Normen
ASVG §4 Abs2;
B-VG Art133 Abs4;
MRK Art6;
VwGVG 2014 §44;
VwGVG 2014 §48;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2015:RA2015080124.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
Mit Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien vom 5. März 2014 wurde der Mitbeteiligte gemäß § 33 Abs. 1 ASVG iVm § 111 Abs. 1 Z 1 ASVG iVm § 9 Abs. 1 VStG mit einer Geldstrafe von EUR 2.500,-- (Ersatzfreiheitsstrafe von einer Woche) bestraft, weil er es als handelsrechtlicher Geschäftsführer und somit als gemäß § 9 Abs. 1 VStG zur Vertretung nach außen Berufener der D. GmbH in Wien zu verantworten habe, dass diese Gesellschaft als Dienstgeberin es unterlassen habe, den von ihr zumindest am 18. Juni 2013 in Wien beschäftigten, nach dem ASVG in der Krankenversicherung pflichtversicherten M. Y. vor Arbeitsantritt beim zuständigen Krankenversicherungsträger anzumelden. M. Y. sei von der Finanzpolizei am 18. Juni 2013 schon einige Zeit vor der Kontrolle beim Hantieren mit Erdbeerkisten hinter dem Verkaufsstand der D. GmbH beobachtet worden. Die Kontrollorgane des Finanzamtes hätten bereits aus der Ferne beobachtet, wie er mit den Erdbeerkisten hinter dem Verkaufsstand hantierte. Das Vorbringen des Mitbeteiligten, M. Y. sei nur als Kunde der D. GmbH aufgetreten und habe die Qualität der Ware geprüft, sei nicht glaubwürdig, weil M. Y. die Frage, für wen er arbeite und Obst und Gemüse hole, nicht habe beantworten können.
Gegen das Straferkenntnis des Magistratischen Bezirksamtes erhob der Mitbeteiligte am 1. April 2014 Beschwerde an das Verwaltungsgericht, in der er insbesondere den Antrag stellte, das angefochtene Erkenntnis "nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung" ersatzlos zu beheben und das Verfahren einzustellen.
Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht der gegen das genannte Straferkenntnis erhobenen Beschwerde gemäß § 50 VwGVG Folge gegeben, das Straferkenntnis behoben und das Verfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 1 VStG eingestellt. Die ordentliche Revision wurde für unzulässig erklärt. Auf Grund der "aufgenommenen Beweise" nehme es als erwiesen an, dass sich M. Y. zum Zeitpunkt der Kontrolle am 18. Juni 2013 gegen 07:50 Uhr hinter dem Obst- und Gemüsestand der D. GmbH befunden und dort mit Erdbeerkisten hantiert habe. In rechtlicher Hinsicht erscheine ihm unklar, "wie einzig aus dem Hantieren mit einer Erdbeerkiste hinter einem Verkaufsstand auf ein Dienstverhältnis iSd ASVG geschlossen werden kann". Die Kontrollorgane hätten nicht wahrgenommen, dass M. Y. mit Kunden in Kontakt getreten sei. Es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass sich Kundschaft hinter den Verkaufsstand begebe, um die Qualität der Ware zu prüfen. Aus dem Umstand, dass M. Y. nicht bekannt gegeben habe, für wen er arbeite bzw. für wen er das Obst hole, könne nicht auf ein Dienstverhältnis zwischen ihm und der betreffenden Gesellschaft geschlossen werden. Der mitbeteiligten Partei könne eine Verwaltungsübertretung nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden. Das Verwaltungsstrafverfahren sei einzustellen.
Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Amtsrevision.
Die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde hat eine "Revisionsbeantwortung" erstattet, in der sie die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt. Die mitbeteiligte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung die Abweisung der Revision.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Das revisionswerbende Finanzamt macht geltend, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es die aus § 44 VwGVG resultierende Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung verletzt habe. Es sei - ohne sich durch Vernehmung von Zeugen und Parteien selbst ein Bild zu machen und weiteres Gehör einzuräumen - zum Ergebnis gekommen, die dem Mitbeteiligten zur Last gelegte Tat könne nicht erwiesen werden.
