Normen
AVG §38;
BauO NÖ 1976 §20 Abs2 Z1;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1986:1986050124.X00
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Das Land Niederösterreich hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 9.750,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 14. Juli 1986 wurde die Entscheidung über die Vorstellung der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid des Gemeinderates der Marktgemeinde L vom 20. August 1985 gemäß § 38 AVG 1950 "bis zur rechtskräftigen Erledigung des beim Bezirksgericht Korneuburg unter 2 C 303/85 anhängigen zivilgerichtlichen Verfahrens ausgesetzt".
Entsprechend der Begründung ihres Bescheides ging die Aufsichtsbehörde davon aus, daß der Gemeinderat der Marktgemeinde L mit dem erwähnten Bescheid vom 20. August 1985 das Ansuchen der Beschwerdeführerin um Erteilung der Baubewilligung für die Errichtung einer Weinschenke mit Kellerei auf den Grundstücken Nr. nn1 und Nr. nn2 des Grundbuches über die Kat. Gem. L gemäß § 98 Abs. 1 und 2 der NÖ Bauordnung als mangelhaft belegt zurückgewiesen habe, wobei nach dem weiteren Inhalt des Spruches dieses Bescheides u. a. die Zustimmung der Marktgemeinde L für die Benützung des den genannten Grundstücken der Beschwerdeführerin vorgelagerten, im Eigentum dieser Marktgemeinde stehenden Grundstückes Nr. nn3 zum Zwecke der Errichtung einer Zufahrt fehle. Gegen diesen Bescheid habe die Beschwerdeführerin Vorstellung erhoben. Die nach dem Flächenwidmungsplan als Grünland-Landwirtschaft gewidmeten Grundstücke der Beschwerdeführerin Nr. nn1 und Nr. nn2 hätten keinen Anschluß an das öffentliche Gut. Die Zufahrt solle nach den Aktenunterlagen über einen 4 m breiten und 12 m langen Streifen des Grundstückes Nr. nn3 erfolgen, um einen Anschluß an das öffentliche Gut (Weggrundstück Nr. nn4) zu gewährleisten. Da die Beschwerdeführerin an dem vorgenannten Grundstücksstreifen Rodungsarbeiten durchgeführt habe, habe die Marktgemeinde L gegen sie eine Besitzstörungsklage beim Bezirksgericht eingebracht. Die Beschwerdeführerin habe dagegen in ihrem Schriftsatz den Sach- und Rechtsbesitz der Marktgemeinde L an diesem Grundstücksstreifen bestritten, da sie bzw. ihre Rechtsvorgänger diesen seit mehr als 40 Jahren gutgläubig benützt und daher das Eigentumsrecht bzw. zumindest ein Servitutsrecht erworben hätten. Das Bezirksgericht habe mit seinem Endbeschluß vom 10. April 1986, Zl. 2 C 303/85, festgestellt, daß der Besitzstörungsklage der Marktgemeinde L Berechtigung zukomme. Dagegen habe die Beschwerdeführerin unter Wiederholung ihrer bisherigen, vorstehend angeführten Stellungnahme Rekurs erhoben. Gemäß § 20 Abs. 2 Z. 1 der NÖ Bauordnung 1976 bestehe im Grünland unbeschadet der Regelung der Zulässigkeit von Neu-, Zu- und Umbauten im NÖ Raumordnungsgesetz auf Grundstücken ein Bauverbot, wenn die Zugänglichkeit weder gegeben sei noch geschaffen werden könne. Da die Klärung der Zugänglichkeit der erwähnten Grundstücke der Beschwerdeführerin eine Voraussetzung für die Entscheidung der gegenständlichen Vorstellung bilde, ergehe die im Spruch angeführte Verfügung.
Über die gegen diesen Bescheid eingebrachte Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Gemäß § 38 AVG 1950 ist die Behörde, sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheide zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Behörde bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird.
Wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat (vgl. das hg. Erkenntnis vom 12. Oktober 1982, Zl. 82/05/0127, und die darin zitierte Vorjudikatur), ist unter einer Vorfrage im Sinne dieser Bestimmung eine für die Entscheidung der Verwaltungsbehörde präjudizielle Rechtsfrage zu verstehen, über die als Hauptfrage - als Gegenstand eines rechtsfeststellenden oder rechtsgestaltenden Abspruches - von einer anderen Verwaltungsbehörde oder von einem Gericht oder auch von derselben Behörde, jedoch in einem anderen Verfahren, zu entscheiden ist.
Zwischen den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist nicht strittig, daß die Frage der Zugänglichkeit jener Grundstücke der Beschwerdeführerin, auf welchen das den Gegenstand ihres Bauansuchens bildende Projekt errichtet werden soll, im Hinblick auf die Vorschrift des § 20 Abs. 2 Z. 1 der NÖ Bauordnung 1976 für die Entscheidung über dieses Bauansuchen präjudiziell ist, weshalb sich diesbezügliche nähere Erörterungen des Gerichtshofes erübrigen.
In Übereinstimmung mit der Auffassung der Beschwerdeführerin ist aber davon auszugehen, daß die Voraussetzungen für eine Aussetzung des aufsichtsbehördlichen Verfahrens im Sinne des zweiten Satzes des § 38 AVG 1950 im Beschwerdefall nicht gegeben sind, weil die in Rede stehende Vorfrage entgegen der Ansicht der belangten Behörde nicht den Gegenstand des zur Zl. 2 C 303/85 beim Bezirksgericht anhängigen Verfahrens bildet. Aus dem Spruch des wegen Besitzstörung zur genannten Zahl ergangenen, mit Rekurs bekämpften Endbeschlusses des Bezirksgerichtes vom 10. April 1986 ergibt sich nämlich, daß die Beschwerdeführerin der Marktgemeinde L "dadurch, daß sie den Waldbestand auf einem 4 Meter breiten und 12 Meter langen Streifen des Waldgrundstückes nn3 der Kat. Gem. L neben dem Grundstück M rodete, den ruhigen Besitz gestört hat", und daß die Beschwerdeführerin "schuldig ist, sich jeder weiteren derartigen Störung zu enthalten". Ferner ist die Beschwerdeführerin "schuldig, den vorherigen Zustand wiederherzustellen, indem sie die gleiche Zahl der gerodeten Bäume und Sträucher auf dieser Parzelle neu pflanzt". Gegenstand dieses Besitzstörungsverfahrens ist also nicht die für den Ausgang des aufsichtsbehördlichen Verfahrens wesentliche Vorfrage, ob die Beschwerdeführerin mit ihrer Behauptung im Recht ist, an dem in Rede stehenden Grundstücksstreifen das Eigentumsrecht oder zumindest eine Servitut erworben zu haben, sondern die zufolge § 454 Abs. 1 ZPO den Gegenstand eines Besitzstörungsverfahrens bildende Frage des Schutzes und der Wiederherstellung des letzten Besitzstandes (vgl. dazu auch FASCHING, Lehrbuch des österreichischen Zivilprozeßrechts, Wien 1984, S. 761 f.). Aus dem zu erwartenden rechtskräftigen Spruch des gerichtlichen Endbeschlusses ist daher keine die belangte Behörde bindende Antwort auf die in Rede stehende Vorfrage zu erwarten, wobei den dieser Vorfrage in der Begründung des Endbeschlusses allenfalls gewidmeten Rechtsausführungen in diesem Zusammenhang keine Bedeutung zukommt, weil die Behörde bei der Beurteilung der Vorfrage nur an den Spruch und nicht an die Begründung der gerichtlichen Entscheidung gebunden ist (vgl. in diesem Sinne das hg. Erkenntnis vom 25. Februar 1949, Slg. N. F. Nr. 704/A).
Da auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, daß die vorliegende Vorfrage den Gegenstand eines gleichzeitig bei Gericht anhängig gemachten Verfahrens bildet, ist die belangte Behörde zu Unrecht vom Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aussetzung des bei ihr anhängigen aufsichtsbehördlichen Verfahrens ausgegangen, weshalb der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben war.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 und 48 Abs. 1 Z. 1 und 2 VwGG in Verbindung mit den Bestimmungen der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 243/1985.
Wien, am 25. November 1986
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