BVwG L503 2120669-1

BVwGL503 2120669-117.2.2016

AlVG §44
B-VG Art.133 Abs4
Koordinierung Soziale Sicherheit Art.65
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs5
AlVG §44
B-VG Art.133 Abs4
Koordinierung Soziale Sicherheit Art.65
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs5

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2016:L503.2120669.1.00

 

Spruch:

L503 2120669-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Vorsitzenden und die fachkundigen Laienrichter Mag. ENZLBERGER und Mag. SIGHARTNER über die Beschwerde von XXXX gegen den Bescheid des AMS XXXX vom 19.01.2016, GZ: XXXX , zu Recht erkannt:

A.) Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid gem. § 28 Abs 1 und Abs 5 VwGVG aufgehoben.

B.) Die Revision ist gem. Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Mit Bescheid vom 4.12.2015 wies das AMS den Antrag des Beschwerdeführers (im Folgenden kurz: "BF") vom 23.11.2015 auf Arbeitslosengeld gemäß § 44 AlVG mangels örtlicher Zuständigkeit der regionalen Geschäftsstelle zurück.

Begründend führte das AMS - neben der Wiedergabe der einschlägigen Gesetzesbestimmungen - (lediglich) aus, der BF habe bekannt gegeben, dass sich seine Familie in Rumänien aufhalte. Diese Umstände würden "eindeutig" darauf hinweisen, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen des BF - trotz seines beruflichen Naheverhältnisses zu Österreich - in Rumänien liege. Somit sei gemäß der VO (EG) Nr. 883/2004 der Wohnmitgliedstaat (Rumänien) für seinen Antrag auf Arbeitslosengeld zuständig.

2. Mit Schriftsatz vom 23.12.2015 erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid des AMS vom 04.12.2015. Darin führte der BF aus, er sei arbeitslos, ledig, habe keine Kinder und halte kein Fahrzeug oder einen Wohnsitz auf seinen Namen in Rumänien.

3. Am 28.12.2015 richtete das AMS ein Schreiben an den BF zur Wahrung des Parteiengehörs.

Darin führte das AMS aus, der BF habe am 23.11.2015 einen Antrag auf Arbeitslosengeld gestellt. Es habe sich herausgestellt, dass der BF keinen Lebensmittelpunkt in Österreich habe.

Zuletzt sei der BF vom 24.3.2015 bis zum 13.5.2015 einer arbeitslosenversicherungspflichtigen Beschäftigung bei I. und vom 18.5.2015 bis zum 20.11.2015 einer arbeitslosenversicherungspflichtigen Beschäftigung bei der Firma D. GmbH nachgegangen.

Wiedergegeben wurde seitens des AMS auch ein Auszug aus dem ZMR den BF betreffend, aus dem hervorgeht, dass der BF seit 23.3.2015 mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet ist; vom 24.4.2012 bis zum 19.11.2012 und vom 29.7.2013 bis zum 21.11.2013 hatte der BF jeweils an verschiedenen Adressen einen Nebenwohnsitz gemeldet.

Für den Zeitraum der Meldung seines Nebenwohnsitzes bei J. H. in B. vom 24.4.2012 bis zum 19.11.2012 und vom 29.7.2013 bis zu meinem 20.11.2013 sei der BF in Österreich keiner Beschäftigung nachgegangen.

Im Hinblick auf das Vorbringen in seiner Beschwerde, sein Lebensmittelpunkt sei in Österreich, werde der BF aufgefordert, folgende Nachweise vorzulegen:

"1. (unbefristeten?) Mietvertrag für die Wohnung an der Adresse H., M., aus der die Größe der Wohnung (Quadratmeter, Anzahl der Zimmer) hervorgeht.

2. Nachweise der monatlichen Mietzahlungen für diese Wohnung (mit Dauerauftrag)?.

3. (unbefristeten?) Mietvertrag für die Wohnung an der Adresse S., R., aus der die Größe der Wohnung (Quadratmeter, Anzahl der Zimmer) hervorgeht.