2. Aus dem vorgelegten Gerichtsakt ergibt sich, dass das Verwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung für den 19. Juni 2015, 9:00 Uhr, für eine voraussichtliche Verhandlungsdauer von drei Stunden ausgeschrieben hatte und dazu neben dem Mitbeteiligten sieben Zeugen geladen hatte. Am 19. Juni 2015 beraumte das Verwaltungsgericht die für den 19. Juni 2015 angesetzte Verhandlung wieder ab und stellte das Strafverfahren ohne weitere Beweisaufnahme ein.
3. Der Verfahren in Verwaltungsstrafsachen betreffende
§ 44 VwGVG lautet samt Überschrift:
"Verhandlung
§ 44. (1) Das Verwaltungsgericht hat eine öffentliche
mündliche Verhandlung durchzuführen.
(2) Die Verhandlung entfällt, wenn der Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
(3) Das Verwaltungsgericht kann von einer Verhandlung absehen, wenn
1. in der Beschwerde nur eine unrichtige rechtliche Beurteilung behauptet wird oder
2. sich die Beschwerde nur gegen die Höhe der Strafe richtet oder
3. im angefochtenen Bescheid eine 500 Euro nicht übersteigende Geldstrafe verhängt wurde oder
4. sich die Beschwerde gegen einen verfahrensrechtlichen Bescheid richtet und keine Partei die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat. Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.
(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn es einen Beschluss zu fassen hat, die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Sache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.
(5) Das Verwaltungsgericht kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.
(6) Die Parteien sind so rechtzeitig zur Verhandlung zu laden, dass ihnen von der Zustellung der Ladung an mindestens zwei Wochen zur Vorbereitung zur Verfügung stehen."
Diese Bestimmung verankert im verwaltungsgerichtlichen Verfahren in Strafsachen das Unmittelbarkeitsprinzip als idR unverzichtbaren Bestandteil eines fairen Verfahrens iSd Art. 6 EMRK.
3. Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG können nicht nur solche des materiellen, sondern auch des Verfahrensrechtes sein. Eine solche Bedeutung kommt der Entscheidung jedenfalls dann zu, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechtes auf dem Spiel stehen(vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. November 2014, Ra 2014/07/0052, mwN).
Die Verletzung der Verhandlungspflicht bzw. des Unmittelbarkeitsgrundsatzes stellt einen Verstoß gegen tragende Verfahrensgrundsätze bzw. eine konkrete schwerwiegende Verletzung von Verfahrensvorschriften und damit eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung dar. Die Revision ist zulässig.
4. Das Verwaltungsgericht hat die anlässlich der Kontrolle durch die Finanzpolizei hervorgekommene Situation - ohne eigene Beweisaufnahme - dahin interpretiert bzw. rechtlich gewürdigt, dass sich daraus das Vorliegen eines der Krankenversicherungspflicht unterliegenden Dienstverhältnisses angeblich (von vornherein) nicht ableiten lasse. Das zu beurteilen kommt ihm aber erst nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu, zumal Situationen, wie die zur Rede stehende, gerade in Ermangelung nachweislich dagegen sprechender Umstände selbstverständlich darauf schließen lassen könnten, dass der Betreffende in den Betrieb des Unternehmens eingebunden ist und manuelle Hilfsarbeiten verrichtet. Ob dieser Schluss sachlich und rechtlich gerechtfertigt ist, darf das Verwaltungsgericht aber nur nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und der gebotenen Beweisaufnahmen im Einklang mit den Erfordernissen des Art. 6 EMRK beurteilen. Im Übrigen wird sich das Verwaltungsgericht mit der Tragweite der prozessualen Erklärung des Mitbeteiligten vom 3. Juni 2015 auseinanderzusetzten haben.
5. Das angefochtene Erkenntnis war gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 4. November 2015
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