VfGH G183/2020 ua

VfGHG183/2020 ua9.6.2020

Zurückweisung eines Parteiantrags gegen die Entscheidung eines Disziplinarrates einer Rechtsanwaltskammer; Disziplinarrat ist kein ordentliches Gericht iSd Art139 bzw Art140 B-VG

Normen

B-VG Art139 Abs1 Z4
B-VG Art140 Abs1 Z1 litd
DSt 1990 §15 Abs4
VfGG §7 Abs2, §57a Abs1, §62a Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2020:G183.2020

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung

I. Antrag

Gestützt auf Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG, begehrt der Antragsteller, §15 Abs4 Satz 4 des Disziplinarstatutes für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter, BGBl 74/1990, idF BGBl I 10/2017 sowie den Beschluss des Präsidenten des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien vom 12. Februar 2020, D 123/16 – ON 31 mit dem Wortlaut: "Aufgrund der Entschuldigungen in ON 26 und 27 wird festgestellt, dass die Senatsmitglieder […] bei der zu D 123/16 für den 19. Februar 2020, 15.00 Uhr, anberaumten Verhandlung im Sinne des §15 Abs4 DSt verhindert sind." als verfassungswidrig aufzuheben.

II. Rechtslage

§15 des Bundesgesetzes vom 28. Juni 1990 über das Disziplinarrecht der Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (Disziplinarstatut für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter – DSt), BGBl 74/1990, idF BGBl I 10/2017 lautete wie folgt (die angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):

"§15. (1) Der Disziplinarrat verhandelt und entscheidet in Senaten, die aus einem Vorsitzenden und aus zwei weiteren Mitgliedern aus dem Kreis der Rechtsanwälte bestehen. Jedem Senat gehört ferner eines der beiden Mitglieder des Disziplinarrats aus dem Kreis der Rechtsanwaltsanwärter an. Diese haben an den Verhandlungen und Entscheidungen des Senats nur unter der Voraussetzung mitzuwirken, dass ein Rechtsanwaltsanwärter Beschuldigter ist, wobei das betreffende Senatsmitglied entsprechend einer im Vorhinein in der Geschäftsverteilung (Abs2) zu treffenden Regelung an die Stelle eines der Mitglieder aus dem Kreis der Rechtsanwälte tritt; in dieser Zusammensetzung hat der Senat auch dann zu verhandeln und zu entscheiden, wenn die gegen einen Rechtsanwalt und einen Rechtsanwaltsanwärter wegen Beteiligung an demselben Disziplinarvergehen anhängigen Disziplinarverfahren gemeinsam geführt werden. Den Vorsitz führt der Präsident oder ein Vizepräsident, bei deren Verhinderung das Mitglied des Senats mit der längsten Amtsdauer; bei gleicher Amtsdauer ist das Lebensalter maßgeblich. Jedes Mitglied des Disziplinarrats darf mehreren Senaten angehören.

 

(2) Wird ein Einleitungsbeschluss gefasst (§28 Abs2), so haben dem Senat zwei weitere Mitglieder des Disziplinarrats aus dem Kreis der Rechtsanwälte anzugehören (erweiteter Senat), wenn dies der Beschuldigte oder der Kammeranwalt innerhalb von sieben Tagen ab Zustellung des Einleitungsbeschlusses schriftlich beantragt.

 

(3) Eine Entscheidung im erweiterten Senat hat ferner bei Beschlussfassungen über die Verhängung einstweiliger Maßnahmen zu ergehen, wenn

 

1. dies vom Kammeranwalt zugleich mit seinem Antrag gemäß §19 oder vom Rechtsanwalt innerhalb der ihm gemäß §19 Abs2 erster Satz gesetzten Stellungnahmefrist beantragt oder

 

2. dem Rechtsanwalt gemäß §19 Abs2 zweiter Satz wegen Gefahr im Verzug keine Möglichkeit zur Stellungnahme vor der Beschlussfassung eingeräumt wird. Die erweiterte Senatsbesetzung gilt diesfalls auch für Beschlussfassungen des Disziplinarrats gemäß §19 Abs4.

 

(4) Der Präsident des Disziplinarrats hat die Senate, die über einstweilige Maßnahmen beschließen (§19), sowie die erkennenden Senate (§30) jährlich nach der Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer zu bilden und die Geschäfte unter ihnen im vorhinein zu verteilen. Gleichzeitig ist die Reihenfolge zu bestimmen, in der die weiteren Mitglieder des Disziplinarrats bei Erweiterung des Senats (Abs2) oder bei Verhinderung eines Senatsmitglieds in die Senate eintreten. Die Geschäftsverteilung ist durch Anschlag in der Rechtsanwaltskammer bekanntzugeben. Die Zusammensetzung der Senate darf nur im Fall unbedingten Bedarfs abgeändert werden.

