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1. Ausgangslage und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

Moldaschl1. AuflAugust 2024

1.1. Einleitung

Das vorrangige Ziel der Europäischen Union besteht in der Schaffung und der Erhaltung eines funktionierenden Binnenmarkts.11 Vgl Präambel sowie Art 3 Abs 3 EUV und Art 26 AEUV. Dieser umfasst insbesondere die Ausübung der Freizügigkeiten zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten ohne Hemmnisse.22 Vgl Art 26 Abs 2 AEUV, wonach “[d]er Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen [umfasst], in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist.“ Eine Beschränkung der Grundfreiheiten kann bei Vorliegen eines das Allgemeininteresse betreffenden Grundes allerdings gerechtfertigt sein. Siehe zur diesbezüglichen Rsp des EuGH ua bei Windisch-Graetz in Jaeger/Stöger, EUV/AEUV, Art 48 AEUV, Rz 11. In seinen Anfängen von der Idee der Integration der europäischen Wirtschaft geleitet,33 Vgl Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit den Römischen Verträgen, wonach als Ziele ua die Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten sowie eine Wirtschaftsausweitung und größere Stabilität definiert wurden. Siehe dazu Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 2. Die europäische Wirtschaftsintegration 1952 –1992, Rz 1 ff. Vgl auch Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa 17. wurde dem sozialen Aspekt bei der Schaffung des Binnenmarktes vorerst allerdings kaum Beachtung geschenkt.44 Vgl Korte in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV6 Art 26 AEUV, Rz 9; Piska in Jaeger/Stöger, EUV/AEUV, Art 26 AEUV, Rz 9. Zum Teil wird der Sozialpolitik in der Europäischen Union auch noch heute bzw in der kürzeren Vergangenheit eine bloß nebensächliche Rolle in Bezug auf die Europäische Integration zugesprochen. Vgl Becker, in Becker/Schön, Steuer- und Sozialstaat im europäischen Systemwettbewerb 3 (9 f); Waldhoff, in Becker/Schön, Steuer- und Sozialstaat im europäischen Systemwettbewerb 193 (208) mwN. Die Sozialpolitik wurde bloß als ergänzendes Instrument in der Verwirklichung der wirtschaftlichen Integration und damit bei der Schaffung des Binnenmarkts betrachtet. Die Mitgliedstaaten blieben somit weiterhin weitgehend frei in der Ausgestaltung ihrer eigenen Sozialpolitiken.55 De Witte, in Koutrakos/Snell, Research Handbook on The Law of the EU’s Internal Market 117 (122 f). Lediglich Vorschriften zur Leistung von gleichem Entgelt bei gleicher Arbeit für Männer und Frauen waren auf Europäischer Ebene vorgesehen. Vgl Art 119 EWG. Die Maßnahmen auf Europäischer Ebene sollten in erster Linie jedoch nur der Vermeidung von wirtschaftlichen Härten Einzelner am Markt dienen als Wettbewerbsverzerrungen im Allgemeinen zu verhindern. Dieses Versäumnis führte im Ergebnis zwar zu einem wirtschaftlich integrierten Markt. Allerdings wies dieser zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten zahlreiche unterschiedliche Sozialpolitiken auf, die aufgrund des Wettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten in einem Downlevelling der nationalen Standards mündeten.66 De Witte, in Koutrakos/Snell, Research Handbook on The Law of the EU’s Internal Market 117 (117). Die Entwicklungen erwiesen sich damit nicht nur für einzelne Wirtschaftsakteure und Arbeitgeber wie Arbeitnehmer als problematisch, sondern beeinträchtigten die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten untereinander.77 De Witte, in Koutrakos/Snell, Research Handbook on The Law of the EU’s Internal Market 117 (124). Politische Autonomie im Bereich des Sozialrechts und damit die beträchtlichen Unterschiede in den Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten wurden daher zunehmend als Gefahr für den funktionierenden Binnenmarkt wahrgenommen. Die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte wiesen folglich, teilweise von der grundfreiheitlichen Rsp des EuGH und zum Teil von der Finanzkrise geprägt, eine Trendumkehr auf.88 De Witte, in Koutrakos/Snell, Research Handbook on The Law of the EU’s Internal Market 117 (117). Im Mittelpunkt steht seither neben Mindestharmonisierung99 „[…] die Union [hat] sich in den letzten Jahren erfolgreich bemüht […], in vielen Sozialbereichen gemeinschaftsweit verbindliche und einklagbare Mindeststandards zu setzen, um die europäische Sozialpolitik auszugestalten. Mindeststandards sind ein geeignetes Instrument, um stufenweise, unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungskraft der Mitgliedstaaten, wirtschaftliche und soziale Konvergenz zu verwirklichen.“ Vgl Entschließung des Rates vom 6. Dezember 1994 zu bestimmten Perspektiven einer Sozialpolitik der Europäischen Union, Rz 10. Weiter dazu Barnard, EU Employment Law4 61 ff. und Sozialrechtskoordinierung1010 So zB die Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, zur multilateralen Überwachung und zur Verhinderung von Ungleichgewichten auf makroökonomischer Ebene. Vgl De Witte, in Koutrakos/Snell, Research Handbook on The Law of the EU’s Internal Market 117 (129). insb der veränderte Stellenwert des Sozialrechts.1111 Auch von Eichenhofer im Zuge der politischen Aktivitäten der Europäischen Union in den frühen 2000er Jahren beobachtet. Siehe Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa 17. Nach dem neuen Verständnis des Europäischen Sozialrechts stellen autonom ausgestaltete nationale Sozialpolitiken ein Risiko für den Binnenmarkt dar. Der Autonomie der Mitgliedstaaten wird bei der Rechtsetzung im Bereich des Sozialrechts daher nicht mehr ein besonderes Schutzbedürfnis beigemessen, sondern es kommt vielmehr zu einer Einschränktung der Autonomie. Ziel ist die Konvergenz der nationalen Sozialpolitiken innerhalb der Europäischen Union. Insgesamt führten die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu einer Stärkung der Rolle der Sozialpolitik innerhalb der Europäischen Union.1212 De Witte, in Koutrakos/Snell, Research Handbook on The Law of the EU’s Internal Market 117 (132); Deutscher Bundestag, Die soziale Dimension in der Europäischen Union, Drucksache 13/2040, 20.07.1995, 2 ff; Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa 17.

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