BVwG L503 2122553-1

BVwGL503 2122553-117.3.2016

AlVG §44
B-VG Art.133 Abs4
Koordinierung Soziale Sicherheit Art.65
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs5
AlVG §44
B-VG Art.133 Abs4
Koordinierung Soziale Sicherheit Art.65
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs5

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2016:L503.2122553.1.00

 

Spruch:

L503 2122553-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Vorsitzenden und die fachkundigen Laienrichter Mag. ENZLBERGER und Mag. SIGHARTNER über die Beschwerde von XXXX gegen den Bescheid des AMS Wels vom 11.02.2016, GZ: LGSOÖ/Abt.4/2016-0566-4-000161-RM, zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid

gem. § 28 Abs 1 und Abs 5 VwGVG aufgehoben.

B) Die Revision ist gem. Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Mit Bescheid vom 12.1.2016 wies das AMS einen Antrag des Beschwerdeführers (im Folgenden kurz: "BF") vom 23.12.2015 auf Arbeitslosengeld gemäß § 44 AlVG mangels örtlicher Zuständigkeit der regionalen Geschäftsstelle zurück.

Begründend führte das AMS aus, der BF habe niederschriftlich angegeben, dass er einmal im Monat nach Hause zu seiner Frau und seinen drei Kindern gefahren sei. Der BF sei daher ein "echter Grenzgänger", sein Lebensmittelpunkt sei Kroatien und es sei die Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats für ihn zuständig, weshalb der Antrag auf Arbeitslosengeld zurückzuweisen sei.

In rechtlicher Hinsicht führte das AMS diesbezüglich aus, das Vorliegen einer Grenzgängereigenschaft hänge einerseits vom Wohnort als dem gewöhnlichen Aufenthaltsort der Person (im Sinne des Mittelpunkts des Lebensinteresses) ab und anderseits vom Beschäftigungsort, der in einem anderen EU-Mitgliedstaat liegen müsse. "Echte Grenzgänger/innen" würden sich dadurch auszeichnen, dass sie entsprechend der Definition in Art 1 lit f der VO 883/2004 regelmäßig vom zuständigen Beschäftigungsstaat in den Wohnmitgliedstaat zurückkehren würden. Echte Grenzgänger/innen hätten bei Vollarbeitslosigkeit - wie in Art 65 Abs 2 erster Satz der VO als auch in Abs 3 erster Satz klargestellt sei - grundsätzlich kein Wahlrecht.

2. Im Akt befinden sich unter anderem der Antrag des BF vom 23.12.2015 auf Arbeitslosengeld, ein vom BF ausgefülltes Formular "Erklärung über meinen Lebensmittelpunkt" (darin gab der BF insbesondere an, er fahre einmal pro Monat zu seiner Frau und seinen Kindern, die in Kroatien leben würden), eine "Bestätigung der Haushaltsgemeinschaft" vom 4.1.2016 des örtlichen Bürgermeisters die Mitbewohner des BF in Österreich betreffend, der Mietvertrag des BF vom 5.1.2016 sowie eine Wiedereinstellungszusage vom 23.12.2015.

3. Mit Schriftsatz vom 21.1.2016 erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid des AMS vom 12.1.2016. Darin führte der BF aus, sein Lebensmittelpunkt sei in Österreich, da er hier eine Wohnung habe und hier sein Hauptwohnsitz sei; außerdem habe er sich in Kroatien laut der dortigen Meldebehörde abmelden müssen, da er in Österreich lebe. Die Abmeldung lege er seiner Beschwerde bei (Anmerkung des BVwG: dieses Dokument befindet sich nicht im Akt).

4. Mit Bescheid vom 11.02.2016 wies das AMS die Beschwerde des BF im Rahmen einer Beschwerdevorentscheidung ab.

Zum Sachverhalt führte das AMS aus, der BF habe am 23.12.2015 einen Antrag auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld gestellt. Der BF sei seit 6.5.2008 mit Unterbrechungen wiederkehrend bei der Firma W. in Österreich beschäftigt; zuletzt sei er dort vom 9.4.2014 bis zum 23.12.2015 beschäftigt gewesen.

Er sei kroatischer Staatsbürger; in Österreich sei er seit dem 23.6.2008 mit Unterbrechungen mit Hauptwohnsitz an der Adresse U. in B. gemeldet. Aus dem Antrag des BF bzw. im Wege einer niederschriftlichen Befragung des BF habe sich ergeben, dass der BF eine Gattin und drei Kinder habe, die alle in Kroatien leben würden.

