VwGH Ra 2015/18/0004

VwGHRa 2015/18/000425.3.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Klammer, über die Revisionen der revisionswerbenden Partei 1. E H, 2. Ü H, 3. R H, 4. H H, alle in G und vertreten durch Kocher & Bucher Rechtsanwälte GmbH in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Dezember 2014, Zlen. L518 1438461-2/10E (zu 1.), L518 1438462-2/7E (zu 2.), L518 1438463-2/6E (zu 3.) und L518 2010271-1/6E (zu 4.), betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §34 Abs4;
AsylG 2005 §8 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §34 Abs4;
AsylG 2005 §8 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24;

 

Spruch:

Das erstangefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die übrigen angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der erstrevisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 und den zweit- bis viertrevisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I. Sachverhalt und Revisionsverfahren:

1. Die revisionswerbenden Parteien sind Angehörige einer Familie bestehend aus den Eltern (dem Erstrevisionswerber und der Zweitrevisionswerberin) und zwei minderjährigen Söhnen (dem Dritt- und dem Viertrevisionswerber); alle sind Staatsangehörige Aserbaidschans und gehören zur muslimisch-schiitischen Glaubensgemeinschaft.

Sie beantragten internationalen Schutz in Österreich und brachten zusammengefasst vor, der Erstrevisionswerber werde im Herkunftsstaat wegen der Teilnahme an regierungskritischen Demonstrationen von der Polizei verfolgt. Er sei vor seiner Flucht im Jahr 2012 wiederholt festgenommen und seine Wohnung sei nach Waffen durchsucht worden. Auch bei Rückkehr nach Aserbaidschan fürchte er die Festnahme durch die Sicherheitsbehörden.

2. Mit Bescheiden vom 3. Juli 2014 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im zweiten Verfahrensgang die Anträge der revisionswerbenden Parteien gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 und § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung nach Aserbaidschan gemäß § 46 FPG zulässig sei.

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, das Fluchtvorbringen des Erstrevisionswerbers sei nicht glaubhaft. Seine Angaben zu den Fluchtgründen seien vage geblieben. Er habe beispielsweise nicht genau angeben können, wann und wie oft er von der Polizei festgenommen worden sei. Überdies habe es (etwa im Zusammenhang mit dem Datum der Ausstellung des Reisepasses oder der Anzahl der erfolgten Festnahmen) Widersprüche zur Aussage der Zweitrevisionswerberin gegeben.

3. In der gegen die erstinstanzlichen Bescheide erhobenen gemeinsamen Beschwerde beantragten die revisionswerbenden Parteien die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) und traten den beweiswürdigenden Erwägungen des BFA entgegen. Unter anderem setzten sie sich mit dem Argument der Behörde, der Erstrevisionswerber habe die Zeitpunkte und die Anzahl seiner Festnahmen nicht genau angeben können und es habe Widersprüche zu den Aussagen der Zweitrevisionswerberin gegeben, kritisch auseinander und sie versuchten, diese Ungereimtheiten auszuräumen. Überdies wurde vorgebracht, dass die aserbaidschanischen Sicherheitsbehörden den Erstrevisionswerber auch nach seiner Flucht aus dem Heimatland gesucht hätten.

4. Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das BVwG die Beschwerden ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revisionen an den Verwaltungsgerichtshof für nicht zulässig.

Zu den behaupteten Ausreisegründen aus dem Herkunftsstaat traf das BVwG lediglich folgende (relevante) Feststellungen (bP steht im folgenden Zitat für "beschwerdeführende Parteien"):

"Es konnte nicht festgestellt werden, dass den bP in ihrem Heimatland Aserbaidschan eine begründete Furcht vor einer asylrelevanten Verfolgung droht. Ebenso konnte unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle einer Rückkehr nach Aserbaidschan der Gefahr einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt wären.

(...)

Weitere Ausreisegründe und/oder Rückkehrhindernisse kamen bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht hervor."