4. Welche Zimmer bewohnen und benutzen Sie in dieser Wohnung?

5. Wer wohnt mit Ihnen noch an dieser Adresse?

6. Nachweis der monatlichen Mietzahlungen für diese Wohnung (mit Dauerauftrag?).

7. Welche Einrichtungsgegenstände (Möbel, Geschirr, Bettzeug, Handtücher ...) haben Sie für diese Wohnung angeschafft?

8. Wenn Sie diese Gegenstände bei der und für die Übersiedlung im November 2015 gekauft haben, ersuche ich um Vorlage der Rechnungen.

9. Warum sind Sie nach Eintritt der Arbeitslosigkeit mit 20.11.2015 am 26.11.2015 an die Adresse in S., R. übersiedelt und haben nicht ihr Wohn- und Mietverhältnis in H. aufrecht erhalten?"

Dem BF werde Gelegenheit gegeben, zu diesem Schreiben bis spätestens 16.1.2016 schriftlich Stellung zu nehmen. In der Anlage werde dem BF auch noch die "Erklärung über meinen Lebensmittelpunkt" übermittelt.

4. Zu einem aus dem Akt nicht ersichtlichen Zeitpunkt langten diverse Unterlagen seitens des BF beim AMS ein. In dem Formular "Erklärung über meinen Lebensmittelpunkt" gab der BF insbesondere an, seine bisherigen Beschäftigungsverhältnisse seien befristet gewesen (Bau). Er sei circa drei- bis viermal pro Jahr im Rahmen einer Mitfahrgelegenheit von Österreich nach Rumänien gefahren; er habe kein eigenes Auto. In Österreich lebe er aktuell in S., in der R.-Straße beim Lebensgefährten seiner Cousine. Die Wohnungsgröße sei 30 m².

In Rumänien würde sich seine Mutter aufhalten; er selbst habe keinerlei Unterkunft in Rumänien.

Vorgelegt wurde vom BF weiters eine Bestätigung des Bürgermeisters C. (Rumänien) vom 8.1.2016 samt deutscher Übersetzung, mit der bestätigt wird, dass der BF "nicht in den landwirtschaftlichen Registern" der Gemeinde C. eingetragen sei; als Wohnort sei seine Adresse in Österreich eingetragen.

Vorgelegt wurde vom BF zudem ein Mietvertrag, in dem als Mieter (lediglich) der Lebensgefährte seiner Cousine aufscheint.

5. Mit Bescheid vom 19.01.2016 wies das AMS die Beschwerde des BF im Rahmen einer Beschwerdevorentscheidung ab.

Zum Sachverhalt führte das AMS aus, der BF habe am 23.11.2015 einen Antrag auf Arbeitslosengeld gestellt. Es wurden zum Sachverhalt in weiterer Folge die Ausführungen getätigt, die bereits im Schreiben des AMS zur Wahrung des Parteiengehörs vom 28.12.2015 wiedergegeben wurden.

Die mit diesem Schreiben geforderten Unterlagen, nämlich den Nachweis eines Mietverhältnisses über seine Wohnung beziehungsweise über die Mietzahlungen seine Wohnung betreffend habe der BF nicht vorgelegt.

In rechtlicher Hinsicht verwies das AMS auf Art 65 der VO (EG) Nr. 883/2004 . Es sei zwar richtig, dass der BF mangels zumindest wöchentlicher Heimreise nicht als echter Grenzgänger im Sinne des Artikel 1 lit f der VO zu qualifizieren sei, dies schließe jedoch nicht aus, dass Art 65 Abs 2 der VO dennoch zur Anwendung komme, zumal der letzte Satz dieser Bestimmung auf Arbeitnehmer, die keine Grenzgänger sind, Bezug nehme und daher der gesamte Art 65 Abs 2 denklogisch nicht nur auf Grenzgänger im Sinne des Artikel 1 lit f der VO anwendbar sei.

