VwGH 86/08/0016

VwGH86/08/001626.5.1986

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident DDr. Heller und die Hofräte Dr. Knell und Dr. Puck als Richter, im Beisein des Schriftführers Rat Dr. Novak, über die Beschwerde des Dipl.-Ing. JR in W, vertreten durch Dr. Karl Schleinzer, Rechtsanwalt in Wien I, Führichgasse 6, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 18. Juli 1985, Zl. MA 63-R 22/84/Str, betreffend Übertretung des Arbeitnehmerschutzgesetzes, zu Recht erkannt:

Normen

ArbIG 1974 §6 Abs3;
ArbIG 1974 §8 Abs5;
ArbIG 1974 §9;
AVG §10 Abs1;
AVG §10 Abs2;
AVG §13 Abs3;
AVG §62 Abs1;
AVG §63 Abs5;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1986:1986080016.X00

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für soziale Verwaltung) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 8.300,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1.1. Mit Berufungsbescheid vom 18. Juli 1985 bestätigte der Landeshauptmann von Wien das vom Beschwerdeführer in Berufung gezogene Straferkenntnis des Magistratischen Bezirksamtes für den 4./5. Bezirk in Wien vom 7. Mai 1984, mit der Ergänzung, daß der Beschwerdeführer die im einzelnen genannten Übertretungen des Arbeitnehmerschutzgesetzes nicht nur als Bevollmächtigter des Arbeitgebers "I Ges.m.b.H. & Co. KG", sondern auch als deren zur Vertretung nach außen Berufener im Sinne des § 9 Abs. 1 VStG begangen habe. Nach der Begründung dieses Bescheides sei der Vertreter des Beschwerdeführers im erstinstanzlichen Strafverfahren mit der Vollmacht der Kommanditgesellschaft eingeschritten, die ihn wohl zur Vertretung dieser Gesellschaft, nicht aber zur Vertretung des Berufungswerbers persönlich berechtigt habe. Die Zustellung des Straferkenntnisses erster Instanz an den Vertreter (den nunmehrigen Beschwerdevertreter) am 6. Juni 1984 sei daher durch § 9 Abs. 1 des Zustellgesetzes nicht gedeckt und somit rechtsunwirksam gewesen. Über die hierauf am 20. Juni 1984 (vom rechtsfreundlichen Vertreter namens des Beschwerdeführers) eingebrachte Berufung sei zwar nicht innerhalb der Jahresfrist des § 51 Abs. 5 VStG 1950 in der Fassung BGBl. Nr. 299/1984 entschieden worden, doch habe die in dieser Bestimmung für die Versäumung der Jahresfrist vorgesehene Rechtsfolge, daß der angefochtene Bescheid als aufgehoben gelte und das Verfahren einzustellen sei, nicht eintreten können, weil das erstinstanzliche Straferkenntnis mangels rechtswirksamer Zustellung oder mündlicher Verkündung noch gar nicht im Sinne des § 62 Abs. 1 AVG 1950 erlassen gewesen sei. Nachdem der Vertreter des Beschwerdeführers eine von diesem persönlich unterfertigte Vollmacht vorgelegt gehabt habe, sei ihm das erstinstanzliche Straferkenntnis am 26. Juni 1985 neuerlich, und zwar rechtswirksam, zugestellt worden. Erst mit der neuerlichen Einbringung der Berufung am 9. Juli 1985 sei die Jahresfrist des § 51 Abs. 5 VStG 1950 in Lauf gesetzt worden. Diese Frist sei somit noch offen.

Im übrigen wird ausgeführt, warum nach Ansicht der belangten Behörde die Bestrafung des Beschwerdeführers zu Recht erfolgt sei.

1.2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof, in der Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden. Die belangte Behörde übersehe, daß jedenfalls allfällige Zustellungsmängel des erstinstanzlichen Bescheides gemäß § 7 des Zustellgesetzes geheilt worden seien, da das Schriftstück dem Empfänger, dem Beschwerdeführer, durch seinen Vertreter tatsächlich zugekommen sei. Sohin sei auch die erste Zustellung vom 5. Juni 1984 rechtswirksam erfolgt. Gemäß § 6 des Zustellgesetzes sei die erste Zustellung maßgebend, wenn ein Schriftstück mehrmals zugestellt werde. Die zweite Zustellung des Straferkenntnisses an den Beschwerdeführer habe nicht die Rechtswirkung verhindern können, daß der erstinstanzliche Strafbescheid gemäß § 51 Abs. 5 als aufgehoben gelte. Obwohl § 13 Abs. 3 AVG die Behebung von Formgebrechen schriftlicher Eingaben von Amts wegen vorsehe, habe die belangte Behörde eine Vollmachtsvorlage für die Berufung nicht aufgetragen, sondern nach Vollmachtsvorlage durch den Beschwerdevertreter am 24. Mai 1985 das Straferkenntnis erster Instanz erneut zugestellt, wodurch der Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt worden sei.