Der BF sei eigenen Angaben zufolge einmal pro Monat nach Kroatien gefahren.

In Österreich bewohne er ein Zimmer in der Größe von 20 m²; die Wohnung bestehe laut Mietvertrag aus Vorraum, Wohnküche, zwei Schlafzimmern und Bad und WC; an der Adresse des BF seien weitere drei männliche Personen gemeldet. In Kroatien hätte er ein 150 m² großes Haus, in welchem seine Gattin und seine Kinder wohnen würden.

In rechtlicher Hinsicht verwies das AMS auf Art 65 der VO (EG) Nr. 883/2004 .

Es sei zwar unstrittig, dass der BF mangels zumindest wöchentlicher Heimreise nicht als (echter) Grenzgänger im Sinne des Artikel 1 lit f der VO zu qualifizieren sei, dies schließe jedoch nicht aus, dass Art 65 Abs 2 der VO dennoch zur Anwendung komme, zumal der letzte Satz dieser Bestimmung auf Arbeitnehmer, die keine Grenzgänger sind, Bezug nehme und daher der gesamte Art 65 Abs 2 denklogisch nicht nur auf Grenzgänger im Sinne des Artikel 1 lit f der VO anwendbar sei.

Nach Art 65 Abs 5 lit a der VO erhalte der Arbeitnehmer Leistungen - und somit Arbeitslosenunterstützung - nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten; diese Leistungen würden vom Träger des Wohnorts gewährt werden.

Zudem verwies das AMS auf die Definition des Wohnorts in Art 1 lit j der VO (EG) Nr. 883/2004 .

Mit Urteil vom 11.4.2013, Rs C-443/11 (Jeltes), habe der EuGH zudem klargestellt, dass ein berufliches Naheverhältnis zum Staat der letzten Beschäftigung für die Frage der Zuerkennung von Arbeitslosengeld seit Inkrafttreten der VO (EG) Nr. 883/2004 keine Rolle mehr spiele und sei für die Leistungsgewährung stets der Wohnsitzmitgliedstaat zuständig. Selbst bei Vorliegen eines "festen Arbeitsplatzes" sei nicht (mehr) zu vermuten, dass der Beschäftigungsstaat für die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes zuständig ist, wenn die sonstigen Umstände klar darauf hinweisen, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen in einem anderen Mitgliedstaat liege (VwGH vom 28.1.2015, 2013/08/0074), wobei es auch Entscheidungen des BVwG gebe, die sich darauf gestützt hätten.

Der Umstand, dass es sich im Fall des BF um keinen (echten) Grenzgänger handle, sei "nicht entscheidungsrelevant", weil nach Inkrafttreten der VO Nr. 883/2004 für die Leistungsgewährung stets der Wohnsitzmitgliedstaat zuständig sei, "somit auch für den vom BF ins Treffen geführten atypischen Grenzgänger".

Subsumierend hielt das AMS fest, dass die Gattin und drei Kinder des BF im Haus in Kroatien wohnen würden. Demgegenüber bewohne der BF in Österreich eine 80 m² große Wohnung, die er sich mit drei anderen Männern teile, die keine Familienangehörigen seien, was darauf hindeute, dass der Wohnsitz in Österreich nur zum Zwecke der Beschäftigung in Österreich bestehe. Dass der BF in Kroatien abgemeldet worden sei, spiele keine Rolle, da es auf die faktischen Umstände ankomme; auch der Frage, ob der BF in Österreich einen Haupt- oder Nebenwohnsitz habe, komme keine Bedeutung zu.

Aufgrund des Ermittlungsergebnisses sei der BF - da er lediglich einmal pro Monat nach Kroatien gefahren sei - "unechter (atypischer) Grenzgänger".

In der Rechtsprechung des VwGH sei in Bezug auf die nunmehr geltende VO Nr. 883/2004 klargestellt worden, dass für unechte (atypische) Grenzgänger der Wohnsitzmitgliedstaat zuständig sei.

Da der BF seinen Lebensmittelpunkt in Kroatien habe, sei Kroatien für die Zuerkennung einer Arbeitslosenunterstützung zuständig und sei sein Antrag auf Arbeitslosengeld vom 23.12.2015 mangels örtlicher Zuständigkeit zurückzuweisen gewesen.