Nach Art 65 Abs 5 lit a der VO erhalte der Arbeitnehmer Leistungen - und somit Arbeitslosenunterstützung - nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten; diese Leistungen würden vom Träger des Wohnorts gewährt werden.

Zudem verwies das AMS auf die Definition des Wohnorts in Art 1 lit j der VO (EG) Nr. 883/2004 .

Mit Urteil vom 11.4.2013, Rs C-443/11 (Jeltes), habe der EuGH zudem klargestellt, dass ein berufliches Naheverhältnis zum Staat der letzten Beschäftigung für die Frage der Zuerkennung von Arbeitslosengeld seit Inkrafttreten der VO (EG) Nr. 883/2004 keine Rolle mehr spiele und sei für die Leistungsgewährung stets der Wohnsitzmitgliedstaat zuständig. Selbst bei Vorliegen eines "festen Arbeitsplatzes" sei nicht (mehr) zu vermuten, dass der Beschäftigungsstaat für die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes zuständig ist, wenn die sonstigen Umstände klar darauf hinweisen, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen in einem anderen Mitgliedstaat liege (VwGH vom 28.1.2015, 2013/08/0074).

Subsumierend führte das AMS sodann aus, aufgrund der vorliegenden Unterlagen ergebe sich folgender Sachverhalt: Bisher sei der BF in Österreich vom 18.5.2015 bis 20.11.2015 (187 Tage) bei der Firma D. in S. beschäftigt gewesen; vorher sei er vom 24.3.2015 bis zum 13.5.2015 (51 Tage) bei der Firma I. in P. beschäftigt gewesen, wobei er dazu selbst angegeben habe, dass diese Beschäftigungsverhältnisse jeweils befristet für die Bausaison gewesen seien.

Für die Dauer seines Dienstverhältnisses vom 18.5.2015 bis zum 20.11.2015 (187 Tage) bei der Firma D. in S. sei der BF vom 10.5.2015 bis 26.11.2015 an der Adresse H., M. gemeldet gewesen. Für die Dauer seines Dienstverhältnisses vom 24.3.2015 bis 13.5.2015 (51 Tage) bei der Firma I. in P. sei der BF vom 23.3.2015 bis 10.9.2015 an der Adresse H. in Wien gemeldet gewesen.

Trotz Aufforderung seitens des AMS habe er im Zuge des ergänzenden Ermittlungsverfahrens an keiner der im ZMR aufscheinenden Wohnadressen nachgewiesen, dass es sich um befristet oder unbefristet gemietete Wohnung gehandelt habe.

Auch habe der BF nicht dargelegt, warum er nach dem Ende seines Dienstverhältnisses mit 20.11.2015 nicht weiter in seiner Wohnung an der Adresse in H. verblieben sei, sondern in die Wohnung seiner Cousine gezogen sei, die der Lebensgefährte seiner Cousine gemietet habe.

Daher gehe das AMS davon aus, dass auch die Wohnung in H. nur eine vorübergehende Wohnmöglichkeit für die Dauer des Dienstverhältnisses des BF und keine Wohnmöglichkeit gewesen sei, die auf Dauer angelegt gewesen sei.

Die Wohnung des Lebensgefährten seiner Cousine habe lediglich eine Größe von 30 m² und bestehe nur aus einer Wohnküche, einem Schlafzimmer sowie einen Bad beziehungsweise WC. Diese Wohnung werde von seiner Cousine und deren Lebensgefährten bewohnt und sei der BF behördlich an diese Adresse seit dem 26.11.2015 gemeldet.

