Normen
AlVG 1977 §10 Abs1 Z1
AlVG 1977 §10 Abs1 Z3
AlVG 1977 §9 Abs1
AlVG 1977 §9 Abs2
AlVG 1977 §9 Abs7
AlVG 1977 §9 Abs8
AVG §58 Abs2
VwGVG 2014 §29 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021080024.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 28. Mai 2019 sprach das Arbeitsmarktservice Wien Esteplatz (im Folgenden: AMS) aus, dass die Revisionswerberin gemäß § 38 iVm. § 10 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe von 14. Mai 2019 bis 24. Juni 2019 verloren habe. Eine Nachsicht werde nicht erteilt.
2 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 9. August 2019 wies das AMS die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Revisionswerberin ab. Die Revisionswerberin habe das Zustandekommen der Beschäftigung in einem Sozialökonomischen Betrieb (SÖB) durch ihr Verhalten beim Vorstellungsgespräch vereitelt. Die Revisionswerberin stellte einen Vorlageantrag.
3 Mit dem nunmehr in Revision gezogenen - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen - Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde der Revisionswerberin als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, die Revisionswerberin stehe seit dem 1. Jänner 2013 ‑ mit nur einer kurzen Unterbrechung durch eine Beschäftigung in der Dauer von weniger als einem Monat ‑ im Bezug von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. In Betreuungsvereinbarungen sei vom AMS gegenüber der Revisionswerberin festgehalten worden, dass die Revisionswerberin verpflichtet sei, sich für alle zumutbaren Stellen, wozu auch Hilfstätigkeiten zu zählen seien, zu bewerben. Am 2. Mai 2019 habe das AMS der Revisionswerberin ein „Einladungsschreiben“ übermittelt. Darin sei der Revisionswerberin „im Rahmen“ eines SÖB eine „Vorbereitungsphase“ angeboten worden, „damit sie anschließend“ im Zuge eines Beschäftigungsprojektes bei diesem SÖB ein befristetes Dienstverhältnis antreten könne. Im Weiteren sei in diesem Einladungsschreiben die geplante befristete Beschäftigung beschrieben und die Revisionswerberin aufgefordert worden, am 14. Mai 2019 zu einem Vorstellungsgespräch bei einem näher genannten SÖB zu erscheinen. Beim folgenden Vorstellungsgespräch sei die Revisionswerberin von den Beschäftigten des SÖB unter anderem hinsichtlich ihrer Wohnsituation gefragt worden, ob sie in einer Gemeinde‑ oder Genossenschaftswohnung bzw. alleine oder mit Mitbewohnern lebe und ob Mieten offen seien. Die Antwort auf diese Fragen habe die Revisionswerberin unter Hinweis auf den Datenschutz auch nach wiederholter Aufforderung und Übergabe eines „Datenschutzblattes“ verweigert. Diese Weigerung habe dazu geführt, dass die Revisionswerberin vom SÖB „abgelehnt“ worden sei.
5 In rechtlicher Hinsicht folgerte das Verwaltungsgericht, die geplante Beschäftigung beim SÖB sei zumutbar gewesen. Hinsichtlich des Einwands der Revisionswerberin, sie wäre nicht zu einem konkreten Arbeitsverhältnis zugewiesen worden, sei zu entgegnen, dass eine Vorbereitungsmaßnahme „mit der Möglichkeit“ eines anschließenden befristeten Dienstverhältnisses angeboten worden sei. Die Revisionswerberin sei daher zur Bewerbung verpflichtet gewesen. Aber auch wenn man davon ausgehe, dass kein Dienstverhältnis, sondern eine Maßnahme angeboten worden sei, sei die Revisionswerberin zu einer Teilnahme verpflichtet gewesen. Ihr habe nämlich im Sinn des § 9 Abs. 8 AlVG bewusst sein müssen, dass ihre lange Abstinenz vom Arbeitsmarkt einer neuerlichen Arbeitsaufnahme im Wege stehe. Die Beschäftigung in einem SÖB diene der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Es sei daher erforderlich, Problemlagen, die sich etwa auch aus einer prekären Wohnsituation ergäben könnten, zu erkennen. Vor diesem Hintergrund sei die Revisionswerberin zur Beantwortung der an sie gerichteten Fragen verpflichtet gewesen, zumal nach dem der Revisionswerberin übergebenen Datenschutzblatt die Informationen nicht an künftige Dienstgeber weitergegeben worden wären. Die Verweigerung der Beantwortung sei kausal für das Nichtzustandekommen eines Beschäftigungsverhältnisses mit dem SÖB geworden, wobei die Revisionswerberin zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt habe. Der Tatbestand des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG sei daher in objektiver und subjektiver Hinsicht erfüllt.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem das AMS eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Zur Zulässigkeit der Revision wird zusammengefasst geltend gemacht, das angefochtene Erkenntnis weiche von der (näher dargestellten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ab. Entgegen der Annahme des Bundesverwaltungsgerichts habe es sich bei der angebotenen Vorbereitungsphase um kein Dienstverhältnis gehandelt. Das Zustandekommen einer Beschäftigung habe die Revisionswerberin somit nicht vereitelt. Es stehe nicht im Belieben des AMS, arbeitslosen Personen entweder eine Arbeitsstelle zu vermitteln oder sie zu Nach-, Umschulungs- oder Wiedereingliederungsmaßnahmen zuzuweisen. Es sei insoweit eine Begründung erforderlich. Derartige Gründe seien aber nicht festgestellt worden. Das AMS habe auch nicht dargelegt, warum die Abfrage der persönlichen Wohnsituation der Revisionswerberin erforderlich gewesen wäre.