Im übrigen sei dem Beschwerdeführer die Einvernahme des Zeugen Ing. V im Berufungsverfahren zur Frage der Verantwortlichkeit für die Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften auf der Baustelle nicht zur Kenntnis gebracht worden, sodaß er keine Gelegenheit gehabt habe, sich zu dieser Erhebung zu äußern.

1.3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet.

 

2.0. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

2.1. § 10 Abs. 2 AVG 1950 lautet:

"Inhalt und Umfang der Vertretungsbefugnis richten sich nach den Bestimmungen der Vollmacht; hierüber auftauchende Zweifel sind nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechtes zu beurteilen. Die Behörde hat die Behebung etwaiger Mängel unter sinngemäßer Anwendung der Bestimmungen des § 13 Abs. 3 von Amts wegen zu veranlassen."

§ 13 Abs. 3 AVG 1950 bestimmt:

"Formgebrechen schriftlicher Eingaben wie auch das Fehlen einer Unterschrift berechtigen an sich die Behörde noch nicht zur Zurückweisung; sie hat deren Behebung von Amts wegen zu veranlassen und kann dem Einschreiter die Behebung der

Formgebrechen ..... mit der Wirkung auftragen, daß das Anbringen

nach fruchtlosem Ablauf einer gleichzeitig zu bestimmenden Frist nicht mehr berücksichtigt wird. Wird das Formgebrechen rechtzeitig behoben, so gilt das Anbringen als ursprünglich richtig eingebracht."

Gemäß § 62 Abs. 1 AVG 1950 können Bescheide sowohl schriftlich als auch mündlich erlassen werden, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist. Gemäß § 63 Abs. 5 zweiter Satz AVG 1950 beginnt die Berufungsfrist für jede Partei mit der an sie erfolgten Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des Bescheides, im Falle bloß mündlicher Verkündung mit dieser.

2.2. In einer Reihe von Entscheidungen hat sich der Verwaltungsgerichtshof mit der Frage befaßt, ob bereits vor Bescheiderlassung, verstanden als Verkündung oder Zustellung des Bescheides, somit "vorzeitig" zulässigerweise Berufung erhoben werden könne. Hier muß zwischen Ein- und Mehrparteienverfahren unterschieden werden. Für Mehrparteienverfahren hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 19. November 1952, Slg. N. F. Nr. 2728/A, ausgesprochen, daß ungeachtet der Vorschrift des § 63 Abs. 5 AVG 1950 die Partei gegen einen Bescheid, der durch Zustellung an andere Parteien als bereits erlassen angesehen werden müsse, Berufung erheben könne, bevor er ihr zugestellt worden sei, die in einem solchen Falle jedenfalls als rechtzeitig erhoben betrachtet werden müsse (vgl. zu weiteren diesbezüglichen Fällen von Mehrparteienverfahren z.B. die hg. Erkenntnisse vom 31. Mai 1968, Zl. 6/68, vom 4. Mai 1970, Slg. N. F. Nr. 7790/A, und vom 20. September 1979, Zlen. 1011, 1012/78 = ZfVB 1980/4/1309; siehe auch z.B. die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes vom 5. März 1979, B 35/76 = ZfVB 1979/5/2296, und vom 3. Dezember 1979, B 210, 248/77 = ZfVB 1980/4/1463, wonach der Bescheid mit Zustellung an den Erstempfänger als erlassen gilt). Im Mehrparteienverfahren steht es der Partei frei - da die bloße Kenntnisnahme von der Erlassung oder auch vom Inhalt des Bescheides auf anderem Weg als durch Zustellung für die Ingangsetzung der Berufungsfrist nicht genügt -, die Zustellung des Bescheides zu begehren und darauf innerhalb der Rechtsmittelfrist die Berufung einzubringen oder auch von ihrem Berufungsrecht unter Verzicht auf die Bescheidzustellung Gebrauch zu machen (Erkenntnis vom 12. April 1962, Zl. 1069/61, unter Berufung auf ein Erkenntnis vom 1. April 1931, Slg. Nr. 16.606/A). Daß dies nicht für ein Einparteienverfahren gelten könne, hat der Verwaltungsgerichtshof z.B. im bereits zitierten Erkenntnis vom 4. Mai 1970, Slg. N. F. Nr. 7790/A, ausdrücklich festgehalten, wenn er den Unterschied hervorhebend für das Mehrparteienverfahren sagt: "In einem solchen Fall ist also ein Rechtsmittel zulässig und nicht etwa als verfrüht zurückzuweisen, weil noch keine mündliche Verkündung oder Zustellung vorliegt".

2.3. Das im vorliegenden verwaltungsstrafrechtlichen Mehrparteienverfahren ergangene erstinstanzliche Straferkenntnis vom 7. Mai 1984 wurde dem Arbeitsinspektorat für Bauarbeiten als Amts- oder Organpartei (§ 6 Abs. 3, § 8 Abs. 5 in Verbindung mit Abs. 1 erster Satz, Abs. 3 und 4 sowie § 9 des Arbeitsinspektionsgesetzes 1974 - ArbIG 1974, BGBl. Nr. 143) am 24. Mai 1984 zugestellt und damit im Sinne des § 62 Abs. 1 AVG 1950 erlassen; es ist damit rechtlich in Existenz getreten.

