VwGH Ra 2015/01/0079

VwGHRa 2015/01/007919.4.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie den Hofrat Dr. Hofbauer und die Hofrätin Dr. Reinbacher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Berger, über die Revision der D Y in W, vertreten durch Dr. Claudia Stoitzner-Patleych, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Mariahilfer Straße 45/5/36, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19. Februar 2015, Zl. W105 1426066- 1/6E, betreffend eine Angelegenheit nach dem Asylgesetz 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §24;
AsylG 2005 §3 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §24;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19. Februar 2015 wurde die Beschwerde der Revisionswerberin, einer Staatsangehörigen Somalias, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesasylamtes (nunmehr: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) vom 30. März 2012, mit dem ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 22. Dezember 2011 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß §§ 3 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) abgewiesen worden war, gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt A). Gleichzeitig wurde ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).

2 Zur Begründung des Spruchpunktes A traf das Bundesverwaltungsgericht nach Wiedergabe des Verfahrensganges folgende Feststellungen:

3 Die Revisionswerberin sei Staatsangehörige Somalias, Angehörige der Volksgruppe der A und verfüge in Somalia "über enge familiäre Bindungen in Form ihrer Kinder sowie weiterer naher Verwandter". Die Revisionswerberin sei "den allgemeinen Gegebenheiten und Umtrieben der Al-Shabaab Milizen im gleichen Maß ausgesetzt (gewesen) wie andere Bevölkerungsteile". So sei sie "u.a. zu Zwangsarbeit herangezogen, kurzfristig konfiniert, wieder freigelassen und neuerlich im Hause ihrer Familie von marodierenden Truppen überfallen" worden. Aufgrund "der allgemeinen Umstände und der gegebenen Ereignisse ihre Familie betreffend" habe sie das Land verlassen.

4 Im Weiteren traf das Bundesverwaltungsgericht Länderfeststellungen zur Situation in Somalia.

5 Unter dem Titel "Beweiswürdigung" führte das Bundesverwaltungsgericht aus, den beweiswürdigenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid des Bundesasylamtes werde insofern entgegengetreten, als es der Revisionswerberin "grosso modo" gelungen sei, ihre Lebenssituation bzw. eine Mehrzahl von Ereignissen lebensnah darzustellen, dies ungeachtet der mangelnden Fähigkeit, "Einzelereignisse sowie einzelne (...) Übersiedlungen und Einzelsachver(h)altskreise chronologisch gleichbleibend zu präsentieren". Die Revisionswerberin sei Analphabetin und verfüge über keinerlei Schulbildung, weshalb eine chronologisch richtige Schilderung "nicht zwingend" zu erwarten gewesen sei. Eine Vielzahl von Berichten sowie die Feststellungen im angefochtenen Bescheid zeigten die vormalige Allgemeinsituation bzw. die prekäre Situation der Zivilbevölkerung vor dem Hintergrund der marodierenden Al-Shabaab Milizen. Die Revisionswerberin sei von den allgemeinen Gegebenheiten bzw. der weitgehenden Rechtlosigkeit und den Umtrieben der Al-Shabaab Milizen in gleicher Weise betroffen gewesen wie der Rest der Zivilbevölkerung. Ihrem Vorbringen sei "insgesamt betrachtet" nicht entnehmbar, dass die Al-Shabaab "ein gezielt sich gegen ihre Person richtendes Interesse" gehabt hätten.

6 Das Vorbringen der Revisionswerberin sei vor dem Hintergrund der vormaligen Gesamtsituation in Somalia "nicht einer Individualgefährdung aus einem vom Schutzzweck der Genfer Flüchtlingskonvention umfass(ten) Grunde zurechenbar", sondern sei vielmehr dem Tatbestand der allgemein herrschenden Verhältnisse bzw. der politischen Situation der willkürlichen Gewaltausübung durch die Al-Shabaab Milizen zum vormaligen Zeitpunkt zuzurechnen. Die Gewährung subsidiären Schutzes (durch das Bundesasylamt) trage "auch der aktuelleren - günstigeren - Lageentwicklung hinsichtlich einer Verfolgungsgeneigtheit durch die Al-Shabaab hinreichend Rechnung".

7 Hinzu komme die Lageänderung zumindest für den Großraum Mogadischu, wonach gegenwärtig bzw. für die Zukunft keine Gefährdung durch die Al-Shabaab gegeben sei. Den dazu seitens des Bundesverwaltungsgerichtes in das Verfahren eingeführten Länderdokumentationsunterlagen seien keine gleichwertigen bzw. ebenso aktuellen gegenläufigen Unterlagen entgegen gehalten worden.

8 Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht - neben Darlegungen zur Rechtslage und zur hg. Judikatur - aus, im vorliegenden Fall sei nicht hervorgekommen, dass die Revisionswerberin in der Vergangenheit einer sich gegen sie richtenden Verfolgung aus einem vom Schutzzweck der Genfer Flüchtlingskonvention umfassten Grund ausgesetzt gewesen sei. Den Ereignissen, die die Revisionswerberin im Verfahren geschildert habe, sei entnehmbar, dass sie "jedenfalls nicht aufgrund einer politischen Gesinnung oder einer

ihr allenfalls unterstellten politischen Gesinnung oder ... wegen

ihrer religiösen, ethnischen oder rassischen Zugehörigkeit oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Verfolgung zu befürchten" gehabt habe. Aufgrund der geänderten Verhältnisse in Mogadischu sei jedenfalls nicht davon auszugehen, dass die Revisionswerberin "bei Rückkehr einer Behelligung durch die Al-Shabaab Milizen ausgesetzt" sei.

