VwGH 98/08/0130

VwGH98/08/013020.10.1998

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Knell und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Novak, Dr. Sulyok und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde des N in T, vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11, gegen den aufgrund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Oberösterreich vom 24. März 1998, Zl. 4/1288/Nr. 0030/98-1, betreffend Anspruch auf Arbeitslosengeld, zu Recht erkannt:

Normen

11994N002 EU-Beitrittsvertrag Akte Art2;
21964A1229(01) AssAbk Türkei ;
61989CJ0192 Sevince VORAB;
61995CJ0171 Recep Tetik VORAB;
AlVG 1977 §7 Abs3 Z1;
AlVG 1977 §7 Abs3 Z2;
AlVG 1977 §7 Abs4;
ARB1/80 Art6 Abs1;
ARB1/80 Art6 Abs2;
ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
AufG 1992 §1 Abs3 Z1;
AuslBG §1 Abs3;
EURallg;
11994N002 EU-Beitrittsvertrag Akte Art2;
21964A1229(01) AssAbk Türkei ;
61989CJ0192 Sevince VORAB;
61995CJ0171 Recep Tetik VORAB;
AlVG 1977 §7 Abs3 Z1;
AlVG 1977 §7 Abs3 Z2;
AlVG 1977 §7 Abs4;
ARB1/80 Art6 Abs1;
ARB1/80 Art6 Abs2;
ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
AufG 1992 §1 Abs3 Z1;
AuslBG §1 Abs3;
EURallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 15.000,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen, angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers (eines türkischen Staatsbürgers) auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld vom 14. November 1997 abgewiesen.

Dabei ging die belangte Behörde von folgendem Sachverhalt aus:

Der Beschwerdeführer besitze eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung ab 12. Oktober 1993 als Pensionist. Mit Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 23. August 1996 sei ihm die Invaliditätspension mit Ablauf des Monats September 1996 entzogen worden. Ein neuer Pensionsantrag sei nicht gestellt worden. In seiner Berufung habe der Beschwerdeführer dagegen eingewendet, er sei "jahrelang in Österreich als Arbeitnehmer tätig gewesen" und hätte bis Juli 1993 Arbeitslosengeld bezogen. Danach sei er wegen Invalidität pensioniert worden und diese Pension sei mit Ablauf des September 1996 entzogen worden. Aufgrund der Invaliditätspension besitze er eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung zum Zwecke der Pension. Nach teilweiser Wiedergabe des Wortlautes § 7 AlVG begründet die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid sodann im wesentlichen damit, daß Anspruch auf Arbeitslosengeld gemäß § 7 AlVG nur habe, wer der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehe, d.h. u.a. eine Beschäftigung aufnehmen dürfe. Da der Beschwerdeführer in Österreich keine unselbständige Erwerbstätigkeit ausüben dürfe, stehe er dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung und habe daher keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Der Beschwerdeführer beruft sich in seiner Beschwerde vor allem darauf, daß er in den Anwendungsbereich des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80, ergangen zum Assoziationsabkommen EWG/Türkei falle und daher in Österreich - ungeachtet des in seiner Niederlassungsbewilligung aufscheinenden Aufenthaltszwecks "Pension" - zur Arbeitsaufnahme berechtigt sei.

Mit diesem Vorbringen ist der Beschwerdeführer im Ergebnis im Recht:

Es ist aktenkundig, daß der Beschwerdeführer türkischer Staatsangehöriger ist und - nach einer im Akt liegenden Versicherungsbestätigung der oberösterreichischen Gebietskrankenkasse - zumindest vom 7. April 1986 bis 26. Februar 1993 bei ein und dem selben Unternehmen in Österreich beschäftigt gewesen ist. Am 18. März 1993 wurde ihm für den Zeitraum vom 1. März 1993 bis 26. Juli 1993 Arbeitslosengeld zuerkannt.

Bei der neuerlichen Antragstellung vom 14. November 1997 legte der Beschwerdeführer einen Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 23. August 1996 vor, mit welchem ihm die Invaliditätspension mit Ablauf des Monats September 1996 entzogen wurde.

Der Beginn des Pensionsanspruches ist nicht aktenkundig.

Gemäß Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, gestützt auf das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (in der Folge: ARB 1/80), hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.

Gemäß Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 werden der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschutz, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.

Der genannte Assoziationsratsbeschluß ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Teil des Gemeinschaftsrechts (EuGH Rs 12/86, Demirel, Slg. 1987, 3747). Art. 6 hat unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten (EuGH C 192/89 , Sevince, Slg. 1990, I-3497). Dem Recht zur Arbeitsaufnahme folgt ein entsprechendes Aufenthaltsrecht, auf welches sich der betreffende Arbeitnehmer unmittelbar berufen kann (EuGH, C 237/91 , Kus, Slg. 1992, I-1).

Auch nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der ARB 1/80 seit Österreichs Beitritt zur Europäischen Union in Österreich unmittelbar anwendbar (vgl. das Erkenntnis vom 25. Juni 1996, Zl. 96/09/0088). Ein aufgrund des Abkommens unmittelbar zur Beschäftigung Berechtigter bedarf hiezu auch keiner Bewilligung nach dem Aufenthaltsgesetz (Erkenntnis vom 22. Februar 1996, Zl. 95/19/1661). Der Inhalt des Aufenthaltsrechtes gestaltet sich daher nach dem Inhalt der Assoziationsfreizügigkeit und nicht umgekehrt (so auch Pflegerl, ecolex 1996, 777).