Lag somit ab diesem Zeitpunkt ein Bescheid im Rechtssinne vor, dann stand es dem Beschwerdeführer - ungeachtet einer allenfalls rechtsunwirksamen Zustellung des Bescheides ihm gegenüber - frei, bereits vor der rechtsgültigen Zustellung an ihn und somit vor dem im § 63 Abs. 5 AVG 1950 genannten Zustellungszeitpunkt Berufung zu erheben.

2.4.1. Von dieser Möglichkeit wurde durch die namens des Beschwerdeführers erhobene Berufung vom 19. Juni 1984 Gebrauch gemacht. In Entsprechung des auf § 13 Abs. 3 in Verbindung mit § 10 Abs. 2 AVG 1950 gestützten Auftrages der Verwaltungsbehörde vom 9. Mai 1985 (die Bemerkung in der Beschwerde, daß ein solcher Verbesserungsauftrag nicht erfolgt sei, ist aktenwidrig), den Mangel einer vom Beschwerdeführer persönlich unterfertigten und ihm zuzurechnende Vollmacht zu beheben (da die vorgelegte Vollmacht der KG zuzurechnen sei), legte der Beschwerdevertreter eine Vollmacht des Beschwerdeführers vom 23. Mai 1985 vor.

Wenn im Fall einer fristgebundenen Verfahrenshandlung für diese erst nach Ablauf der Frist ein Vollmachtverhältnis begründet wird, vermag dies die Rechtswirksamkeit der Verfahrenshandlung nicht herzustellen. Dies trifft jedoch nicht für den Fall zu, daß bloß ein schon früher - nämlich zum Zeitpunkt der Verfahrenshandlung - bestehendes Vollmachtsverhältnis erst nachträglich beurkundet wird (vgl. die hg. Entscheidungen vom 26. Jänner 1982, Zl. 11/0577/80 = ZfVB 1983/2/647, 715, und vom 20. Juni 1985, Zl. 85/08/0014 = ZfVB 1986/2/859).

In der vorliegenden Angelegenheit wäre daher von der belangten Behörde die Frage zu beantworten gewesen, ob die außerhalb der Berufungsfrist, nämlich am 23. Mai 1985, beurkundete Vollmacht - entsprechend den Behauptungen in der Rechtfertigung - innerhalb dieser Frist bereits bestand und ob die (allem Anschein nach ebenfalls vom Beschwerdeführer gefertigte, wegen des Firmenstempels jedoch der Kommanditgesellschaft zuzurechnende) Vollmacht vom 29. Juli 1982 am 20. März 1984 im Zuge des erstinstanzlichen Strafverfahrens nur irrtümlich vorgelegt wurde.

2.4.2. Die Prüfung dieser Frage ist für den Ausgang des Beschwerdeverfahrens auch wesentlich: Hätte das Vollmachtsverhältnis im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Bescheiderlassung und der fristgerechten Berufungseinbringung bereits bestanden, so hätte diese Berufung vom 19. Juni 1984 als ursprünglich rechtswirksam eingebracht zu gelten; es hätte weder davon ausgegangen werden dürfen, daß die Entscheidungsfrist nach § 51 Abs. 5 VStG 1950 noch nicht verstrichen sei, noch Anlaß und Berechtigung bestanden, den erstinstanzlichen Bescheid ("neuerdings") zuzustellen. Das erstinstanzliche Straferkenntnis hätte von der belangten Behörde nicht bestätigt werden dürfen. Hätte hingegen bei Berufungseinbringung (noch) kein Vollmachtsverhältnis bestanden, dann erwiese sich nachträglich die Berufung vom 19. Juni 1984 als nicht dem Beschwerdeführer zurechenbar, die Entscheidungsfrist nach § 51 Abs. 5 VStG 1950 wäre nicht in Gang gesetzt worden und die Behörde wäre berechtigt gewesen, dem Beschwerdeführer (der von seinem unter Punkt 2.3. dargestellten Recht nicht Gebrauch gemacht hätte) den erstinstanzlichen Bescheid rite zuzustellen, wie dies im Beschwerdefall geschehen ist.

2.5. Aus diesen Erwägungen folgt, daß die belangte Behörde die Rechtslage, was die Bekämpfbarkeit eines im Mehrparteienverfahren erlassenen Bescheides anlangt, verkannt (Punkt 2.2. und 2.3.) und aus diesem Grund weitere Sachverhaltsermittlungen (Punkt 2.4.) unterlassen hat.

Der angefochtene Bescheid war infolgedessen gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

2.6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die§§ 47 und 48 Abs. 1 Z. 1 und 2 VwGG in Verbindung mit Art. 1 Z. 1 der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 243/1985, wobei der Kostenersatz (nur) im begehrten Ausmaß zuzusprechen war.

2.2. Soweit Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zitiert wurden, die in der Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse dieses Gerichtshofes nicht veröffentlicht sind, wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.

Wien, am 26. Mai 1986

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