8 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
9 Gemäß § 9 Abs. 1 AlVG ist arbeitswillig, wer bereit ist, eine durch die regionale Geschäftsstelle oder einen vom Arbeitsmarktservice beauftragten, die Arbeitsvermittlung im Einklang mit den Vorschriften der §§ 2 bis 7 des Arbeitsmarktförderungsgesetzes (AMFG), durchführenden Dienstleister vermittelte zumutbare Beschäftigung in einem Arbeitsverhältnis als Dienstnehmer im Sinn des § 4 Abs. 2 ASVG anzunehmen, sich zum Zwecke beruflicher Ausbildung nach‑ oder umschulen zu lassen, an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt teilzunehmen, von einer sonst sich bietenden Arbeitsmöglichkeit Gebrauch zu machen und von sich aus alle gebotenen Anstrengungen zur Erlangung einer Beschäftigung zu unternehmen, soweit dies entsprechend den persönlichen Fähigkeiten zumutbar ist.
10 Nach § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG verliert eine arbeitslose Person, die sich weigert, eine ihr von der regionalen Geschäftsstelle zugewiesene zumutbare Beschäftigung anzunehmen, oder die Annahme einer solchen Beschäftigung vereitelt, für die Dauer der Weigerung, jedenfalls aber für die Dauer der auf die Weigerung folgenden sechs Wochen ‑ bzw. unter näher umschriebenen Voraussetzungen acht Wochen ‑ den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Dieselbe Sanktion löst gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AlVG eine ohne wichtigen Grund erfolgte Verweigerung der Teilnahme an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt oder die Vereitelung des Erfolgs einer solchen Maßnahme aus.
11 Diese Bestimmungen sind gemäß § 38 AlVG auf die Notstandshilfe sinngemäß anzuwenden.
12 Der Gesetzgeber hat in § 9 Abs. 7 AlVG ausdrücklich auch „ein der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt dienendes Arbeitsverhältnis im Rahmen eines Sozialökonomischen Betriebes (SÖB) oder eines Gemeinnützigen Beschäftigungsprojektes (GBP)“ als (zumutbare) Beschäftigung erklärt. Ein Verhalten im Sinn von § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG im Hinblick auf einen SÖB ‑ somit die Verweigerung oder Vereitelung einer Beschäftigung bzw. die Nichtannahme einer vom SÖB angebotenen (zumutbaren) Beschäftigung ‑ kann daher zum Verlust des Anspruches auf Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe führen. Eine Erfüllung des Tatbestandes nach § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG kommt aber auch insoweit jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn überhaupt keine Zuweisung zu einer Beschäftigung ‑ somit kein Angebot eines konkreten Dienstverhältnisses ‑ erfolgt ist (vgl. VwGH 16.12.2021, Ra 2020/08/0170, mwN).
13 Nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts hat das AMS der Revisionswerberin eine „Vorbereitungsphase“ in einem SÖB angeboten, damit sie anschließend ein befristetes Dienstverhältnis antreten könne. Ausgehend von diesen Feststellungen wurde der Revisionswerberin kein Beschäftigungsverhältnis angeboten. Wie die Revision zutreffend aufzeigt, wurde daher der Tatbestand des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG schon mangels Zuweisung zu einer Beschäftigung nicht erfüllt (vgl. VwGH 19.3.2021, Ra 2019/08/0103, mwN).
14 Alternativ hat sich das Bundesverwaltungsgericht auch darauf gestützt, dass zumindest eine „Maßnahme“ angeboten worden sei, wobei der Revisionswerberin bewusst sein habe müssen, dass ihre lange Abstinenz vom Arbeitsmarkt einer „Arbeitsaufnahme im Wege stehe“. Damit wurde erkennbar die Erfüllung des Tatbestands der Vereitelung einer Maßnahme zur Wiedereingliederung nach § 10 Abs. 1 Z 3 AlVG angesprochen.
