VfGH G23/2014

VfGHG23/201425.9.2014

Zurückweisung des Antrags eines Verwaltungsgerichtes auf Aufhebung einer Bestimmung des VerwaltungsgerichtsverfahrensG über den Ausschluss der Akteneinsicht mangels Präjudizialität angesichts des Fehlens eines Antrags auf Akteneinsicht an das Verwaltungsgericht selbst

Normen

B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
VwGVG §21 Abs2
AVG §17 Abs3
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
VwGVG §21 Abs2
AVG §17 Abs3

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung

I. Anlassverfahren, Antrag und Vorverfahren

1. Mit dem vorliegenden, auf Art140 B‑VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol (im Folgenden: LVwG Tirol), "den 2. Satz des §21 Abs2 VwGVG, BGBI I Nr 33/2013 idF BGBI I Nr 122/2013, lautend 'In Aktenbestandteile, die im Verwaltungsverfahren von der Akteneinsicht ausgenommen waren, darf Akteneinsicht nicht gewährt werden.' als verfassungswidrig aufzuheben".

Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Beim LVwG Tirol ist ein Verfahren über eine Berufung (nunmehr Beschwerde) gegen einen Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Kufstein (im Folgenden: BH Kufstein) anhängig, mit dem einem – im Rahmen eines Verfahrens betreffend Entzug der Lenkberechtigung gestellten – Antrag des Berufungswerbers (nunmehr Beschwerdeführers) auf Akteneinsicht in vollem Umfang gemäß §17 Abs3 AVG keine Folge gegeben wurde. Die BH Kufstein begründet ihre Entscheidung damit, dass sich die Verweigerung der Akteneinsicht auf das Tatbestandsmerkmal der Schädigung berechtigter Interessen einer dritten Person beziehe. Der Beschwerdeführer führt in seiner Beschwerde an das LVwG Tirol im Wesentlichen aus, dass die Behörde keine Interessenabwägung vorgenommen und sich nicht ausreichend mit seinem Vorbringen auseinander gesetzt habe. Er beantragt, das LVwG Tirol möge "den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Kufstein […] dahingehend abändern, dass den[m] Antrag gemäß §17 Abs3 des AVG insofern Folge gegeben wird, als von der Akteneinsicht auch jene Schriftstücke umfasst sind, welche sich im Führerscheinakt […] im mit 'gemäß §17 AVG von der Akteneinsicht ausgenommen' beschrifteten Kuvert befindet[n], in eventu den Bescheid aufzuheben und zur neuerlichen Entscheidung an die erstinstanzliche Behörde zurückzuverweisen."

2. Bei Behandlung dieser Beschwerde sind beim LVwG Tirol Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des zweiten Satzes des §21 Abs2 VwGVG entstanden.

2.1. Zur Frage der Präjudizialität wird ausgeführt, dass "die Sache" auf Sachverhaltsebene entscheidungsreif sei und das LVwG Tirol §21 Abs2 VwGVG bei der Lösung der verfahrenswesentlichen Rechtsfrage, nämlich, ob dem Beschwerdeführer volle Akteneinsicht gewährt werden könne, anzuwenden habe.

2.2. In der Sache bringt das LVwG Tirol unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes VfSlg 19.730/2012 im Wesentlichen vor, dass §21 Abs2 VwGVG gegen den in Art6 EMRK enthaltenen Grundsatz der Waffengleichheit verstoße: Im anhängigen Verfahren bestünden die zentralen Fragen darin, ob die Verweigerung der Akteneinsicht rechtmäßig erfolgt sei und ob ein Dokument von der Akteneinsicht ausgenommen werden dürfe, wenn die Behörde auf Grund dieser Information konkrete Anordnungen getroffen habe. Der Beschwerdeführer sei gegenüber der Behörde insofern benachteiligt, als diese in Kenntnis des von der Akteneinsicht ausgenommenen Dokumentes weitere Ermittlungsschritte gesetzt habe. Dadurch, dass der Beschwerdeführer die das Verfahren auslösenden Beweismittel nicht kenne, sei er im weiteren Verfahren "völlig blockiert". Gemäß §21 Abs2 VwGVG "schlage die Verweigerung der Akteneinsicht im verwaltungsbehördlichen Verfahren auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren durch". §21 Abs2 VwGVG gehe von einer die Verwaltungsgerichte bindenden, absoluten Entscheidung der Verwaltungsbehörden aus. Ein Bescheid, durch den einer Partei die Akteneinsicht in bestimmte Dokumente verweigert werde, könne vom Verwaltungsgericht inhaltlich nicht überprüft werden.