5. Mit Schriftsatz vom 24.2.2016 stellte der BF fristgerecht einen Vorlageantrag. Darin verwies der BF darauf, dass er sich nur ca. 25 Tage pro Jahr in Kroatien aufhalte; jeder Österreicher, der im Urlaub ins Ausland fahre, komme auf ähnliche Zeiten. Er arbeite im Baunebengewerbe und werde im Winter kurzfristig mehrmals an- und abgemeldet und benötige das Geld in Österreich; seinen ordentlichen Wohnsitz habe er hier und sei in Kroatien nicht mehr gemeldet. Er kenne verschiedene, namentlich genannte Personen, die in der gleichen Situation seien wie er und dennoch Arbeitslosengeld in Österreich erhalten würden.

6. Am 4.3.2016 legte das AMS den Akt dem BVwG vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der BF stammt aus Kroatien, wo auch seine Frau und seine drei Kinder in ihrem dortigen Haus leben. In Österreich übte er zuletzt durchgehend vom 9.4.2014 bis zum 23.12.2015 eine arbeitslosenversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit (in Oberösterreich) aus. Der BF ist seit dem 23.6.2008 mit Unterbrechungen (seit 7.10.2013 durchgehend) mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet; er bewohnt hier eine 80 m2 große Wohnung, die er mit drei Mitbewohnern teilt.

Ungefähr einmal pro Monat fuhr bzw. fährt der BF nach Kroatien zu seiner Frau und seinen Kindern.

2. Beweiswürdigung:

Die getroffenen Feststellungen ergeben sich völlig unstrittig aus dem vorliegenden Verwaltungsakt. Insbesondere ging auch das AMS - den Angaben des BF folgend - davon aus, dass er (lediglich) einmal pro Monat nach Kroatien fuhr bzw. fährt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Stattgebung der Beschwerde

3.1. Allgemeine rechtliche Grundlagen

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gem. § 56 Abs 2 AlVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide einer Geschäftsstelle durch einen Senat, dem zwei fachkundige Laienrichter angehören, je einer aus dem Kreis der Arbeitgeber und aus dem Kreis der Arbeitnehmer. Das Vorschlagsrecht für die Bestellung der erforderlichen Anzahl fachkundiger Laienrichter und Ersatzrichter steht gem. § 56 Abs 4 AlVG für den Kreis der Arbeitgeber der Wirtschaftskammer Österreich und für den Kreis der Arbeitnehmer der Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte zu; die vorgeschlagenen Personen müssen über besondere fachliche Kenntnisse betreffend den Arbeitsmarkt und die Arbeitslosenversicherung verfügen.

Gegenständlich liegt somit die Zuständigkeit eines Senats vor.

Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache gem. § 28 Abs 1 VwGVG durch Erkenntnis zu erledigen. Hebt das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid auf, sind die Behörden gem. § 28 Abs 5 VwGVG verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtes entsprechenden Rechtszustand herzustellen.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

3.2. Das AMS hat gegenständlich eine Beschwerdevorentscheidung gemäß § 14 VwGVG erlassen und der BF hat fristgerecht einen Vorlageantrag gemäß § 15 VwGVG gestellt; gemäß § 15 Abs. 1 VwGVG kann jede Partei binnen zwei Wochen nach Zustellung der Beschwerdevorentscheidung bei der Behörde den Antrag stellen, dass die Beschwerde dem Verwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt wird. Anders als in § 64a AVG tritt mit der Vorlage der Beschwerde die Beschwerdevorentscheidung nicht außer Kraft; Beschwerdegegenstand im Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht soll die Beschwerdevorentscheidung sein (EB zur RV 2009 dB XXIV.GP, S. 5).

3.3. Zur Zurückweisung des Antrags des BF auf Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe durch das AMS:

3.3.1. Die hier einschlägigen Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit lauten:

Artikel 1

lit f: "Grenzgänger" [ist] eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt;

Artikel 65

[...]

(2) Eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in ihn zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen. Unbeschadet des Artikels 64 kann sich eine vollarbeitslose Person zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dem sie zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.

Ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben.

(3) Der in Absatz 2 Satz 1 genannte Arbeitslose muss sich bei der zuständigen Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats als Arbeitsuchender melden, sich dem dortigen Kontrollverfahren unterwerfen und die Voraussetzungen der Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats erfüllen. Entscheidet er sich dafür, sich auch in dem Mitgliedstaat, in dem er zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, als Arbeitsuchender zu melden, so muss er den in diesem Mitgliedstaat geltenden Verpflichtungen nachkommen.

