VwGH Ra 2021/01/0419

VwGHRa 2021/01/04192.6.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Fasching und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des A S, in W, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. November 2021, Zl. W191 2186569‑1/13E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §58
AVG §60
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §29

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021010419.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 13. März 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er zusammengefasst mit einer Verfolgung durch die Taliban begründete.

2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 30. Jänner 2018 wurde der Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz vollinhaltlich abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), dem Revisionswerber kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen (Spruchpunkt IV.), festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

3 Die gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab (A I.), erkannte dem Revisionswerber jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (A II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (A III.). Eine Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig (B).

4 Begründend führte das BVwG ‑ soweit hier wesentlich ‑ aus, der Revisionswerber habe vorgebracht, dass sein Bruder als Polizist gearbeitet habe und „verschwunden“ sei; ein anderer Bruder sei von den Taliban umgebracht worden, weil er „als Spion verdächtigt“ worden sei; den Revisionswerber hätten die Taliban zwangsrekrutieren wollen und hätten ihm auch einen Drohbrief geschickt. Der Revisionswerber habe im Verfahren zwar übereinstimmende und plausible Angaben zu seiner Person und seinen Lebensumständen gemacht, allerdings habe er keine konkrete und individuelle Verfolgung glaubhaft machen können. Sein Vorbringen sei zwar „im Hinblick auf die Länderinformationen nicht grundsätzlich denkunmöglich“, es sei aber „vage, unplausibel, widersprüchlich, nicht schlüssig und somit unglaubhaft“ geblieben.

5 Gegen Spruchpunkt A I. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen Begründungsmängel in Zusammenhang mit dem erwähnten Vorbringen des Revisionswerbers geltend macht.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die Revision ist zulässig, sie ist auch berechtigt.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht bereits wiederholt ausgesprochen, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht hat, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 27.7.2020, Ra 2020/01/0083, mwN).

8 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind.

In den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 (UNHCR‑Richtlinien) ‑ die unter dem hier wesentlichen Aspekt im Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG nach wie vor Gültigkeit hatten ‑ wird unter anderem ausgeführt, dass „Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen“ einem Risikoprofil unterliegen würden. Regierungsfeindliche Kräfte hätten Berichten zufolge Familienangehörige von Personen mit den angeführten Profilen als Vergeltungsmaßnahme und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angegriffen. Insbesondere seien Verwandte, darunter Frauen und Kinder, von Regierungsmitarbeitern und Angehörige der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführung, Gewalt und Tötung geworden (vgl. S. 54 der UNHCR‑Richtlinien; vgl. zum Ganzen abermals VwGH Ra 2020/01/0083, mwN).

9 Die Revision macht zu Recht geltend, dass sich das BVwG unzureichend damit auseinandergesetzt hat, ob dem Revisionswerber angesichts der vorgebrachten Tätigkeit seiner Brüder als Polizist bzw. als angeblicher Spion eine Verfolgung durch die Taliban drohe. Es legte seiner Entscheidung zwar zu Grunde, dass der Revisionswerber sein Vorbringen „nicht glaubhaft gemacht“ habe, begründete dies aber nicht in einer nachvollziehbaren Art und Weise. Insbesondere hat sich das BVwG ‑ entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach den UNHCR-Richtlinien besondere Beachtung beizumessen ist ‑ nicht mit den entsprechenden Passagen dieses Berichts auseinandergesetzt und ‑ wie die Revision zu Recht vorbringt ‑ den erwähnten, vom Revisionswerber bereits im Verfahren vor dem BFA vorgelegten (vgl. Seite 8 des Bescheides vom 30. Jänner 2018) Drohbrief völlig außer Acht gelassen.

10 Da das BVwG die gebotene Auseinandersetzung mit den UNHCR-Richtlinien fallbezogen unterließ, hat es sein Verfahren mit einem Verfahrensmangel belastet. Die Revision zeigt auch konkret die Relevanz des Verfahrensfehlers auf.

11 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

12 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

13 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 2. Juni 2022

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