Massive Bedenken bestünden zudem zur grundsätzlichen Frage, ob Verwaltungsgerichte an die behördliche Verweigerung der Akteneinsicht in einzelne Dokumente zwingend gebunden werden könnten: Die Verfügung, Aktenbestandteile von der Akteneinsicht auszunehmen, sei regelmäßig im Rahmen des Ermittlungsverfahrens, bei der Feststellung des verfahrenswesentlichen Sachverhaltes, von Bedeutung. Indem den Verwaltungsgerichten nun nur mehr die Möglichkeit der kassatorischen Überprüfung – ob die Verweigerung der Akteneinsicht rechtmäßig erfolgt sei oder nicht – bleibe, würden sich verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die Rechtsschutzeffizienz ergeben. Insbesondere "in reinen Aktenverfahren" sei die Akteneinsicht unabdingbare Voraussetzung für die Wahrung der Rechte und rechtlichen Interessen der Parteien. Unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 16. September 2013, B361/2013, behauptet das LVwG Tirol, dass mit exzessiven Verfahrensverzögerungen zu rechnen sei, wenn bereits auf der Ebene des behördlichen Ermittlungsverfahrens in Form des rein kassatorischen Rechtsschutzes gesetzliche Hürden errichtet würden, was mit der von Art47 GRC geforderten vollen Kognitionsbefugnis nicht vereinbar sei.

3. Die Bundesregierung, die Salzburger Landesregierung und die Tiroler Landesregierung erstatteten Äußerungen, in denen sie die gänzliche Zurückweisung des Antrags beantragen bzw. den darin dargelegten Bedenken mit näherer Begründung entgegentreten.

3.1. Zur Zulässigkeit des Antrags bringt die Bundesregierung zusammengefasst vor, dass das LVwG Tirol die Aufhebung des §21 Abs2 zweiter Satz VwGVG, BGBl I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, und damit die Aufhebung der Fassung einer nicht in Geltung stehenden Gesetzesbestimmung beantrage. §21 Abs2 zweiter Satz VwGVG stehe nämlich seit 1. Jänner 2014 in der Stammfassung in Geltung und sei durch das Bundesgesetz BGBl I 122/2013 nicht geändert worden. Die Bundesregierung verkenne nicht, dass der Verfassungsgerichtshof die Formerfordernisse des §62 Abs1 erster Satz VfGG in seiner Rechtsprechung eher großzügig auslege, jedoch könne die Einführung der zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit dem Verfassungsgerichtshof Anlass dazu geben, diese Rechtsprechung zu überdenken. Bei Anwendung eines objektiven Sorgfaltsmaßstabes könne von einem zur Anfechtung genereller Normen beim Verfassungsgerichtshof befugten Verwaltungsgericht erwartet werden, dass es in der Lage ist, die richtige Fassung der von ihm anzuwendenden Gesetzesbestimmung zu identifizieren und ein in sich widerspruchsfreies Anfechtungsbegehren zu formulieren.

Weder die Behörde noch das LVwG Tirol hätten zudem §21 Abs2 zweiter Satz VwGVG in der von ihnen zu erlassenden Sachentscheidung anzuwenden gehabt: Die BH Kufstein habe diese Bestimmung gar nicht anwenden können, weil sie im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides noch gar nicht in Geltung gestanden sei. Gegenstand des Berufungsverfahrens vor dem antragstellenden Verwaltungsgericht und damit der von diesem zu treffenden Entscheidung sei nicht die Gewährung oder Verweigerung der Akteneinsicht im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht gemäß §21 VwGVG (mit anderen Worten: die Entscheidung über einen Antrag auf Akteneinsicht gemäß §21 VwGVG), sondern die Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren gemäß §17 AVG durch die Verwaltungsbehörde (mit anderen Worten: die Entscheidung über einen Antrag auf Akteneinsicht gemäß §17 AVG). Für die Beantwortung der Frage, ob die Verwaltungsbehörde die Einsicht in den Verwaltungsakt gemäß §17 AVG rechtmäßig verweigert habe, sei §21 VwGVG nicht maßgeblich, weil diese Bestimmung regle, unter welchen Voraussetzungen das Verwaltungsgericht in den Gerichtsakt (Abs1) bzw. in von den Behörden vorgelegte Akten (Abs2) Einsicht zu gewähren habe. §21 VwGVG könne denkmöglich nur dann präjudiziell sein, wenn und insoweit das Verwaltungsgericht über einen an das Verwaltungsgericht selbst gerichteten Antrag auf Akteneinsicht (mit verfahrensleitendem Beschluss oder in der Hauptsache ergehendem Erkenntnis) zu entscheiden hätte; dies sei hier jedoch nicht der Fall. Die Annahme des antragstellenden Verwaltungsgerichtes, es habe im Anlassfall §21 VwGVG anzuwenden, sei denkunmöglich und diese Bestimmung für die von ihm zu treffende Entscheidung daher nicht präjudiziell.

3.2. Die Tiroler Landesregierung bringt zur Zulässigkeit des Antrags im Wesentlichen vor, dass beim LVwG Tirol ein Verfahren betreffend eine Beschwerde gegen einen Bescheid anhängig sei, mit dem einem Antrag auf Akteneinsicht keine Folge gegeben wurde. Dies bedeute nicht, dass beim antragstellenden Verwaltungsgericht auch die Entscheidung im zugrunde liegenden Verfahren bekämpft worden sei – im Rahmen dessen ein Antrag auf Akteneinsicht beim Verwaltungsgericht selbst gestellt werden könne – oder dass der Beschwerdeführer nunmehr beim LVwG Tirol selbst Akteneinsicht begehrt habe. Gegenstand des Verfahrens vor dem LVwG Tirol sei somit die Frage der Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Akteneinsicht gemäß §17 Abs3 AVG. Inwieweit §21 Abs2 zweiter Satz VwGVG bei der Lösung dieser Rechtsfrage anzuwenden sein solle, könne nicht nachvollzogen werden. Im anhängigen Verfahren könne §21 Abs2 zweiter Satz VwGVG schon deshalb nicht zur Anwendung kommen, weil die Frage, ob das Aktenstück, hinsichtlich dessen die Akteneinsicht bescheidmäßig verweigert worden sei, von der Akteneinsicht ausgenommen sei oder nicht, noch gar nicht geklärt, sondern eben erst Gegenstand des beim antragstellenden Verwaltungsgericht anhängigen Verfahrens sei. Dieser Aktenbestandteil sei somit noch gar nicht von der Akteneinsicht ausgenommen, sondern habe es das Verwaltungsgericht selbst in der Hand, darüber zu befinden. Dementsprechend könne §21 Abs2 zweiter Satz VwGVG im anhängigen Verfahren auch nicht denkmöglich zur Anwendung kommen.

4. Das Verwaltungsgericht Wien erstattete eine Äußerung, in der es sich dem Antrag des LVwG Tirol mit näherer Begründung vollinhaltlich anschließt.

II. Rechtslage

1. §21 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), in der zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Fassung, BGBl I 33/2013, lautet wie folgt (der angefochtene Satz ist hervorgehoben):

"Akteneinsicht

§21. (1) Entwürfe von Erkenntnissen und Beschlüssen des Verwaltungsgerichtes und Niederschriften über etwaige Beratungen und Abstimmungen sind von der Akteneinsicht ausgenommen.

(2) Die Behörden können bei der Vorlage von Akten an das Verwaltungsgericht verlangen, dass bestimmte Akten oder Aktenbestandteile im öffentlichen Interesse von der Akteneinsicht ausgenommen werden. In Aktenbestandteile, die im Verwaltungsverfahren von der Akteneinsicht ausgenommen waren, darf Akteneinsicht nicht gewährt werden. Die Behörde hat die in Betracht kommenden Aktenbestandteile bei Vorlage der Akten zu bezeichnen."

2. §17 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG), BGBl 51/1991 idF BGBl I 33/2013, lautet wie folgt:

"Akteneinsicht

§17. (1) Soweit in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, können die Parteien bei der Behörde in die ihre Sache betreffenden Akten Einsicht nehmen und sich von Akten oder Aktenteilen an Ort und Stelle Abschriften selbst anfertigen oder auf ihre Kosten Kopien oder Ausdrucke erstellen lassen. Soweit die Behörde die die Sache betreffenden Akten elektronisch führt, kann der Partei auf Verlangen die Akteneinsicht in jeder technisch möglichen Form gewährt werden.

(2) Allen an einem Verfahren beteiligten Parteien muß auf Verlangen die Akteneinsicht in gleichem Umfang gewährt werden.

(3) Von der Akteneinsicht sind Aktenbestandteile ausgenommen, insoweit deren Einsichtnahme eine Schädigung berechtigter Interessen einer Partei oder dritter Personen oder eine Gefährdung der Aufgaben der Behörde herbeiführen oder den Zweck des Verfahrens beeinträchtigen würde.

(4) Die Verweigerung der Akteneinsicht gegenüber der Partei eines anhängigen Verfahrens erfolgt durch Verfahrensanordnung."

III. Erwägungen

1. Der Antrag ist nicht zulässig.

Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw. des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Aus den Verwaltungs- und Gerichtsakten geht hervor, dass beim LVwG Tirol ein Beschwerdeverfahren gegen einen Bescheid anhängig ist, mit dem einem Antrag auf Akteneinsicht gemäß §17 Abs3 AVG keine Folge gegeben wurde. Den Akten lässt sich nicht entnehmen, dass beim LVwG Tirol selbst ein Antrag auf Akteneinsicht gestellt worden wäre. Gegenstand des beim LVwG Tirol anhängigen Verfahrens ist daher ausschließlich die Frage der Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Akteneinsicht durch die BH Kufstein, nicht aber das Ausgangsverfahren betreffend den Entzug der Lenkberechtigung. Dabei hat das LVwG Tirol zu überprüfen, ob die BH Kufstein §17 Abs3 AVG richtig angewendet hat, indem sie die Einsicht in den Verwaltungsakt verweigert hat. Für die Beantwortung dieser Frage hat das LVwG Tirol §21 VwGVG denkmöglich nicht anzuwenden. Die Gewährung von Akteneinsicht nach §21 VwGVG setzt einen entsprechenden Antrag auf Akteneinsicht an das Verwaltungsgericht selbst voraus, der in dem bei LVwG Tirol anhängigen, dem Antrag des LVwG Tirol gemäß Art140 B‑VG zugrunde liegenden, Verfahren nicht gestellt wurde. Die angefochtenen Bestimmungen sind daher im vorliegenden Fall nicht präjudiziell.

IV. Ergebnis

1. Der Antrag ist aus den dargelegten Gründen als unzulässig zurückzuweisen.

2. Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

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