[...]

(5) a) Der in Absatz 2 Sätze 1 und 2 genannte Arbeitslose erhält Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Diese Leistungen werden von dem Träger des Wohnorts gewährt.

b) Jedoch erhält ein Arbeitnehmer, der kein Grenzgänger war und dem zulasten des zuständigen Trägers des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben, Leistungen gewährt wurden, bei seiner Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat zunächst Leistungen nach Artikel 64; der Bezug von Leistungen nach Buchstabe a ist während des Bezugs von Leistungen nach den Rechtsvorschriften, die zuletzt für ihn gegolten haben, ausgesetzt.

[...] [Hervorhebungen durch das BVwG]

3.3.2. Im gegenständlichen Fall bedeutet dies:

Völlig unstrittig ist und wird dies auch vom AMS selbst betont, dass es sich beim BF - da dieser nur gelegentlich (etwa einmal pro Monat) nach Kroatien fuhr bzw. fährt - um keinen Grenzgänger im Sinne von Art 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 handelt, wenngleich sein Wohnort im Sinne von Art 1 lit j der genannten VO aufgrund der dort gegebenen, unstrittigen intensiven familiären Bindungen (Frau und Kinder) durchaus Kroatien sein mag. Die Literatur spricht in diesem Zusammenhang auch von einem "unechten Grenzgänger" (siehe z. B. Krapf/Keul, Arbeitslosenversicherungsgesetz, 11 Lfg., Jänner 2015, Rz 476/2 zu § 21 AlVG) und nicht - wie vom AMS in der gegenständlichen Beschwerdevorentscheidung fälschlicherweise angenommen - um einen "atypischen" Grenzgänger, handelt es sich doch bei einem "atypischen" Grenzgänger jedenfalls um einen Grenzgänger im Sinne von Art 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 , das heißt um eine Person, die zumindest wöchentlich in den Wohnmitgliedstaat zurückkehrt (siehe dazu sogleich unten).

Das AMS begründet nun die gegenständliche Zurückweisung des Antrags des BF damit, dass Art 65 Abs 5 lit a der VO (EG) Nr. 883/2004 vorsehe, dass der Arbeitslose Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats erhalte und dass die Leistungen vom Träger des Wohnorts gewährt werden, sodass diesbezüglich nur Kroatien in Betracht komme.

Dabei übersieht das AMS jedoch, dass sich Art 65 Abs 5 lit a der VO explizit ausschließlich auf "echte" Grenzgänger bezieht, während es für "unechte Grenzgänger" - die gar keine Grenzgänger im Sinne von Art 1 lit f der VO sind - eigene Regelungen in der VO gibt.

Im Hinblick auf "unechte Grenzgänger" besagt nämlich Art 65 Abs 3 dritter Satz (auf den der vom AMS herangezogene Art 65 Abs 5 lit a der VO eben gerade nicht verweist, da sich Art 65 Abs 5 lit a der VO wie gesagt nur auf "echte" Grenzgänger bezieht) Folgendes: "Ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben."

Eine weitere Regelung hinsichtlich der "unechten Grenzgänger" enthält zudem Art 65 Abs 5 lit b der VO, der wie folgt lautet:

"Jedoch erhält ein Arbeitnehmer, der kein Grenzgänger war und dem zulasten des zuständigen Trägers des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben, Leistungen gewährt wurden, bei seiner Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat zunächst Leistungen nach Artikel 64; der Bezug von Leistungen nach Buchstabe a ist während des Bezugs von Leistungen nach den Rechtsvorschriften, die zuletzt für ihn gegolten haben, ausgesetzt."

Aus der Zusammenschau dieser beiden Regelungen geht klar hervor, dass der "unechte Grenzgänger" nach eigener Entscheidung in den Wohnmitgliedstaat zurückkehren oder im letzten Staat der Erwerbstätigkeit verbleiben kann. Wenn er nicht in den Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss er sich gem. Art 65 Abs 3 dritter Satz der VO der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellen und erhält folglich Arbeitslosengeld zu dessen Lasten (so explizit etwa auch Krapf/Keul, Arbeitslosenversicherungsgesetz, 11 Lfg., Jänner 2015, Rz 476/2 zu § 21 AlVG). Wenn der "unechte Grenzgänger" sich dann später für die Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat entscheiden sollte, so erhält er gem. Art 65 Abs 5 lit b zunächst Leistungen nach Art 64 der VO für die Dauer von drei Monaten zu Lasten des Beschäftigungsstaats.