9 Die Nicht-Zulassung der Revision begründete das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen damit, dass die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhänge. Die tragenden Elemente der gegenständlichen Entscheidung lägen allein in der Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Parteivorbringens. Hinsichtlich der Einordnung des Sachverhaltes habe sich das Bundesverwaltungsgericht auf eine ständige höchstgerichtliche Rechtsprechung bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen können.

10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

11 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12 1. Die außerordentliche Revision macht zur Zulässigkeit geltend, das Bundesverwaltungsgericht weiche hinsichtlich der Frage der Individualgefährdung, eines bereits stattgefundenen Rekrutierungsversuches sowie des Auswahlkriteriums für eine Zwangsrekrutierung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab (Verweis auf die hg. Erkenntnisse vom 27. Jänner 2015, Ra 2014/19/0112, vom 16. April 2004, 2000/20/0144, und vom 14. Mai 2002, 98/01/0327).

13 2. Die Revision ist zulässig und begründet. 14 2.1. Das Bundesverwaltungsgericht misst den Angaben der Revisionswerberin  -anders als die Verwaltungsbehörde und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - Glaubwürdigkeit bei. Deren Vorbringen fasst das Bundesverwaltungsgericht dahin zusammen, dass die Revisionswerberin "u.a. zu Zwangsarbeit herangezogen, kurzfristig konfiniert, wieder freigelassen und neuerlich im Hause ihrer Familie von marodierenden Truppen überfallen" worden sei. Damit wird allerdings übergangen, dass die Revisionswerberin (u.a.) geltend gemacht hat, ebenso wie die Halbschwester ihres Ehemannes von den Al-Shabaab Milizen verschleppt, rund einen Monat festgehalten und zu Hilfsdiensten (Holz sammeln; Kochen) verpflichtet worden zu sein. Über Vermittlung ihres Onkels sei sie gegen die Zusage, nach drei bis vier Monaten wieder für die Al-Shabaab Milizen zu arbeiten, freigelassen worden. In weiterer Folge seien diese ca. einen Monat später gekommen, hätten nach ihr gefragt und sie mitnehmen wollen. Sie habe sich versteckt, ihrem Onkel sei in die Beine geschossen worden, sodass diese amputiert hätten werden müssen.

15 Die Annahme des Bundesverwaltungsgerichtes, dem Vorbringen der Revisionswerberin sei kein "gezielt sich gegen ihre Person richtendes Interesse" der Al-Shabaab Milizen zu entnehmen, trifft demnach nicht zu. Bei Zugrundelegung des Vorbringens der Revisionswerberin greift auch die Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichtes, die Revisionswerberin sei (bloß) "den allgemeinen Gegebenheiten und Umtrieben der Al-Shabaab Milizen im gleichen Maß ausgesetzt (gewesen) wie andere Bevölkerungsteile", zu kurz. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung nämlich von der - nicht asylrelevanten - Zwangsrekrutierung durch eine Bürgerkriegspartei jene Verfolgung unterschieden, die an die tatsächliche oder nur unterstellte politische Gesinnung anknüpft, die in der Weigerung, sich den Rekrutierenden anzuschließen, gesehen wird. Auf das Auswahlkriterium für die Zwangsrekrutierung selbst kommt es in einem solchen Fall nicht an (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 10. Dezember 2014, Ra 2014/18/0103 bis 0106, mwN, sowie darauf Bezug nehmend das in der Revision genannte hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2015, Ra 2014/19/0112). Entscheidend ist daher, mit welchen Reaktionen durch die genannten Milizen die Revisionswerberin auf Grund ihrer Weigerung, sich dem Willen der Rekrutierenden zu beugen, rechnen müsste und ob in ihrem Verhalten eine - sei es auch nur unterstellte - politische oder religiöse oppositionelle Gesinnung erblickt wird. Infolge Verkennung dieser Rechtslage enthält die angefochtene Entscheidung aber keine ausreichenden Feststellungen, die eine solche Beurteilung ermöglichen würden (vgl. das genannte Erkenntnis Ra 2014/19/0112).

16 2.2. Soweit sich das Bundesverwaltungsgericht darauf beruft, dass infolge einer "Lageänderung zumindest für den Großraum Mogadischu" keine aktuelle Gefährdung durch die Al-Shabaab Milizen anzunehmen sei, so gründet sich diese Annahme - offenbar - auf die vom Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Länderfeststellungen.

17 Die vom Bundesverwaltungsgericht erkannte Notwendigkeit, die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat der Revisionswerberin (gegenüber jenen im Bescheid des Bundesasylamtes vom 30. März 2012 getroffenen Feststellungen) zu aktualisieren, hätte allerdings - worauf in der Revision zu Recht hingewiesen wird - die Durchführung einer (im Revisionsfall unterbliebenen) Verhandlung erforderlich gemacht (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 24. Februar 2015, Ra 2014/19/0171, mwN).

18 Es bedarf daher keiner weiteren Auseinandersetzung mit der Frage, ob die vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Länderfeststellungen geeignet wären, die Annahme einer Lageänderung in einem Fall wie dem vorliegenden zu begründen.

19 3. Das angefochtene Erkenntnis war sohin wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

20 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.

21 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil mit dem Pauschalbetrag für Schriftsatzaufwand auch die Umsatzsteuer abgegolten wird.

Wien, am 19. April 2016

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