Normen
AVG §52
BBG 1990 §40 Abs1
BBG 1990 §42
BBG 1990 §42 Abs1
BBG 1990 §45
Behindertenpässe Ausstellung 2014 §1 Abs4
Behindertenpässe Ausstellung 2014 §1 Abs5
VwGG §42 Abs2 Z1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2024:RO2021110012.J00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Antrag der revisionswerbenden Behörde auf Kostenersatz wird abgewiesen.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte verfügt seit 16. Mai 2019 über einen Behindertenpass mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 60 %. Er stellte am 10. August 2020 bei der revisionswerbenden Behörde einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass. Diesen Antrag wies die Behörde mit Bescheid vom 15. April 2021 ab. Begründend führte sie nach Einholung zweier internistischer Sachverständigengutachten aus, die Voraussetzungen für die begehrte Zusatzeintragung lägen laut den schlüssigen Gutachten vom 28. Oktober 2020 und vom 9. März 2021 nicht vor.
2 Der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten wurde mit dem angefochtenen Erkenntnis stattgegeben und festgestellt, dass die Voraussetzungen für die beantragte Zusatzeintragung vorlägen. Unter einem wurde gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG zulässig sei.
3 Das Verwaltungsgericht stellte zusammengefasst fest, im Sachverständigengutachten vom 28. Oktober 2020 sei die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel durch den Mitbeteiligten als zumutbar erachtet worden. Im (internistischen) Aktengutachten vom 9. März 2021 sei festgehalten worden, dass keine Funktionsbeeinträchtigungen bestünden, die das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel verhinderten, und dass nach einer Herztransplantation eine lebenslange abwehrschwächende Behandlung erforderlich sei, wobei es durch die Verwendung moderner immunsupprimierender Medikamente Patienten allerdings erlaubt sei, weitgehend uneingeschränkt am öffentlichen und sozialen Leben teilzuhaben. Weiters sei in diesem Gutachten ausgeführt worden, dass eine vernünftige Infektionsprävention zumutbar sei und Abstoßungsreaktionen, die eine deutliche Erhöhung der abwehrschwächenden Behandlung erforderten, beim Mitbeteiligten nicht vorlägen.
4 Unter „Beweiswürdigung“ machte das Verwaltungsgericht ‑ ohne Quellenangabe ‑ allgemeine, auf „einschlägige Literatur“ gestützte Ausführungen zur Immunsuppression nach Transplantationen sowie (unter Bezugnahme auf zwei Artikel im deutschen Ärzteblatt) zur Situation Transplantierter in der Corona-Pandemie und zog daraus den Schluss, bei Patienten mit geschwächtem Immunsystem sei „folglich die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel gegeben“. Unter Bezugnahme auf die hg. Rechtsprechung zur genannten Zusatzeintragung sowie zu den Erfordernissen der ausreichenden Begründung von Sachverständigengutachten führte das Verwaltungsgericht weiter aus, die von der Revisionswerberin eingeholten Gutachten stünden „in krassem Widerspruch zu der gegenwärtigen Pandemie und der o.a. angeführten Fachliteratur“. Zudem widerspreche die gutachterliche Einschätzung einer uneingeschränkten sozialen Teilnahme des Mitbeteiligten der gutachterlichen Empfehlung, Menschenansammlungen zu meiden. Die Sachverständigengutachten stünden sohin mit den Erfahrungen des Lebens, der ärztlichen Wissenschaft, insbesondere den jüngeren Erkennntissen, und den Denkgesetzen in Widerspruch. Daher sei für Patienten mit geschwächtem Immunsystem (wie dem Mitbeteiligten) die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar.
5 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht zunächst aus, das Sachverständigengutachten sei „in freier Beweiswürdigung der Entscheidung des Gerichtes zu Grunde gelegt“ worden. Nach § 1 Abs. 4 Z 3 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II Nr. 495/2013, sei unter anderem zu erheben, ob eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems vorliege. Da die Aufzählung der zu berücksichtigenden Umstände in der Verordnung aber demonstrativ sei, seien auch Umstände, die, unabhängig von ihrer Ursache, zu einer Herabsetzung des Immunsystems führten, zu beachten. Daher sei „die Ermittlung der Ursachen, welche zu einer Unzumutbarkeit führen können in Punkt 2 der Seite 5 der Gutachtenvorlagen rechtswidrig bzw. ergänzungsbedürftig“. Das Vorbringen des Mitbeteiligten in der Beschwerde sei substantiell und geeignet gewesen, um die Aussagen der Sachverständigen zu entkräften. Eine Verhandlung habe entfallen können, weil „die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt“.
