1. Vertraulichkeitsschutz als allgemeiner Rechtsgrundsatz
1.1. Im Überblick
In der bisherigen Analyse wurde gezeigt, in welcher Form und in welcher Ausprägung das Berufsgeheimnis von rechtsberatenden Berufen im nationalen (Verfassungs-)Recht abgesichert ist. Freilich ist nicht nur im österreichischen, sondern auch in zahlreichen anderen (europäischen) Rechtssystemen ein derartiger Berufsgeheimnisschutz für Rechtsberater vorgesehen.1235 Insb die Verschwiegenheitspflicht wird in vielen Staaten als grundlegendes Rechtsprinzip verstanden,1236 wenngleich deren Reichweite je nach Rechtssystem und Rechtstradition merkliche Unterschiede aufweisen kann.1237 Im Jahr 1982 hat der EuGH den länderübergreifenden Grundsatz des Berufsgeheimnisschutzes aufgegriffen und in der Entscheidung AM&S1238 ausgesprochen, dass der Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Klienten im Gemeinschaftsrecht (nunmehr Unionsrecht) anerkannt und mangels ausdrücklichen Grundrechts als allgemeiner Rechtsgrundsatz zu verstehen ist. Die AM&S Rsp-Linie wurde vom EuGH in darauffolgenden Urteilen bestätigt und weiter präzisiert. Neben dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Vertraulichkeit schützen auch die europäischen Grundrechte nach der GRC, die im Rang des Primärrechts stehen, die Vertrauenssphäre zwischen Rechtsberater und Klienten. Als einschlägige Grundrechtsgarantien sind insb die Art 7, 8 sowie 47 GRC zu nennen.1239 Um die exakten Konturen des Berufsgeheimnisschutzes von Rechtsberatern auf Unionsrechtsebene zu bestimmen, soll hierfür im Nachfolgenden die einschlägige Judikatur des Gerichtshofs, gefolgt von den genannten Grundrechten, näher untersucht werden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse liefern gleichzeitig eine Antwort darauf, in welchem Umfang nationale und unionale Institutionen (wie Legislative und Exekutive) das im Primärrecht verankerte Berufsgeheimnis von Rechtsberatern zu beachten haben.