Im Rahmen der Beweiswürdigung setzte sich das BVwG ausführlich mit den Angaben des Erstrevisionswerbers und der Zweitrevisionswerberin vor dem BFA auseinander und gelangte - auch unter Vornahme eigener ergänzender beweiswürdigender Erwägungen - zu dem Ergebnis, dass den revisionswerbenden Parteien "die Glaubhaftmachung des behauptetermaßen ausreisekausalen Sachverhalts" nicht gelungen sei. Selbst bei Wahrunterstellung des Vorbringens könne nicht festgestellt werden, dass der Erstrevisionswerber bei Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer weiteren aktuellen Gefahr von Übergriffen zu rechnen hätte. Hier werde auf die "bereits getroffenen Feststellungen verwiesen". Es sei auch darauf hinzuweisen, dass die geschilderten Beeinträchtigungen selbst im Falle der Annahme, dass der Erstrevisionswerber tatsächlich ein paar Mal im Rahmen von Demonstrationen festgenommen worden wäre, wobei exzessive Gewaltanwendung keinesfalls angenommen werden könne, nicht die zur Gewährung von Asyl erforderliche Intensität erreicht hätten.

Eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt auf Grund der Aktenlage und des Inhaltes der Beschwerde geklärt gewesen sei.

5. Gegen diese Erkenntnisse wenden sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen, in denen zur Zulässigkeit und in der Sache (unter anderem) vorgebracht wird, das BVwG sei von der - näher bezeichneten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen, weil es trotz substantiierter Bekämpfung der erstinstanzlichen Beweiswürdigung seitens der revisionswerbenden Parteien ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden habe.

6. Das BFA nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand, beantragte jedoch, die Revisionen abzuweisen.

II. Erwägungen:

1. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revisionen wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden.

  1. 2. Die Revisionen sind zulässig und begründet.
  2. 3. Zu Recht weisen die Revisionen darauf hin, dass die Bestreitung der erstinstanzlichen Beweiswürdigung in der Beschwerde an das BVwG nicht bloß unsubstantiiert erfolgt ist. Das BVwG hätte deshalb nicht nur aufgrund der Aktenlage entscheiden dürfen, sondern es hätte nach den Kriterien der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes seit dem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, auf dessen Gründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, die beantragte mündliche Verhandlung durchführen müssen (vgl. etwa auch VwGH vom 13. November 2014, Ra 2014/18/0035 und Ra 2014/18/0061, vom 10. Dezember 2014, Ra 2014/18/0056, 0057, und vom 28. Jänner 2015, Ra 2014/18/0097). Die Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG lagen somit nicht vor, weshalb die angefochtenen Erkenntnisse keinen Bestand haben können.

    4. An diesem Ergebnis ändert auch die Hilfsbegründung des BVwG, selbst bei Wahrunterstellung drohe den revisionswerbenden Parteien im Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung, nichts:

    Das BVwG hat sich in seinen Feststellungen zu den Ausreisegründen auf die sinngemäße Wiedergabe der "verba legalia" des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention beschränkt. Es hat jedoch keine Sachverhaltsfeststellungen getroffen, aus denen abgeleitet werden könnte, dass dem Erstrevisionswerber ungeachtet seiner Teilnahme an regierungskritischen Demonstrationen, trotz bereits erfolgter polizeilicher Festnahmen und trotz der in der Beschwerde behaupteten andauernden Suche der Sicherheitsbehörden nach ihm keine Verfolgungsgefahr mehr drohen würde. Es ist auch nicht zu erkennen, worauf das BVwG seine Einschätzung stützen möchte, dass die vom Erstrevisionswerber behaupteten polizeilichen Gewaltakte gegen seine Person (Zitat aus seiner erstinstanzlichen Aussage vom 16. September 2013: "Ich wurde mehrmals von der Polizei festgenommen, geschlagen und für drei bis vier Tage festgehalten") die für die Annahme einer asylrelevanten Verfolgung erforderliche Intensität nicht erreicht haben, weil - wie das BVwG unbegründet vermeint - "exzessive Gewaltanwendung keinesfalls angenommen werden" könne. Ausgehend davon trägt die Hilfsbegründung die angefochtenen Entscheidungen nicht.

    5. Das erstangefochtene Erkenntnis leidet daher an einem wesentlichen Verfahrensmangel und war gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

    6. Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. etwa VwGH vom 13. November 2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016, 0083). Die übrigen angefochtenen Erkenntnisse waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

    7. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

    Wien, am 25. März 2015

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