Aufgrund der Größe und Raumaufteilung der Wohnung gehe das AMS nicht davon aus, dass der BF seinen Lebensmittelpunkt hier begründen könnte, da er in dieser Wohnung keinen Raum zur alleinigen Benutzung zur Verfügung habe, in dem er seine eigenen Möbel und Einrichtungsgegenstände (dass diese vorhanden sind, habe er trotz nachweislicher Aufforderung mit Schreiben vom 28.12.2015 auch nicht vorgebracht) unterbringen könnte, um darauf schließen zu können, dass er sich seinen "Lebensmittelpunkt" in Österreich auch wohnlich einrichten möchte.

Diese Umstände würden eindeutig darauf hinweisen, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen des BF in Rumänien liege. Somit sei der Wohnmitgliedstaat Rumänien für die Zuerkennung einer Arbeitslosenunterstützung zuständig und der Antrag des BF auf Arbeitslosengeld vom 23.11.2015 sei mangels örtlicher Zuständigkeit zurückzuweisen gewesen.

6. Mit Schriftsatz vom 27.1.2016 stellte der BF fristgerecht einen Vorlageantrag. Darin betonte der BF, sein Lebensmittelpunkt sei Österreich; einen aktuellen Meldezettel und eine Abmeldung von seiner Heimatgemeinde in Rumänien lege er bei.

7. Am 5.2.2016 langte der Akt beim BVwG ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der BF stammt aus Rumänien, wo (lediglich) seine Mutter lebt.

In Österreich übte er zuletzt durchgehend vom 18.5.2015 bis 20.11.2015 eine arbeitslosenversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aus.

Der BF ist seit dem 23.3.2015 durchgehend mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet, wobei er seit dem 26.11.2015 an der Adresse seiner Cousine bzw. deren Lebensgefährten gemeldet ist.

Ungefähr drei- bis viermal pro Jahr fuhr bzw. fährt der BF nach Rumänien.

2. Beweiswürdigung:

Die getroffenen Feststellungen ergeben sich völlig unstrittig aus dem vorliegenden Verwaltungsakt. Insbesondere ging auch das AMS - den Angaben des BF folgend - davon aus, dass er (lediglich) ca. drei- bis viermal pro Jahr nach Rumänien fuhr bzw. fährt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Stattgebung der Beschwerde

3.1. Allgemeine rechtliche Grundlagen

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gem. § 56 Abs 2 AlVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide einer Geschäftsstelle durch einen Senat, dem zwei fachkundige Laienrichter angehören, je einer aus dem Kreis der Arbeitgeber und aus dem Kreis der Arbeitnehmer. Das Vorschlagsrecht für die Bestellung der erforderlichen Anzahl fachkundiger Laienrichter und Ersatzrichter steht gem. § 56 Abs 4 AlVG für den Kreis der Arbeitgeber der Wirtschaftskammer Österreich und für den Kreis der Arbeitnehmer der Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte zu; die vorgeschlagenen Personen müssen über besondere fachliche Kenntnisse betreffend den Arbeitsmarkt und die Arbeitslosenversicherung verfügen.

Gegenständlich liegt somit die Zuständigkeit eines Senats vor.

Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache gem. § 28 Abs 1 VwGVG durch Erkenntnis zu erledigen. Hebt das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid auf, sind die Behörden gem. § 28 Abs 5 VwGVG verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtes entsprechenden Rechtszustand herzustellen.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

3.2. Das AMS hat gegenständlich eine Beschwerdevorentscheidung gemäß § 14 VwGVG erlassen und der BF hat fristgerecht einen Vorlageantrag gemäß § 15 VwGVG gestellt; gemäß § 15 Abs. 1 VwGVG kann jede Partei binnen zwei Wochen nach Zustellung der Beschwerdevorentscheidung bei der Behörde den Antrag stellen, dass die Beschwerde dem Verwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt wird. Anders als in § 64a AVG tritt mit der Vorlage der Beschwerde die Beschwerdevorentscheidung nicht außer Kraft; Beschwerdegegenstand im Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht soll die Beschwerdevorentscheidung sein (EB zur RV 2009 dB XXIV.GP, S. 5).

