VwGH Ro 2017/21/0010

VwGHRo 2017/21/001026.4.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Samonig, über die Revision des J O, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Jänner 2017, Zl. W171 2141894- 2/6E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

32013R0604 Dublin-III Art2 litn;
32013R0604 Dublin-III Art21;
32013R0604 Dublin-III Art22;
32013R0604 Dublin-III Art23;
32013R0604 Dublin-III Art24;
32013R0604 Dublin-III Art25;
32013R0604 Dublin-III Art27 Abs3 ;
32013R0604 Dublin-III Art27 Abs3 lita;
32013R0604 Dublin-III Art27 Abs3 litb;
32013R0604 Dublin-III Art27 Abs3 litc;
32013R0604 Dublin-III Art28 Abs3;
32013R0604 Dublin-III Art28;
62016CJ0060 Khir Amayry VORAB;
BFA-VG 2014 §16 Abs2 Z1;
BFA-VG 2014 §16 Abs4;
BFA-VG 2014 §17 Abs1;
EURallg;
FrPolG 2005 §76 Abs3;
VwRallg;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RO2017210010.J00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Schubhaftbeschwerde des Revisionswerbers, eines afghanischen Staatsangehörigen, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 18. Jänner 2017, mit dem gemäß Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet worden war, und gegen die darauf gegründete Anhaltung als unbegründet ab, stellte gemäß § 22a Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) fest, dass die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft vorlägen, und traf diesem Verfahrensergebnis entsprechende Kostenaussprüche.

2 Begründend führte es aus, dass der Revisionswerber am 13. Juli 2016 in Bulgarien und am 18. Oktober 2016 in Ungarn einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. In Österreich habe er - nach seinem Aufgriff im Zug Richtung Italien mit einem Ticket bis Udine - am 26. November 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. An diesem Tag sei über den Revisionswerber die erste Schubhaft verhängt worden. Am 27. November 2016 sei ein Konsultationsverfahren mit Bulgarien hinsichtlich der Rückübernahme des Revisionswerbers nach der Dublin III-VO eingeleitet worden. Am 7. Dezember 2016 habe Bulgarien dem Gesuch stattgegeben.

3 Am 12. Dezember 2016 habe der Revisionswerber gegen die erste (nicht verfahrensgegenständliche) Schubhaft Beschwerde erhoben, die nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis des BVwG vom 16. Dezember 2016 abgewiesen worden sei.

4 Mit Bescheid des BFA vom 14. Dezember 2016 sei der Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz als unzulässig zurückgewiesen und seine Außerlandesbringung angeordnet worden; die Abschiebung nach Bulgarien sei für zulässig erklärt worden. Gegen diesen Bescheid habe er Beschwerde erhoben, die letztlich mit Erkenntnis des BVwG vom 19. Jänner 2017 abgewiesen worden sei. Die Anordnung zur Außerlandesbringung sei "seit 07.01.2017 durchführbar".

5 Am 18. Jänner 2017 sei der Revisionswerber aus der Schubhaft zum Flughafen Schwechat und sodann per Flugzeug außer Landes gebracht worden. Die Abschiebung nach Bulgarien habe aber nicht abgeschlossen werden können, weil aufgrund von höherer Gewalt ein Landen des Flugzeugs in Sofia nicht möglich gewesen sei, weshalb der Revisionswerber wieder nach Österreich gebracht worden sei. Am selben Tag sei die nun verfahrensgegenständliche Schubhaft angeordnet worden.

6 In der rechtlichen Beurteilung führte das BVwG insbesondere aus, dass die mit Bescheid vom 26. November 2016 verhängte Schubhaft mit der versuchten Abschiebung am 18. Jänner 2017 beendet worden sei. Dieser Tag sei innerhalb der sechswöchigen Überstellungsfrist des Art. 28 Abs. 3 (Unterabs. 3 1. Alternative) Dublin III-VO gelegen. Die Dublin III-VO gehe in diesem Fall davon aus, dass eine Schubhaftverhängung nach der Zustimmung des aufnehmenden Landes in weiterer Folge maximal sechs Wochen dauern dürfe. Im vorliegenden Fall sei die Schubhaft mit Beginn der Abschiebung fristgerecht beendet worden. Eine konkrete Regelung darüber, ob es zulässig sei, danach einen weiteren Schubhaftbescheid zu erlassen, gebe es nicht. Es sei daher prinzipiell davon auszugehen, dass die Verhängung einer weiteren Schubhaft auch den Lauf der Sechswochenfrist neuerlich in Gang setze. Die Sechswochenfrist des Art. 28 Abs. 3 Dublin III-VO habe daher mit der neuerlichen Verhängung der Schubhaft neu zu laufen begonnen.

7 Es habe sich bereits aus dem vorliegenden Akteninhalt klar ergeben, dass zur Klärung der Rechtmäßigkeit der vorliegenden Schubhaft die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung nicht erforderlich gewesen sei, zumal bereits am 13. Dezember 2016 eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG stattgefunden habe und seither keine wesentliche Änderung eingetreten sei.

8 Da Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage fehle, ob eine weitere Verhängung der Schubhaft unmittelbar nach einem gescheiterten Abschiebeversuch neuerlich die Sechswochenfrist nach Art. 28. Abs. 3 Dublin III-VO in Gang setze, sei die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens durch das BVwG - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet -

in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat über die Zulässigkeit der Revision erwogen:

9 Bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist der Verwaltungsgerichtshof nach § 34 Abs. 1a VwGG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Auch in der ordentlichen Revision hat der Revisionswerber von sich aus die unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung maßgeblichen Gründe der Zulässigkeit der Revision aufzuzeigen, sofern er der Ansicht ist, dass die Begründung des Verwaltungsgerichts für die Zulässigkeit der Revision nicht ausreicht oder er andere Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung für relevant erachtet. Das gilt auch dann, wenn sich die Revision zwar auf die Gründe, aus denen das Verwaltungsgericht die (ordentliche) Revision für zulässig erklärt hatte, beruft, diese aber fallbezogen keine Rolle (mehr) spielen oder zur Begründung der Zulässigkeit der konkret erhobenen Revision nicht ausreichen (vgl. VwGH 11.5.2017, Ro 2016/21/0022, mwN).

10 Die Revision kommt unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zunächst auf den vom BVwG dargelegten Zulässigkeitsgrund zurück und bestreitet die Möglichkeit einer neuerlichen Inschubhaftnahme nach Ablauf der sich aus Art. 28 Abs. 3 Dublin III-VO ergebenden Frist bei Nichtdurchführbarkeit der Abschiebung.

11 Von dieser Rechtsfrage hängt die Revision aber nicht ab, weil die genannte Frist im vorliegenden Fall noch nicht abgelaufen war.

12 Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 Dublin III-VO verkürzt für Personen, die nach Art. 28 Dublin III-VO in Haft genommen worden sind, die in Art. 21, 23 und 24 Dublin III-VO vorgesehenen Fristen für die Stellung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuches auf einen Monat ab Stellung des Antrages auf internationalen Schutz und die in Art. 22 bzw. Art. 25 Dublin III-VO normierte Frist für die Antwort auf dieses Gesuch bzw. für den Eintritt der Zustimmungsfiktion durch Verschweigung auf zwei Wochen nach Eingang des Gesuchs. Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 Dublin III-VO verkürzt in diesen Fällen die in Art. 29 Dublin III-VO vorgesehene Frist für die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat auf sechs Wochen. Die sechswöchige Frist beginnt mit der stillschweigenden oder ausdrücklichen Annahme des Gesuchs auf Aufnahme oder Wiederaufnahme oder mit dem Zeitpunkt, ab dem der Rechtsbehelf oder die Überprüfung gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO keine aufschiebende Wirkung mehr hat.

13 Vom Begriff der aufschiebenden Wirkung im Sinn des Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 Dublin III-VO ist auch die "automatische" Aussetzung der Überstellung nach Art. 27 Abs. 3 lit. b Dublin III-VO erfasst, dem das in §§ 16 Abs. 2 Z 1, Abs. 4 und 17 Abs. 1 BFA-VG nach nationalem österreichischen Recht vorgesehene Modell entspricht. Von diesem Verständnis geht auch der EuGH im Urteil EuGH 13.9.2017, C-60/16 , ausdrücklich aus, indem er in Beantwortung der vierten Vorlagefrage darauf hinweist, dass die zweite mit Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 Dublin III-VO eingeführte Frist für die Durchführung der Überstellung zu dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, ab dem der Rechtsbehelf oder die Überprüfung gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO keine aufschiebende Wirkung mehr hat, wobei es nicht darauf ankommt, ob dem Rechtsbehelf oder der Überprüfung im Sinn des Art. 27 Abs. 3 lit. a und b Dublin III-VO ex lege aufschiebende Wirkung zukommt oder deren Gewährung im Sinn des Art. 27 Abs. 3 lit. c Dublin III-VO von einem Antrag der betroffenen Person abhängig gemacht wird (Rn. 61 ff, insbesondere Rn. 64).

14 An diese verkürzten Fristen nach Art. 28 Abs. 3 Dublin III-VO knüpft Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 4 Dublin III-VO an, indem er anordnet, dass die Haft bei Überschreiten der Fristen nicht aufrecht erhalten werden darf.

15 Im vorliegenden Fall begann die strittige Überstellungs- und Haftfrist zunächst mit der ausdrücklichen Annahme des Überstellungsgesuchs durch Bulgarien am 7. Dezember 2016 zu laufen. Der Revisionswerber erhob gegen die Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz mit Bescheid des BFA vom 14. Dezember 2016 fristgerecht Beschwerde an das BVwG, die dort laut Eingangsstempel am 29. Dezember 2016 einlangte. Dies hatte gemäß § 16 Abs. 4 BFA-VG zur Folge, dass die mit dem genannten Bescheid verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung des Revisionswerbers nach Bulgarien bis zum Ablauf des 5. Jänner 2017 nicht durchführbar war. Der Beginn der sechswöchigen Überstellungsfrist war nunmehr ab dem Wegfall dieses Hindernisses und nicht - wie vom BVwG angenommen - weiterhin ab der Zustimmungserklärung zu berechnen. Zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses am 26. Jänner 2017 war die maximal zulässige Haftfrist somit noch nicht abgelaufen, weshalb die Revision - wie schon erwähnt - nicht von der Frage abhängt, ob diese Frist durch nochmalige Verhängung der Schubhaft erneut zu laufen beginnen konnte.

16 Auch sonst vermag die Revision keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufzuzeigen.

17 Soweit sie meint, § 76 Abs. 3 FPG entspreche nicht den Anforderungen des Art. 2 lit. n Dublin III-VO, ist auf das Erkenntnis VwGH 11.5.2017, Ro 2016/21/0021, hinzuweisen, in dem sich der Verwaltungsgerichtshof ausführlich mit der Auslegung des § 76 Abs. 3 FPG insbesondere vor dem Hintergrund der Vorgaben des Art. 2 lit. n Dublin III-VO auseinandergesetzt hat. In dem genannten Erkenntnis wurde u.a. ausgeführt, dass ausschließlich die Tatbestände des § 76 Abs. 3 FPG "Fluchtgefahr" an sich zu konstituieren vermögen und dass der demonstrative Charakter des § 76 Abs. 3 FPG demgegenüber lediglich insofern zum Tragen kommt, als neben den dort genannten Tatbeständen andere Aspekte nur im Rahmen der abschließend vorzunehmenden konkreten Bewertung aller im Einzelfall maßgeblichen Gesichtspunkte miteinbezogen werden können.

18 Die grundsätzliche Annahme von (abstrakter) "Fluchtgefahr" war im vorliegenden Fall schon deshalb gerechtfertigt, weil der Revisionswerber nach den unbestritten gebliebenen Feststellungen des BVwG bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten gestellt hatte. Insofern war jedenfalls der Tatbestand des § 76 Abs. 3 Z 6 lit. a FPG erfüllt.

19 Ob darüber hinaus konkret von "erheblicher Fluchtgefahr" auszugehen ist, ist stets eine Frage des Einzelfalles, daher nicht generell zu klären und als einzelfallbezogene Beurteilung grundsätzlich nicht revisibel, wenn diese Beurteilung auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage in vertretbarer Weise vorgenommen wurde (vgl. etwa VwGH 29.6.2017, Ro 2017/21/0011). Das ist hier insbesondere angesichts der unbestritten gebliebenen Feststellung, dass der Revisionswerber in Österreich in einem Zug Richtung Italien unterwegs betreten worden sei (siehe dazu auch § 76 Abs. 3 Z 6 lit. b FPG), der Fall.

20 Auch die Annahme, dass gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG von der beantragten mündlichen Verhandlung abgesehen werden durfte, erweist sich als vertretbar. Der vom BFA festgestellte entscheidungswesentliche Sachverhalt war nämlich in der Beschwerde nicht bestritten worden (und wird auch in der Revision nicht konkret in Frage gestellt); auf die in der Beschwerde geltend gemachten Motive für die Weiterreise aus Bulgarien und Ungarn (die dort herrschenden "schlechten Zustände für Schutzsuchende") ist es aber fallbezogen nicht angekommen.

21 Vom Revisionswerber wird somit insgesamt keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung dargetan, von deren Lösung die Erledigung der Revision abhängt. Sie war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG in nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen.

Wien, am 26. April 2018

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