Die - im Lichte der Ausführungen in der Gegenschrift der belangten Behörde - dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegende Auffassung, es komme auf die Frage der Assoziationsfreizügigkeit des Beschwerdeführers im Hinblick auf seine eingeschränkte Beschäftigungsbewilligung als "Pensionist" nicht an, erweist sich daher als schon im Ansatz verfehlt.

Zu untersuchen ist hingegen, welche Bedeutung dem (offenbar mehrjährigen) Invaliditätspensionsbezug des Beschwerdeführers für die Frage seiner - zuvor offenbar gegebenen - Anspruchsberechtigung nach dem ARB 1/80 zukommt. Wie der Europäische Gerichtshof in einem Urteil vom 6. Juni 1995 (C 434/93 , Bozkurt, Slg. 1995, I-1), ausgeführt hat, bezieht sich Art. 6 ARB 1/80 nicht auf die Lage eines türkischen Staatsangehörigen, der aus dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates wegen Erreichung des Rentenalters oder wegen dauernder Arbeitsunfähigkeit ausgeschieden ist. In seinem Urteil vom 23. Jänner 1997 (C 171/95 , Tetik, Slg. 1997, I-356), hat der Europäische Gerichtshof (ebenso wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 19. November 1997, Zl. 97/09/0261) ausgeführt, daß auch nach dem Ausscheiden aus der Beschäftigung dem Berechtigten für eine angemessene Zeit der Arbeitssuche ein Aufenthaltsrecht zusteht, um eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu suchen, soferne er weiterhin dem regulären Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaates angehört, wobei er gegebenenfalls den Vorschriften der in diesem Staat insoweit geltenden Regelungen nachzukommen hat, z.B. dadurch, daß er sich als Arbeitssuchender meldet und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung steht.

Nach der eingangs zitierten Regelung des Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 zählt die Abwesenheit vom Arbeitsmarkt "wegen langer Krankheit" zwar nicht zu den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung, berührt jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche. Im Beschwerdefall steht fest, daß der Beschwerdeführer (anders als im Fall Bozkurt) nicht auf Dauer, sondern nur vorübergehend krankheitsbedingt aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden ist. Der Zeitraum des krankheitsbedingten vorübergehenden Ausscheidens aus dem Arbeitsmarkt einschließlich eines vorübergehenden Bezugs der Invaliditätspension hat daher seine Ansprüche, die er aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit offenbar gemäß Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich des ARB 1/80 erworben hat, nicht berührt, sodaß ihm auch weiterhin - und unbeschadet seiner Aufenthaltsbewilligung als "Pensionist" - ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 (bzw. nach der dazu ergangenen Rechtsprechung des EuGH) auch während des Bezuges der Invaliditätspension zukam.

Die im Beschwerdefall maßgebende Frage, ob dem Beschwerdeführer diese Rechte auch nach dem Entzug der Invaliditätspension zustehen, ist zu bejahen, weil der Beschwerdeführer dadurch in den Stand der Arbeitslosigkeit zurückgetreten ist und diese - aus der Entziehung einer Pensionsleistung entstehende - Arbeitslosigkeit als unverschuldet angesehen werden muß. Gem. Art 6 Abs. 2 zweiter Satz ARB 1/80 berühren aber Zeiten der unverschuldeten Arbeitslosigkeit (ebensowenig wie Zeiten langer Krankheit) nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche. Der Beschwerdeführer kann sich daher während der Dauer der unverschuldeten Arbeitslosigkeit auf die ihm

gem. Art 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich ARB 1/80 zustehenden Rechte berufen.

Anders als die belangte Behörde meint, ist der Beschwerdeführer daher - soweit die noch zu klärende Anspruchsberechtigung nach Art 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich des ARB 1/80 weiterhin vorliegt - berechtigt, in Österreich eine unselbständige Erwerbstätigkeit auszuüben. Er durfte sich nach dem Gesagten jedenfalls zur Arbeitssuche, gegebenenfalls aber auch zur Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in Österreich aufhalten.

Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 3 Z. 1 und 2 AlVG in der hier noch anzuwendenden Fassung vor Inkrafttreten des Art. II des Bundesgesetzes, mit dem das Ausländerbeschäftigungsgesetz und das Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 geändert werden, BGBl. Nr. 78/1997 (§ 7 in dieser Fassung ist gemäß § 79 Abs. 40 AlVG erst mit 1. Jänner 1998 in Kraft getreten) liegen daher vor, weil nach dem Zweck dieser Bestimmungen nur ein bestehendes Vermittlungshindernis einen Ausschluß vom Leistungsbezug nach sich ziehen soll, ein solches Vermittlungshindernis aber nach der dargelegten Rechtslage nicht besteht.

Im Hinblick darauf, daß der Gesetzgeber in § 7 Abs. 4 AlVG mögliche andere als die dort aufgezählten Aufenthaltstitel nicht bedacht hat (vgl. dazu schon das hg. Erkenntnis vom 12. Mai 1998, Zl. 98/08/0033), kommt auch dem Umstand keine Bedeutung zu, daß ein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht, welches sich aus Art 6 des ARB 1/80 ergibt, in dieser Aufzählung nicht erwähnt ist.

Unter der Annahme, daß dem Beschwerdeführer Rechte im Sinne des Art 6 Abs. 1dritter Gedankenstrich des ARB 1/80 zustehen, hatte er daher auch - bei Vorliegen aller übrigen Voraussetzungen - ab 14. November 1997 Ansprüche auf Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung.

Da die belangte Behörde - ausgehend von ihrer unzutreffenden Rechtsauffassung - das Vorliegen der genannten gemeinschaftsrechtlichen Voraussetzungen nicht geprüft hat, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i.V.m. der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 20. Oktober 1998

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