15 Dazu ist darauf hinzuweisen, dass Wiedereingliederungsmaßnahmen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik sind, die ‑ wenngleich nicht in der selben berufsbezogenen Weise wie eine Nach‑ oder Umschulung ‑ der im konkreten Fall jeweils erforderlichen Verbesserung von Kenntnissen und Fähigkeiten des Arbeitslosen dienen; sie sollen dem Arbeitslosen die Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern (vgl. VwGH 14.11.2012, 2010/08/0023, mwN). Es steht nicht im freien Belieben des AMS, Arbeitslosen (Langzeitarbeitslosen) entweder eine Arbeitsstelle zu vermitteln oder sie zu einer Nach‑ oder Umschulung oder zu einer Wiedereingliederungsmaßnahme zuzuweisen. Für die Zuweisung zu einer solchen Maßnahme ist vielmehr Voraussetzung, dass die Kenntnisse der arbeitslosen Person für die Vermittlung einer zumutbaren Beschäftigung nach Lage des in Betracht kommenden Arbeitsmarktes nicht ausreichend sind. Eine Wiedereingliederungsmaßnahme ist nur dann erforderlich und zumutbar im Sinne des § 9 AlVG, wenn sie allein oder gemeinsam mit anderen Maßnahmen im Hinblick auf eine tatsächliche Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt Erfolg versprechend erscheint (vgl. VwGH 31.7.2014, 2013/08/0279, mwN).
16 Gemäß § 9 Abs. 8 AlVG hat das AMS bei Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt der arbeitslosen Person die Gründe anzugeben, die eine Teilnahme an einer derartigen Maßnahme als zur Verbesserung der Wiederbeschäftigungschancen notwendig oder nützlich erscheinen lassen, soweit diese nicht auf Grund der vorliegenden Umstände wie insbesondere einer längeren Arbeitslosigkeit in Verbindung mit bestimmten bereits z.B. im Betreuungsplan (§ 38c AMSG) erörterten Problemlagen, die einer erfolgreichen Arbeitsaufnahme entgegen stehen, als bekannt angenommen werden können. Daraus ergibt sich, dass ‑ bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen ‑ eine (ausführlichere) Begründung der Maßnahme vor Zuweisung entfallen und sohin die Begründung der Notwendigkeit oder auch Nützlichkeit der Maßnahme noch im Verwaltungsverfahren nachgeholt werden kann. Ein Ausschluss vom Bezug der Geldleistung setzt aber jedenfalls voraus, dass entsprechende Gründe für die Zuweisung zu einer Maßnahme vorliegen (vgl. VwGH 9.5.2022, Ra 2020/08/0185, mwN).
17 Auch wenn gemäß § 9 Abs. 8 dritter Satz AlVG eine Belehrung über diese Voraussetzungen vor Zuweisung allenfalls entfallen kann, wenn die Gründe im Sinn dieser Bestimmung als bekannt angenommen werden können, ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs dennoch bei Verhängung einer Sanktion nach § 10 Abs. 1 Z 3 AlVG im Bescheid des AMS ‑ bzw. nunmehr gegebenenfalls im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts ‑ darzulegen, dass die Voraussetzungen für eine Zuweisung zu einer Maßnahme gegeben waren, dass also eine Problemlage im Sinn des § 9 Abs. 8 AlVG vorlag und ‑ im Sinne einer Prognoseentscheidung ‑ die Maßnahme zur Behebung dieser Problemlage notwendig und nützlich erschien. Bei Fehlen einer derartigen Begründung ist nämlich der Verwaltungsgerichtshof an einer Prüfung des Bescheides bzw. nunmehr des Erkenntnisses auf seine Rechtmäßigkeit gehindert (vgl. VwGH 28.3.2012, 2010/08/0250, mwN).
18 Auch eine Maßnahme, durch die eine spätere Beschäftigung in einem SÖB vorbereitet wird, könnte bei Erfüllung der genannten Voraussetzungen eine zulässige Wiedereingliederungsmaßnahme sein (vgl. zu einer solchen Konstellation VwGH 13.11.2013, 2013/08/0157, mwN). Im vorliegenden Fall hat das Bundesverwaltungsgericht jedoch nicht festgestellt, was Inhalt der „Vorbereitungsphase“, zu der die Revisionswerberin zugewiesen wurde, gewesen wäre und warum diese sich daher zur Behebung einer Problemlage im Sinn des § 9 Abs. 8 AlVG notwendig und nützlich erwiesen hätte. Damit ergibt sich auch nicht, dass gegenüber der Revisionswerberin nach § 9 Abs. 8 AlVG eine (nähere) Angabe der Gründe für die Zuweisung zu dieser Maßnahme ‑ aufgrund der berechtigten Annahme ihrer Bekanntheit ‑ entfallen hätte können.
19 Das Bundesverwaltungsgericht hat daher die Voraussetzungen der Verhängung eines Anspruchsverlustes nach § 10 Abs. 1 AlVG verkannt, ohne dass es fallbezogen noch darauf ankäme, ob die Revisionswerberin (ausnahmsweise) zur Beantwortung der Fragen zu ihrer Wohnsituation verpflichtet war. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. Juli 2022
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