6 Die Zulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht wie folgt:
„[...] Aufgrund obiger Ausführungen, insbesondere der in der Beweiswürdigung und rechtlichen Beurteilung dargelegten Ansichten widerspricht es der bisher geübten Praxis der [belangten Behörde], die Eintragung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in den Behindertenpass zu verwehren. Nach Ansicht des Gerichtes stellt die Gewährung des Eintrages der Unzumutbarkeit bei ‚Transplantierten‘ eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung dar. Ebenfalls besteht diesbezüglich auch keine eindeutige Judikatur des VwGH.“
7 Dagegen wendet sich die vorliegende (ordentliche) Amtsrevision, zu der der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet und die Abweisung der Revision beantragt hat.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Zulässigkeit der Revision ergibt sich aus dem Zulässigkeitsvorbringen der Revisionswerberin, die das Abweichen des angefochtenen Erkenntnisses von näher zitierter hg. Judikatur zur Erforderlichkeit eines Sachverständigengutachtens und zur Verhandlungspflicht geltend macht.
10 Die Revision ist auch begründet.
11 Das Bundesbehindertengesetz (BBG), BGBl. Nr. 283/1990 idF BGBl. I Nr. 100/2018, lautet auszugsweise:
„BEHINDERTENPASS
§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn
...
§ 42. (1) ... Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.
...
§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluß der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.
(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.
...
§ 47. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpaß und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen.“
12 Die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II Nr. 495/2013 idF BGBl. II Nr. 263/2016, lautet auszugsweise:
„§ 1 ...
(4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen:
...
3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
...
- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder
...
- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder
...
vorliegen.
(5) Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines/einer ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.
...“
13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in einem Verfahren über die Berechtigung der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ ‑ unter Einbindung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden ‑ zu prüfen, ob der Betroffene dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt (vgl. VwGH 1.3.2016, Ro 2014/11/0024; 16.8.2016, Ra 2016/11/0013; 9.11.2016, Ra 2016/11/0137; 21.6.2017, Ra 2017/11/0040; 26.5.2020, Ra 2018/11/0230).
14 Das Verwaltungsgericht ist gegenständlich, wie dargestellt, den eingeholten ärztlichen Gutachten zur Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht gefolgt, hat dazu aber andererseits auch keine zusätzlichen Gutachten, die sein Ergebnis stützen könnten, eingeholt. Vielmehr meinte es, allein aufgrund zusätzlich eingeholter (aus den Akten nicht ersichtlicher) Auskünfte, einer Empfehlung des Nationalen Impfgremiums sowie näher bezeichneter medizinischer Fachartikel die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel bejahen und damit die medizinische Beurteilung aus Eigenem ‑ abweichend von den bereits vorliegenden Sachverständigengutachten ‑ vornehmen zu können.
15 Die Vorgangsweise des Verwaltungsgerichts widerspricht nicht nur § 1 Abs. 5 der zitierten Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, sondern auch der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, nach der das Verwaltungsgericht der Anforderung, seine Beurteilung auf ein schlüssiges und widerspruchsfreies Sachverständigengutachten zu stützen, nicht gerecht wird, wenn es dann, wenn es ein Sachverständigengutachten für nicht schlüssig erachtet, seine fachliche Beurteilung an die Stelle der Sachverständigenbeurteilung setzt. Vielmehr ist das Verwaltungsgericht in einem solchen Fall gehalten, den Amtssachverständigen unter Vorhalt seiner Überlegungen zur Ergänzung seines Gutachtens aufzufordern oder erforderlichenfalls ein weiteres Gutachten einzuholen (vgl. VwGH 14.10.2021, Ro 2020/11/0001, mwN).
16 Vor allem aber hat sich das Verwaltungsgericht auch über die hg. Judikatur zur Verhandlungspflicht hinweggesetzt und hat, trotz weiterer eigener, dem angefochtenen Erkenntnis zugrunde gelegter Recherchen zu den Beschwerden des Mitbeteiligten in Verkennung der Rechtslage die Ansicht vertreten, der Sachverhalt sei hinreichend geklärt (vgl. abermals VwGH 21.6.2017, Ra 2017/11/0040, und 14.10.2021, Ro 2020/11/0001).
17 Das angefochtene Erkenntnis ist daher ‑ unter mehreren Gesichtspunkten ‑ mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes behaftet und war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
18 Die Abweisung des Antrages der Revisionswerberin auf Kostenersatz beruht auf § 47 Abs. 4 VwGG.
Wien, am 28. Februar 2024
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