3.3. Zur Zurückweisung des Antrags des BF auf Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe durch das AMS:

3.3.1. Die hier einschlägigen Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit lauten:

Artikel 1

lit f: "Grenzgänger" [ist] eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt;

Artikel 65

[...]

(2) Eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in ihn zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen. Unbeschadet des Artikels 64 kann sich eine vollarbeitslose Person zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dem sie zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.

Ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben.

(3) Der in Absatz 2 Satz 1 genannte Arbeitslose muss sich bei der zuständigen Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats als Arbeitsuchender melden, sich dem dortigen Kontrollverfahren unterwerfen und die Voraussetzungen der Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats erfüllen. Entscheidet er sich dafür, sich auch in dem Mitgliedstaat, in dem er zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, als Arbeitsuchender zu melden, so muss er den in diesem Mitgliedstaat geltenden Verpflichtungen nachkommen.

[...]

(5) a) Der in Absatz 2 Sätze 1 und 2 genannte Arbeitslose erhält Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Diese Leistungen werden von dem Träger des Wohnorts gewährt.

b) Jedoch erhält ein Arbeitnehmer, der kein Grenzgänger war und dem zulasten des zuständigen Trägers des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben, Leistungen gewährt wurden, bei seiner Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat zunächst Leistungen nach Artikel 64; der Bezug von Leistungen nach Buchstabe a ist während des Bezugs von Leistungen nach den Rechtsvorschriften, die zuletzt für ihn gegolten haben, ausgesetzt.

[...] [Hervorhebungen durch das BVwG]

3.3.2. Im gegenständlichen Fall bedeutet dies:

Völlig unstrittig ist und wird dies auch vom AMS selbst betont, dass es sich beim BF - da dieser nur gelegentlich (ca. drei- bis viermal pro Jahr) nach Rumänien fuhr bzw. fährt - um keinen Grenzgänger im Sinne von Art 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 handelt, wenngleich sein Wohnort im Sinne von Art 1 lit j der genannten VO möglicherweise Rumänien ist. Die Literatur spricht in diesem Zusammenhang auch von einem "unechten Grenzgänger" (siehe z. B. Krapf/Keul, Arbeitslosenversicherungsgesetz, 11 Lfg., Jänner 2015, Rz 476/2 zu § 21 AlVG).

Das AMS begründet nun die gegenständliche Zurückweisung des Antrags des BF damit, dass Art 65 Abs 5 lit a der VO (EG) Nr. 883/2004 vorsehe, dass der Arbeitslose Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats erhalte und dass die Leistungen vom Träger des Wohnorts gewährt werden, sodass diesbezüglich nur Rumänien in Betracht komme.

Dabei übersieht das AMS jedoch, dass sich Art 65 Abs 5 lit a der VO explizit ausschließlich auf "echte" Grenzgänger bezieht, während es für "unechte Grenzgänger" eigene Regelungen in der VO gibt.

Im Hinblick auf "unechte Grenzgänger" besagt nämlich Art 65 Abs 3 dritter Satz (auf den der vom AMS herangezogene Art 65 Abs 5 lit a der VO eben gerade nicht verweist, da sich Art 65 Abs 5 lit a der VO wie gesagt nur auf "echte" Grenzgänger bezieht) Folgendes: "Ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben."

Eine weitere Regelung hinsichtlich der "unechten Grenzgänger" enthält zudem Art 65 Abs 5 lit b der VO, der wie folgt lautet:

"Jedoch erhält ein Arbeitnehmer, der kein Grenzgänger war und dem zulasten des zuständigen Trägers des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben, Leistungen gewährt wurden, bei seiner Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat zunächst Leistungen nach Artikel 64; der Bezug von Leistungen nach Buchstabe a ist während des Bezugs von Leistungen nach den Rechtsvorschriften, die zuletzt für ihn gegolten haben, ausgesetzt."