 

(5) Alle anderen zu bildenden Senate hat der Präsident des Disziplinarrats unter Bedachtnahme auf eine möglichst gleichmäßige Belastung der einzelnen Mitglieder sowie auf mögliche Ausschließungs- und Befangenheitsgründe zusammenzusetzen.

 

(6) Die Entscheidungen des Disziplinarrats (Erkenntnisse, Beschlüsse) werden mit einfacher Stimmenmehrheit gefaßt. Die Disziplinarstrafen der Streichung von der Liste und der Untersagung der Ausübung der Rechtsanwaltschaft darf der Disziplinarrat nur verhängen, die einstweilige Maßnahme der vorläufigen Untersagung der Ausübung der Rechtsanwaltschaft nur beschließen, wenn alle oder wenn im Fall der Entscheidung im erweiterten Senat mindestens vier Senatsmitglieder dafür stimmen."

III. Sachverhalt und Antragsvorbringen

1. Der Antragsteller ist Rechtsanwalt in Wien. Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien vom 19. Februar 2020 wurde er schuldig erkannt, das Disziplinarvergehen der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes nach §1 Abs1 zweiter Fall DSt begangen zu haben, weil er ua die Justiz im Gesamten grob verunglimpft habe, und zwar insbesondere mit der Behauptung, dass "namentlich nicht genannte Richter staatsfeindlichen Verbindungen bzw kriminellen Organisationen angehören" würden. Hiefür wurde der Antragsteller gemäß §16 Abs1 Z3 DSt zur Disziplinarstrafe der Untersagung der Ausübung der Rechtsanwaltschaft für die Dauer von fünf Monaten verurteilt.

2. Gegen diese Entscheidung erhob der Antragsteller Berufung und stellte aus Anlass dieses Rechtsmittels unter einem den vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG gestützten Antrag.

2.1. Zur Zulässigkeit führt der Antragsteller aus, dass der nach dem DSt gebildete Disziplinarrat einer Rechtsanwaltskammer als "ordentliches Gericht" im Sinne des Art140 B‑VG aufzufassen sei, weil von diesem Begriff auch alle Sondergerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit erfasst seien. Überdies fungiere der Oberste Gerichtshof als Rechtsmittelinstanz des Disziplinarrates der jeweiligen Rechtsanwaltskammern, weshalb ein solcher Disziplinarrat zweifellos eine Gerichtsbehörde der ordentlichen Gerichtsbarkeit darstelle.

2.2. In der Sache behauptet der Antragsteller zusammengefasst, dass die Bestimmung des §15 Abs4 Satz 4 DSt gegen Art87 Abs3 B‑VG verstoße. Art87 Abs3 B‑VG lasse einen Eingriff in die feste Geschäftsverteilung der Gerichte nur durch einen Senat und überdies nur unter wesentlich restriktiver formulierten Voraussetzungen zu, als es §15 Abs4 Satz 4 DSt vorsehe. Überdies habe der Präsident des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien am 12. Februar 2020 einen Beschluss gefasst, wonach zwei nach der Geschäftsverteilung berufene Mitglieder des Disziplinarsenates "im Sinne des §15 Abs4 DSt verhindert" gewesen seien. Dadurch sei der Antragsteller seinen gesetzlichen Richtern entzogen worden.

3. Der Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien teilte mit, dass die Berufung rechtzeitig und zulässig erhoben wurde.

IV. Erwägungen

1. Der Antrag ist unzulässig.

2. Gemäß Art139 Abs1 Z4 B‑VG bzw Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Gesetzwidrigkeit von Verordnungen bzw die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auch auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung bzw eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels. Nach §57a Abs1 erster Satz bzw §62a Abs1 erster Satz VfGG kann eine Person, die als Partei in einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung bzw eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, einen Antrag stellen, die Verordnung als gesetzwidrig bzw das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben.

3. Der Disziplinarrat einer Rechtsanwaltskammer ist kein ordentliches Gericht im Sinne von Art139 Abs1 Z4 B‑VG bzw Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG, sondern eine Verwaltungsbehörde (s VfSlg 2902/1955).

4. Ein Erkenntnis des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien ist daher keine Entscheidung eines ordentlichen Gerichts. Dem Antragsteller fehlt es somit an der Legitimation zur Antragstellung nach Art139 Abs1 Z4 B‑VG bzw Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG, weshalb der Antrag schon aus diesem Grund zurückzuweisen ist.

5. Bei diesem Ergebnis hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, ob weitere Prozesshindernisse bestehen.

V. Ergebnis

1. Der Antrag ist als unzulässig zurückzuweisen.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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