EGMR Bsw39315/06

EGMRBsw39315/0622.11.2012

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Telegraaf Media Nederland Landelijke Media B.V. u.a. gg. die Niederlande, Urteil vom 22.11.2012, Bsw. 39315/06.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK, Art. 10 EMRK - Schutz journalistischer Quellen vor Offenlegung.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 10 EMRK hinsichtlich des Einsatzes von Sonderbefugnissen gegenüber dem Zweit- und DrittBf. (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK hinsichtlich der Anordnung zur Herausgabe der Dokumente gegenüber der ErstBf. (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 60.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Begründung

Sachverhalt:

Die Erstbf. ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach niederländischem Recht, die Herausgeber der Tageszeitung De Telegraaf ist. Der Zweit- und DrittBf. sind Journalisten dieser Zeitung.

Am 21.1.2006 veröffentlichte De Telegraaf einen Artikel beider Journalisten über ihre Recherche bezüglich des niederländischen Geheimdienstes. Dieser deutete darauf hin, dass die Zeitung Dokumente besaß, die belegten, dass hoch vertrauliche Geheimdienstinformationen im kriminellen Milieu von Amsterdam im Umlauf seien. Die Ausgabe enthielt außerdem den Decknamen des Informanten und den Hinweis, dass noch ein weiterer Informant tätig sei. In den folgenden Tagen veröffentlichte De Telegraaf weiteres Material, unter anderem zu Treffen von Kriminellen und Ministern und zur Weitergabe hoch vertraulicher Informationen durch Geheimdienstbeamte. Am 23.1.2006 teilte De Telegraaf mit, dass der Geheimdienst wegen der unrechtmäßigen Bekanntgabe von Staatsgeheimnissen Klage erhoben habe.

Am 26.1.2006 wies die Behörde für interne Ermittlungen die ErstBf. an, ihr die genannten Dokumente bzw. deren Kopien auszuhändigen. Am 31.1.2006 kamen der Rechtsanwalt der ErstBf. und die Staatsanwaltschaft zu der Einigung, die Identität der Informationsquelle solange zu schützen bis das Gericht beurteilen könne, ob zum Schutz der Quelle von der Herausgabeanordnung abgesehen werden müsse. Da die Dokumente Fingerabdrücke oder andere Spuren zur Identifizierung aufweisen könnten, wurden diese von einem Notar in einem versiegelten Behältnis an den Untersuchungsrichter übergeben und bis zum Ausgang des Verfahrens in einem Safe aufbewahrt.

Die ErstBf. erhob am 23.2.2006 Klage gegen die Herausgabeanordnung beim Landesgericht Den Haag, die am 31.3.2006 abgewiesen wurde. Die Revision der ErstBf. gegen diese Entscheidung wurde am 25.3.2008 vom Obersten Gerichtshof abgewiesen.

Am 7.6.2006 begehrten die Bf. vorläufigen Rechtsschutz, der am 21.6.2006 gewährt wurde. Die Bf. brachten vor, dass die beiden Journalisten seit Januar 2006 wahrscheinlich von Geheimdienstbeamten telefonisch abgehört und überwacht würden, was die Regierung weder bestritt noch bestätigte. Die Regierung erhob gegen die Entscheidung Berufung, der am 31.8.2006 stattgegeben wurde.

Sowohl die Regierung als auch die Bf. erhoben Revision vor dem Obersten Gerichtshof, die am 11.7.2008 abgewiesen wurde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch den Gebrauch von Sonderbefugnissen zur Überwachung der Zweit- und DrittBf. sowie durch die Anordnung gegenüber der ErstBf. zur Herausgabe von Dokumenten, die die journalistische Quelle identifizieren könnten.

Der Gebrauch von Sonderbefugnissen

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Die Parteien sind sich darüber einig, dass ein Eingriff in die Rechte der Zweit- und DrittBf. nach Art. 8 und 10 EMRK vorliegt, aber nicht, wie dieser zu qualifizieren ist. Der GH akzeptiert zwar die Behauptung der Regierung, dass es bei der Identifizierung der Quelle hauptsächlich darum ging, die undichte Stelle in den eigenen Reihen zu finden und zu schließen, jedoch sieht er dies nicht als entscheidend an. Er versteht unter einer »journalistischen Quelle« »jede Person, die einem Journalisten Informationen zur Verfügung stellt«. Eine »Information zur Identifizierung einer Quelle« beinhaltet nach seiner Ansicht, sofern sie voraussichtlich zu dieser führen, sowohl »die faktischen Umstände der Erlangung einer Information aus einer Quelle durch einen Journalisten«, als auch »den unveröffentlichten Inhalt der Information, die einem Journalisten durch eine Quelle verfügbar gemacht wird«. Der GH muss somit feststellen, dass der Geheimdienst durch den Gebrauch von Sonderbefugnissen den Schutz der Quelle umgehen wollte.

Auch wenn Überwachungsmaßnahmen üblicherweise nur gemäß Art. 8 EMRK beurteilt werden, hängen die Fragen des vorliegenden Falles derartig mit Art. 10 EMRK zusammen, dass eine Prüfung gemäß beider Artikel angemessen ist. Fraglich ist, ob die Eingriffe »gesetzlich vorgesehen« iSd. Art. 8 und Art. 10 EMRK sind. Insbesondere wenn wie im vorliegenden Fall die Exekutive geheim handelt, besteht ein offensichtliches Risiko von Willkür. Da die praktische Umsetzung geheimer Überwachungsmaßnahmen von den betroffenen Personen oder der Öffentlichkeit nicht überprüft werden kann, wäre es mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar, wenn sich das der Exekutive gesetzlich eingeräumte Ermessen in uneingeschränkten Kompetenzen ausdrücken würde. Folglich muss ein gesetzlicher Rahmen für eine nachvollziehbare Ausführung solcher Maßnahmen unter Berücksichtigung eines legitimen Ziels und eines geeigneten Rechtsschutzes gegen Willkür für die betroffene Person bestehen.

Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Gesetz nicht zugänglich war. Der GH stellt fest, dass der Eingriff eine ausreichende gesetzliche Grundlage im nationalen Recht, nämlich Art. 6 Abs. 2 lit. a des niederländischen Geheimdienst-Gesetzes 2002, hat. Die Möglichkeit einer Überwachung der Bf. war dahingehend nicht vorhersehbar, dass ihre Situation nicht unter einen bestimmten Tatbestand zu subsumieren war. Auch wenn die Bf. nicht der Ansicht waren, dass ihr Verhalten eine Bedrohung der niederländischen demokratischen Rechtsordnung darstellte, mussten sie sich darüber im Klaren sein, dass es sich bei den Informationen in ihrem Besitz um echte Geheimdienstinformationen handelte, die unrechtmäßig in Umlauf gebracht wurden, und deren Veröffentlichung Nachforschungen bezüglich ihres Ursprungs provozieren würde. Insofern sieht der GH den Eingriff als vorhersehbar an.

Die nationale Kontrolle im Hinblick auf Überwachungsmaßnahmen sehen die Bf. nicht generell als ungenügend an, jedoch bringen sie vor, dass aufgrund ihres Status als Journalisten spezielle Schutzmaßnahmen vorliegen müssen. Anders als im Fall Weber und Saravia/D, wo die Überwachungsmaßnahmen nicht auf die Offenlegung journalistischer Quellen abzielten, geht es im vorliegenden Fall um die gezielte Überwachung von Journalisten, um festzustellen, woher diese ihre Informationen erhalten haben.

Der GH hat bereits zu erkennen gegeben, dass in einem Bereich, in dem ein Missbrauch in Einzelfällen besonders leicht ist und derartig große Auswirkungen für eine demokratische Gesellschaft als Ganze haben kann, es wünschenswert ist, einen Richter mit der Kontrolle von Überwachungsmaßnahmen zu betrauen.

Im vorliegenden Fall wurde der Einsatz von Sonderbefugnissen nach Aussage eines Regierungsbeamten in der mündlichen Verhandlung durch den Innenminister oder führende Beamte des Geheimdienstes genehmigt, jedoch jedenfalls ohne eine vorherige Prüfung durch ein unabhängiges Organ, das den Einsatz hätte untersagen oder beenden können. Darüber hinaus kann eine nachträgliche Überprüfung die Vertraulichkeit einer journalistischen Quelle nicht wiederherstellen, wenn diese bereits zerstört ist.

Der GH stellt daher fest, dass keine ausreichenden gesetzlichen Schutzmaßnahmen gegen den Gebrauch von Sonderbefugnissen gegen Journalisten zur Feststellung ihrer journalistischen Quellen bestehen. Es liegt folglich eine Verletzung von Art. 8 und 10 EMRK gegenüber den Zweit- und DrittBf. vor (einstimmig).

Die Anordnung zur Herausgabe der Dokumente

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Es ist unbestritten, dass ein Eingriff in das Recht der ErstBf. besteht, Informationen zu erhalten und zu verbreiten. Im Hinblick auf verfahrensrechtliche Schutzmaßnahmen ist der GH der Ansicht, dass der vorliegende Fall insofern vom Fall Sanoma Uitgevers B.V./NL abweicht, als die Dokumente durch einen Notar versiegelt und dem Untersuchungsrichter übergeben wurden, womit die Bf. und der Staatsanwalt auch einverstanden waren. Da dieser Vorgang gemäß Art. 552a der niederländischen StPO und die vorherige Anordnung zur Herausgabe der Dokumente gemäß Art. 96a der niederländischen StPO eine gesetzliche Grundlage haben, ist der Eingriff als »gesetzlich vorgesehen« zu beurteilen.