Aus der Zusammenschau dieser beiden Regelungen geht klar hervor, dass der "unechte Grenzgänger" nach eigener Entscheidung in den Wohnmitgliedstaat zurückkehren oder im letzten Staat der Erwerbstätigkeit verbleiben kann. Wenn er nicht in den Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss er sich gem. Art 65 Abs 3 dritter Satz der VO der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellen und erhält folglich Arbeitslosengeld zu dessen Lasten (so explizit etwa auch Krapf/Keul, Arbeitslosenversicherungsgesetz, 11 Lfg., Jänner 2015, Rz 476/2 zu § 21 AlVG). Wenn der "unechte Grenzgänger" sich dann später für die Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat entscheiden sollte, so erhält er gem. Art 65 Abs 5 lit b zunächst Leistungen nach Art 64 der VO für die Dauer von drei Monaten zu Lasten des Beschäftigungsstaats.

Gänzlich verfehlt ist für gegenständliches Verfahren somit der Hinweis des AMS auf das Erkenntnis des VwGH vom 28.1.2015, Zl. 2013/08/0074, zumal diesem Verfahren eben ein "echter" Grenzgänger im Sinne von Artikel 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 - das AMS kam den vom VwGH nicht beanstandeten Feststellungen zufolge nämlich zum Ergebnis, dass der damalige Beschwerdeführer jedes Wochenende zu seiner Familie nach Polen fahre - zugrunde lag. Gleiches gilt auch für den Hinweis des AMS auf das Urteil des EuGH vom 11.4.2013, Rs C-443/11 (Jeltes), zumal es sich auch hier um einen "echten" (wenngleich aufgrund besonders enger persönlicher und beruflicher Bindungen im Beschäftigungsstaat "atypischen") Grenzgänger im Sinne von Artikel 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 handelte.

Im konkreten Fall hat sich der BF - der unbestritten kein Grenzgänger im Sinne von Artikel 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 ist und somit als "unechter Grenzgänger" gilt - für einen Verbleib in Österreich entschieden, sodass er sich der Arbeitsverwaltung in Österreich zur Verfügung stellen muss und bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen Anspruch auf Leistungen in Österreich hat. Vor diesem Hintergrund durfte aber der Antrag des BF auf Arbeitslosengeld nicht zurückgewiesen werden, sondern wäre sein Antrag inhaltlich zu beurteilen gewesen.

Da der Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens aber nur die Zurückweisung des Antrags durch das AMS ist und das BVwG abgesehen davon gegenständlich auch nicht selbst beurteilen könnte, ob die sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld vorliegen, ist (lediglich) mit einer Behebung der rechtswidrigen Zurückweisung vorzugehen.

Zusammengefasst hat das AMS den Antrag des BF zu Unrecht zurückgewiesen, sodass der Beschwerde spruchgemäß stattzugeben und der bekämpfte Bescheid aufzuheben ist.

3.4. Es ist darauf hinzuweisen, dass das AMS gem. § 28 Abs 5 VwGVG folglich verpflichtet ist, in der betreffenden Rechtssache unverzüglich den der Rechtsanschauung des BVwG entsprechenden Rechtszustand herzustellen, was im konkreten Fall bedeutet, dass über den Antrag des BF auf Arbeitslosengeld inhaltlich zu entscheiden ist.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gem. § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Gem. Art 133 Abs 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, da die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Im Hinblick auf die sogenannten "unechten Grenzgänger" gibt es in Art 65 Abs 2 dritter Satz und Abs 5 lit b der VO (EG) Nr. 883/2004 eine bereits ihrem Wortlaut nach klare Regelung, wonach ein "unechter Grenzgänger" - wenn er nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt - sich der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellen muss und folglich Leistungen zu dessen Lasten erhält.

Absehen von einer Beschwerdeverhandlung:

Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG konnte eine mündliche Verhandlung unterbleiben, da bereits auf Grund der Aktenlage feststand, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben war.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte