservice Mattersburg (im Folgenden: AMS) "gemäß § 28" VwGVG iVm § 8 AlVG "aufgehoben und der Beschwerde stattgegeben". Der Mitbeteiligte habe am 2. Mai 2014 einen Antrag auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld gestellt. Mit Ausgangsbescheid des AMS vom 5. September 2014 sei

"die Einstellung des Bezugs des Arbeitslosengelds ... ab 6.9.2014"

ausgesprochen worden. Der dagegen erhobenen Beschwerde habe das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom 20. November 2014 - gestützt auf ein "ärztliches Gesamtgutachten vom 07.08.2014, erstellt von Dr. W. G., Facharzt für Psychiatrie, erstellt aufgrund einer Untersuchung am 05.08.2014" bzw. einer "Stellungnahme des chefärztlichen Dienstes vom 11.08.2014", wonach der Mitbeteiligte nie arbeitsfähig gewesen sei - nicht stattgegeben. Im "ärztlichen Gutachten vom 26.06.2015, erstellt von Dr. N. S., Facharzt für Neurologie und Neurorehabilitation" sei (hingegen) festgehalten worden, dass der Mitbeteiligte

"selbst gerne arbeiten wolle, er habe dies auch drei Jahr lang getan und wolle nach der Lehre die Arbeit als Gärtner, die ihm wirklich gefalle, auch in Zukunft und vor allem als noch junger Mensch gerne fortsetzen. Aus medizinischer Sicht sei gegen ein entsprechendes Arbeiten mit - an die Erfahrung angepasster, zunehmender Belastung - nichts einzuwenden. Der (Revisionswerber) selbst wünsche es sich und es bestehe kein Grund ihm das zu verwehren. Vor allem, da ihm bereits eine Teillehre über drei Jahre, die er sehr motiviert und erfolgreich abgeschlossen habe, ermöglicht worden sei."

An diese Ausführungen schloss das Verwaltungsgericht folgende Feststellung: "Der (Mitbeteiligte) gilt im verfahrensgegenständlichen Zeitraum als arbeitsfähig".

Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht aus, in den vom revisionswerbenden AMS eigeholten Gutachten sei unberücksichtigt geblieben, dass der Mitbeteiligte eine Teillehre zum Garten- und Grünflächengestalter abgeschlossen habe. Die Gutachten seien ohne physische Untersuchung bzw. ohne Tests erstellt worden. Die Gutachter hätten sich mit der vom Mitbeteiligten tatsächlich geleisteten Tätigkeit im Rahmen seiner Teillehre nicht auseinandergesetzt. Die Gutachten seien unschlüssig und unvollständig. Nach Durchführung der mündlichen Beschwerdeverhandlung sei das Gutachten vom 26. Juni 2015 "eingeholt" worden, in welchem der Arbeitswille des Mitbeteiligten festgehalten worden sei. Der erkennende Senat gelange

"nach Durchsicht der Akten, auf Grund des persönlichen Eindrucks und unter nochmaligem Verweis auf seine Teillehre zur Feststellung, dass auch im entscheidungsrelevanten Zeitraum (ab 6.9.2014) die festgestellte Arbeitsunfähigkeit nicht bestanden hat. Insbesondere ergibt sich aus dem Gesamtleistungskalkül im Gutachten vom 07.08.2014 ausdrücklich, dass bereits zu diesem Zeitpunkt verschiedenste Anforderungen als zumutbar bewertet worden waren."

In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, dass die Arbeitsfähigkeit des Mitbeteiligten am 6. September 2014 bestanden habe. Dem Mitbeteiligten sei daher "ab 6.9.2014 Arbeitslosengeld im gesetzlichen Ausmaß zuzuerkennen."

2 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Amtsrevision. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der er die Abweisung der Revision beantragt.

Der Verwaltungsgericht hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

3 Die Amtsrevision führt zu ihrer Zulässigkeit aus, das Verwaltungsgericht habe nach Schluss der mündlichen Verhandlung "nachgebrachte Unterlagen (hauptsächlich das Privatgutachten von Prim. Dr. N. S. vom 7.7.2015 (richtig: 26.06.2015))" in die Beweiswürdigung einbezogen und dem AMS keine Möglichkeit gegeben, dazu Stellung zu nehmen. Trotz Vorliegens eines zweifelsfreien Gutachtens über die Erwerbsunfähigkeit habe das Verwaltungsgericht die Arbeitsfähigkeit des Revisionswerbers festgestellt. Das medizinische Sachverständigengutachten der gemäß § 8 Abs. 2 AlVG zuständigen Pensionsversicherungsanstalt komme zum Ergebnis, dass dauernde Erwerbsunfähigkeit vorliege. Das genannte Privatgutachten habe das Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt nicht in Frage gestellt, sondern lediglich ausgeführt, dass der Revisionswerber selbst gerne arbeiten wolle.

4 Die Revision ist zulässig und berechtigt:

5 Dem angefochtenen Erkenntnis ist nicht zu entnehmen, dass das AMS dem Mitbeteiligten auf Grund seines Antrags vom 2. Mai 2014 Arbeitslosengeld zuerkannt und es dieses in der Folge gemäß § 24 Abs. 1 AlVG eingestellt hat. Der Spruch bezieht sich auf "bekämpfte Bescheide", obwohl eine Beschwerdevorentscheidung dem Ausgangsbescheid endgültig derogiert (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17. Dezember 2015, Ro 2015/08/0026). Er hebt diese "bekämpften Bescheide gemäß § 28" VwGVG auf, ohne erkennen zu lassen, ob es sich um eine "ersatzlose" Aufhebung iSd § 28 Abs. 2 bzw. Abs. 3 erster Satz VwGVG handelt (also um einen Ausspruch des Verwaltungsgerichts in der Sache selbst, dass eine Einstellung des Arbeitslosengeldes zu unterbleiben hat), oder um eine kassatorische Entscheidung iSd § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG. Im Widerspruch zu beidem führt das Verwaltungsgericht in der Begründung aus, dem Mitbeteiligten sei "ab 6.9.2014 Arbeitslosengeld im gesetzlichen Ausmaß zuzuerkennen", womit es eine (erstmalige) Zuerkennung des Arbeitslosengeldes dem Grunde nach gemeint haben könnte. Das Verwaltungsgericht hat die für eine Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitslosen im Sinn des § 8 AlVG erforderlichen Tatsachenfeststellungen (Leistungskalkül und Verweisungstätigkeiten im Hinblick auf eine Beurteilung, ob der Arbeitslose iSd § 8 Abs. 1 AlVG "nicht invalid und nicht berufsunfähig im Sinn des ASVG ist") nicht getroffen. Es hat erkennen lassen, dass es die vom AMS bereits eingeholten Gutachten für ungeeignet halte, jedoch von der ordnungsgemäßen Ergänzung dieser Gutachten bzw. von der Einholung weiterer Gutachten Abstand genommen. Statt dessen hat es sich - unter Verletzung des rechtlichen Gehörs des revisionswerbenden AMS - auf ein nach Abschluss des Verfahrens zu den Akten gelangtes Privatgutachten gestützt, das überdies keine für eine rechtliche Beurteilung nach § 8 Abs. 1 AlVG geeigneten Aussagen enthält. Schließlich hat es - sich über die entgegenstehenden ärztlichen Äußerungen hinwegsetzend - mit nicht nachvollziehbaren beweiswürdigenden Argumenten die Feststellung getroffen, dass "die festgestellte Arbeitsunfähigkeit nicht bestanden hat". Ob und inwieweit das Gericht über eigene medizinische Sachkenntnise verfügt, hat es weder dargelegt noch sind derartige Kenntnisse aus den genannten Argumenten ableitbar. Das Erkenntnis enthält über weite Strecken irrelevante Ausführungen und (überflüssige) Wiedergaben des Gangs der mündlichen Verhandlung, wohingegen die für eine zutreffende rechtliche Beurteilung erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen unterbleiben. Es unterschreitet - ebenso wie die geschilderte Verfahrensführung - die Qualitätserfordernisse einer rechtsstaatlichen Entscheidung und beeinträchtigt die nachprüfende Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof in einem nicht mehr zu tolerierenden Ausmaß (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 24. September 2013, Zl. 2013/08/0113, vom 26. Mai 2014, Zl. Ro 2014/08/0056, und vom 24. Februar 2016, Zl. Ro 2014/08/0020).

6 Das angefochtene Erkenntnis war gemäß § 42 Abs. 1 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am 4. März 2016

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