Gänzlich verfehlt ist für gegenständliches Verfahren somit der Hinweis des AMS auf das Erkenntnis des VwGH vom 28.1.2015, Zl. 2013/08/0074, zumal diesem Verfahren eben ein "echter" Grenzgänger im Sinne von Artikel 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 - das AMS kam den vom VwGH nicht beanstandeten Feststellungen zufolge nämlich zum Ergebnis, dass der damalige Beschwerdeführer jedes Wochenende zu seiner Familie nach Polen fahre - zugrunde lag. Gleiches gilt auch für den Hinweis des AMS auf das Urteil des EuGH vom 11.4.2013, Rs C-443/11 (Jeltes), zumal es sich auch hier um einen "echten" (wenngleich aufgrund besonders enger persönlicher und beruflicher Bindungen im Beschäftigungsstaat "atypischen") Grenzgänger im Sinne von Artikel 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 handelte.

Das AMS hat folglich in unrichtiger Weise die Begriffe "unechter Grenzgänger" und "atypischer Grenzgänger" vermengt und daraus resultierend falsche Schlüsse gezogen.

Was im Übrigen die Argumentation des AMS - unter Hinweis auf das Erkenntnis des VwGH vom 22.2.2012, Zl. 2009/08/0293 - anbelangt, der Tatbestand des Art 65 Abs 2 letzter Satz der VO liege gegenständlich nicht vor, "weil dies voraussetzt, dass zum Zweck der Beschäftigung in Österreich der Wohnort in Kroatien aufgegeben wurde" (was gegenständlich nicht der Fall sei), so ist dem entgegenzuhalten, dass weder dem zitierten Erkenntnis des VwGH, noch dem darin erwähnten Urteil des EuGH vom 17.2.1977, Rs 76/76 (Silvana di Paolo), eine derartige Aussage zu entnehmen ist.

Im konkreten Fall hat sich der BF - der unbestritten kein Grenzgänger im Sinne von Artikel 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 ist und somit als "unechter Grenzgänger" (und nicht als "atypischer" Grenzgänger) gilt - für einen Verbleib in Österreich entschieden, sodass er sich der Arbeitsverwaltung in Österreich zur Verfügung stellen muss und bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen Anspruch auf Leistungen in Österreich hat. Vor diesem Hintergrund durfte aber der Antrag des BF auf Arbeitslosengeld nicht zurückgewiesen werden, sondern wäre sein Antrag inhaltlich zu beurteilen gewesen.

Da der Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens aber nur die Zurückweisung des Antrags durch das AMS ist und das BVwG abgesehen davon gegenständlich auch nicht selbst beurteilen könnte, ob die sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld vorliegen, ist (lediglich) mit einer Behebung der rechtswidrigen Zurückweisung vorzugehen.

Zusammengefasst hat das AMS den Antrag des BF zu Unrecht zurückgewiesen, sodass der Beschwerde spruchgemäß stattzugeben und der bekämpfte Bescheid aufzuheben ist.

3.4. Es ist darauf hinzuweisen, dass das AMS gem. § 28 Abs 5 VwGVG folglich verpflichtet ist, in der betreffenden Rechtssache unverzüglich den der Rechtsanschauung des BVwG entsprechenden Rechtszustand herzustellen, was im konkreten Fall bedeutet, dass über den Antrag des BF auf Arbeitslosengeld inhaltlich zu entscheiden ist.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gem. § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Gem. Art 133 Abs 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, da die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Im Hinblick auf die sogenannten "unechten Grenzgänger" gibt es in Art 65 Abs 2 dritter Satz und Abs 5 lit b der VO (EG) Nr. 883/2004 eine bereits ihrem Wortlaut nach klare Regelung, wonach ein "unechter Grenzgänger" - wenn er nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt - sich der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellen muss und folglich Leistungen zu dessen Lasten erhält.

Absehen von einer Beschwerdeverhandlung:

Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG konnte eine mündliche Verhandlung unterbleiben, da bereits auf Grund der Aktenlage feststand, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben war.

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