Unbestritten ist weiters, dass das Ziel des Eingriffs letztendlich der Schutz der nationalen Sicherheit und die Verhinderung von Verbrechen war.

Die Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, wird danach beurteilt, ob eine dringende gesellschaftliche Notwendigkeit besteht, ob er verhältnismäßig zum verfolgten Ziel ist und ob die zur Rechtfertigung vorgebrachten Gründe der Regierung erheblich und ausreichend sind. Bei der Beurteilung kommt den Staaten ein gewisser Ermessensspielraum zu.

Der Schutz journalistischer Quellen ist eine der grundlegenden Voraussetzungen der Pressefreiheit. Ohne diesen Schutz könnten Quellen davon abgehalten werden, die Presse dabei zu unterstützen, die Öffentlichkeit mit Informationen in ihrem Interesse zu versorgen. Dadurch könnte die entscheidende Rolle der Presse als »public watchdog« untergraben werden und die Möglichkeit der Presse zur Informationsbereitstellung würde nachteilig beeinflusst. Im Hinblick auf die Bedeutung des Schutzes journalistischer Quellen für die Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft und den potenziell abschreckenden Effekt, den eine Offenlegung von Quellen auf diese Freiheit haben kann, ist eine solche Maßnahme nur bei Rechtfertigung durch ein vorrangiges öffentliches Interesse mit Art. 10 EMRK vereinbar.

Es mag zutreffen, dass die öffentliche Wahrnehmung des Grundsatzes der Nichtoffenlegung journalistischer Quellen keinen wirklichen Schaden nehmen würde, wenn er unter Umständen nicht berücksichtigt würde, wo eine Quelle nachweislich in betrügerischer Absicht gehandelt hat. Dennoch sollten Gerichte einen solchen Fall ohne zwingende Beweise nicht vorschnell annehmen. Der GH betont, dass das Verhalten einer Quelle keinesfalls für die Anordnung der Offenlegung entscheidend sein kann, sondern nur einen – wenn auch wichtigen – von mehreren Faktoren bei der Beurteilung eines fairen Interessenausgleichs iSd. Art. 10 Abs. 2 EMRK darstellt.

Im vorliegenden Fall hat der Staatsanwalt vor dem Landesgericht erklärt, dass das primäre Ziel der Herausgabeanordnung die Rückgabe an den Geheimdienst sei, dass aber eine dadurch bestehende Möglichkeit zur Untersuchung der Dokumente auf Spuren genutzt werde. Jedoch könnten die Täter auch ohne eine genaue technische Untersuchung der Dokumente gefunden werden, nämlich durch die Einsichtnahme in die Dokumente und die Prüfung, welche Personen zu ihnen Zugang hatten. Somit kann die Anordnung zur Herausgabe nicht durch die notwendige Identifizierung der Beamten des Geheimdienstes gerechtfertigt werden.

Auch wenn nicht der gesamte Inhalt der Dokumente an die Öffentlichkeit gelangte, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Informationen bereits länger außerhalb des Geheimdienstes im Umlauf waren und Kriminelle dazu Zugang hatten. Auch wenn die Dokumente aus dem Verkehr gezogen werden, kann nicht verhindert werden, dass die darin enthaltenen Informationen wie die Decknamen der Informanten in die falschen Hände geraten.

Es besteht weiterhin das Bedürfnis des Geheimdienstes zu überprüfen, ob alle Dokumente, die ihm entwendet wurden, aus dem Verkehr gezogen wurden. Der GH akzeptiert, dass dies ein legitimes Anliegen ist. Jedoch kann dies kein vorrangiges öffentliches Interesse zur Rechtfertigung der Offenlegung einer journalistischen Quelle darstellen. Der GH ist der Ansicht, dass das Aushändigen der Dokumente nicht nötig ist, da es sich dabei um Kopien der Originale handelt und eine Einsichtnahme zur Prüfung der Echtheit und eine darauffolgende Zerstörung ausreichend sind.

Insgesamt bestehen keine maßgeblichen und ausreichenden Gründe für den Eingriff und es liegt daher eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (5:2 Stimmen, Sondervotum der Richter Myjer und López Guerra).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 60.000 ,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Observer and Guardian/GB v. 26.11.1991 = NL 1992/1, 16 = EuGRZ 1995, 16 = ÖJZ 1992, 378

Weber u. Saravia/D v. 29.6.2006 (ZE) = NL 2006, 177

Financial Times Ltd. u.a./GB v. 15.12.2009 = NL 2009, 368

Sanoma Uitgevers B.V./NL v. 14.9.2010 (GK) = NL 2010, 286

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.11.2012, Bsw. 39315/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 381) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_6/Telegraaf Media Nederland.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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