VwGH Ra 2015/20/0204

VwGHRa 2015/20/020419.11.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck sowie die Hofräte Mag. Eder und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin MMag. Ortner, über die Revision des C J, vertreten durch Mag. Peterpaul Suntinger, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Pfarrplatz 17, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 8. Juni 2015, Zl. I406 2000066-1, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §45 Abs2;
VwGVG 2014 §17;
AVG §45 Abs2;
VwGVG 2014 §17;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Nigerias, stellte am 18. November 2013 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass er mehrere Jahre lang im Geheimen eine homosexuelle Beziehung geführt habe. Als diese Beziehung publik geworden sei, sei er von ihm Unbekannten mit einem Messer am Oberkörper verletzt worden und es sei auch versucht worden, seinen Penis abzuschneiden. In Nigeria würde man für die homosexuelle Orientierung mit dem Tod bestraft werden und er befürchte, im Falle einer Rückkehr nach Nigeria eingesperrt oder getötet zu werden.

Mit Bescheid vom 3. Dezember 2013 wies das Bundesasylamt (nunmehr: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) den Antrag I. auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) sowie II. auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab und wies III. den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria aus.

Dagegen erhob der Revisionswerber mit Schriftsatz vom 17. Dezember 2013 Beschwerde an den Asylgerichtshof.

Das Verfahren über die Beschwerde wurde gemäß § 75 Abs. 19 AsylG 2005 ab 1. Jänner 2014 vom Bundesverwaltungsgericht zu Ende geführt.

Mit Schreiben vom 21. Jänner 2015 wurde dem Bundesverwaltungsgericht eine psychiatrische Stellungnahme vom 14. Jänner 2015 übermittelt, wonach der psychische Zustand des Revisionswerbers besorgniserregend sei und er "scheinbar" an den Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung mit ausgeprägten Symptomen einer Dissoziation leide; die Begutachtung durch einen gerichtlich beeideten Psychiater werde empfohlen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 als unbegründet ab (Spruchpunkt A. I), verwies das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurück (Spruchpunkt A. II) und sprach aus, dass die Revision gegen diese Entscheidung gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B. III).

Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, das Fluchtvorbringen sei nicht glaubhaft, weil der Revisionswerber widersprüchliche Angaben dazu gemacht habe, "von welcher Seite" und wo der fluchtauslösende Angriff auf den Revisionswerber nach der Entdeckung der homosexuellen Neigung stattgefunden habe bzw. wann der Revisionswerber Nigeria verlassen habe.

Der Revisionswerber habe aufgrund grundlegender Widersprüche in seinem Fluchtvorbringen eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Bezüglich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führte das Bundesverwaltungsgericht aus, es lägen keine Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage im Herkunftsstaat des Revisionswerbers vor und auch die Todesstrafe werde nicht praktiziert. Der Revisionswerber sei ein arbeitsfähiger Mann, dem es bei einer Rückkehr möglich sei, für sich selbst zu sorgen und es wären im Verfahren auch keine krankheitsbedingten Abschiebehindernisse hervorgekommen.

Zum Ausspruch über die Unzulässigkeit einer Revision im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG führte das Bundesverwaltungsgericht aus, die Entscheidung hänge nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung ab. Zwar sei die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen, sie sei jedoch auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben sowie Teilen der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die Revision macht zur Zulässigkeit der Revision u. a. geltend, das Verfahren hänge von der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ab, weil in grober Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - hingewiesen wird u. a. auf das Erkenntnis vom 15. März 2010, 2006/01/0355 - kein Sachverständigengutachten aus dem Fach der Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie hinsichtlich der Traumatisierung des Revisionswerbers eingeholt worden sei.

Das Bundesverwaltungsgericht habe die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise vorgenommen, weil es im Rahmen der Beweiswürdigung Beweismittel, wie etwa ein vorgelegtes hausärztliches Attest und die Stellungnahme einer namentlich genannten Psychotherapeutin, außer Acht gelassen habe.

Unabhängig davon hätte das Bundesverwaltungsgericht, auch wenn es dem Fluchtgeschehen keinen Glauben schenkt, davon ausgehen müssen, dass der Revisionswerber zur sozialen Gruppe der "gefährdeten Homosexuellen in Nigeria" gehöre. Es sei nicht zumutbar, dass der Revisionswerber seine sexuellen Neigungen in Nigeria verheimliche, um einer Verhaftung und Bestrafung zu entgehen.

Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.

Im vorliegenden Fall brachte der Revisionswerber mit Schreiben vom 27. Dezember 2014 eine Stellungnahme ein, die das Unvermögen einer detailreichen Darstellung des Fluchtgeschehens auf das mögliche Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung zurückführte. Mit Schriftsatz vom 14. Jänner 2015 brachte darüber hinaus eine namentlich bezeichnete Psychotherapeutin dem Bundesverwaltungsgericht zur Kenntnis, dass der psychische Zustand des Revisionswerbers besorgniserregend sei. Der Revisionswerber leide "scheinbar" an den Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung mit "ausgeprägten Symptomen einer Dissoziation". Er schalte ab, wenn er nach Erlebnissen und Vorfällen in seiner Vergangenheit befragt werde und er mache zu, "um dem Schrecklichen in seinen Erinnerungen nicht begegnen zu müssen". Schließlich werde aus psychotherapeutischer Sicht eine Begutachtung durch einen gerichtlich beeideten Psychiater empfohlen.

Demgegenüber traf das Bundesverwaltungsgericht keine Feststellungen zum psychischen Gesundheitszustand des Revisionswerbers und ging in seiner Beweiswürdigung auch nicht auf das mögliche Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung ein. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, dass zwar psychische Probleme des Revisionswerbers vorgebracht worden seien, doch ließen sich daraus keine "außergewöhnlichen Umstände" im Sinn der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK erkennen, die einer Rückkehr des Revisionswerbers in seinen Herkunftsstaat entgegen stehen würden und es lägen keine krankheitsbedingten Abschiebehindernisse vor.

Der Verwaltungsgerichtshof hat zu dem gemäß § 17 VwGVG auch von den Verwaltungsgerichten anzuwendenden § 45 Abs. 2 AVG (vgl. den hg. Beschluss vom 18. Juni 2014, Ra 2014/01/0032) ausgesprochen, dass der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht bedeutet, dass der in der Begründung der (nunmehr verwaltungsgerichtlichen) Entscheidung niederzulegende Denkvorgang der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine Kontrolle in der Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. das hg. Erkenntnis vom 24. September 2014, Ra 2014/03/0012).

Vor diesem Hintergrund ist die Beweiswürdigung im angefochtenen Erkenntnis mangelhaft geblieben, weil das Bundesverwaltungsgericht - trotz konkreter Hinweise und eines ausdrücklichen und auch substantiierten Vorbringens zum Bestehen einer posttraumatischen Belastungsstörung - in seinen Erwägungen auf den psychischen Gesundheitszustand des Revisionswerbers überhaupt nicht eingegangen ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass psychische Erkrankungen im Hinblick auf konstatierte Unstimmigkeiten im Aussageverhalten zu berücksichtigen sind (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 15. März 2010, 2006/01/0355, mwN).

Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 19. November 2015

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