VwGH Ra 2021/01/0150

VwGHRa 2021/01/015017.5.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der revisionswerbenden Parteien 1. L P, 2. L A und 3. G A, alle vertreten durch Dr. Martin Dellasega, Dr. Thomas Lechner & Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das am 8. Jänner 2020 mündlich verkündete, am 23. März 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. März 2020, Zlen. 1. L518 2145382‑1/34E, 2. L518 2145379‑1/18E und 3. L518 2145377‑1/19E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

ABGB §138
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52
MRK Art8
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021010150.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der beiden weiteren minderjährigen revisionswerbenden Parteien. Sie alle sind georgische Staatsangehörige.

2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ in der Sache die Anträge der revisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz ab, gewährte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Georgien zulässig sei und gewährte keine Frist für die freiwillige Ausreise.

3 Die revisionswerbenden Parteien erhoben dagegen Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung derselben mit Beschluss vom 23. Februar 2021, E 1878‑1880/2020‑14, ablehnte und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 144 Abs. 3 B‑VG zur Entscheidung abtrat. Begründend erblickte der VfGH unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten keine Verletzung der revisionswerbenden Parteien in ihren Rechten nach Art. 3 EMRK; es könne dem BVwG auch nicht entgegen getreten werden, wenn es auf Grund der Umstände des vorliegenden Falles davon ausgehe, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts von Fremden ohne Aufenthaltstitel das Interesse am Verbleib im Bundesgebiet aus Gründen des Art. 8 EMRK überwiege.

4 In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Im Zulässigkeitsvorbringen werden zur vollinhaltlichen Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz keine Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG dargelegt. Die revisionswerbenden Parteien machen vielmehr im Wesentlichen geltend, die Erlassung der Rückkehrentscheidungen (betreffend den Zweit‑ und Drittrevisionswerber) entspreche ‑ unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK ‑ nicht dem Kindeswohl. Das Bundesverwaltungsgericht sei diesbezüglich von den in der Judikatur des VwGH aufgestellten Leitlinien zur Vornahme der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) abgewichen.

9 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG (vgl. für viele VwGH 18.3.2019, Ra 2019/01/0068, mwN).

10 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 23.10.2020, Ra 2020/20/0056, mwN).

11 In diesem Zusammenhang haben die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA‑VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (vgl. VwGH 23.9.2020, Ra 2020/14/0175, mwN).

12 Dabei sind nach der Rechtsprechung des EGMR die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung hat der EGMR dabei in seiner Rechtsprechung den Fragen beigemessen, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden („adaptable age“; vgl. zum Ganzen etwa VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0070, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR).

13 Es war somit dem Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die in den Jahren 2006 und 2009 geborenen Zweit‑ und Drittrevisionswerber geboten, auf Aspekte des Kindeswohls Bedacht zu nehmen. Dazu hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits festgehalten, auch im Bereich verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in denen auf das Kindeswohl Rücksicht zu nehmen sei, dienten die in § 138 ABGB genannten Kriterien als Orientierungsmaßstab (vgl. etwa ‑ ebenfalls eine georgische Staatsbürgerin mit minderjährigen Kindern betreffend ‑ VwGH 14.12.2020, Ra 2020/20/0408, mwN).

14 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich im Rahmen der Interessenabwägungen am Boden der fallbezogen gegebenen Umstände ausreichend mit dem Kindeswohl auseinandergesetzt und festgestellt, dass die Zweit‑ und Drittrevisionswerber im Herkunftsstaat geboren worden seien, sich dort „eine Zeit lang“ aufgehalten und die Kultur und Sprache ihres Herkunftsstaates auch über den Zeitpunkt der Ausreise hinaus vermittelt bekommen hätten.

15 Die Erstrevisionswerberin verfüge über einen Abschluss in Rechtswissenschaften und Modedesign und habe zuletzt in Georgien bei einem Rechtsanwalt gearbeitet. Die Eltern und der Bruder, sowie Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen, der Erstrevisionswerberin, zu denen die revisionswerbenden Parteien auch regelmäßig Kontakt hätten, lebten in Georgien. Der Zweit‑ und Drittrevisionswerber verfügten sohin über Familie und Bezugspersonen in Georgien. Es stehe der Erstrevisionswerberin frei, nach ihrer Rückkehr wieder einer Beschäftigung nachzugehen, und es sei zu erwarten, dass die revisionswerbenden Parteien bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland auch Unterstützung durch ihre Familie erwarten könnten und nicht Gefahr liefen, in eine existenzbedrohende oder dauerhaft aussichtslose Lage zu geraten. Es deute nichts darauf hin, dass es den revisionswerbenden Parteien im Falle ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.

16 Die (minderjährigen) Zweit‑ und Drittrevisionswerber befänden sich zudem in einem Alter erhöhter Anpassungsfähigkeit, weshalb ‑ trotz der in Österreich bestehenden sozialen Kontakte mit Schulkollegen und des deutschen Sprachgebrauchs ‑ davon ausgegangen werden könne, dass sie sich im Herkunftsstaat wieder vollständig integrieren könnten. Überdies würden sie in Begleitung ihrer Mutter in den Herkunftsstaat zurückkehren, wodurch die soziale Eingliederung in den Herkunftsstaat erleichtert werde. Eine Gefährdung des Kindeswohls sei demnach nicht zu erkennen.

17 Soweit die Revision in diesem Zusammenhang kritisiert, das Bundesverwaltungsgericht habe im Einzelnen auf in § 138 ABGB genannte Kriterien des Kindeswohls nicht hinreichend Bedacht genommen, ist sie darauf zu verweisen, dass § 138 ABGB die Berücksichtigung des Kindeswohls im Rahmen des (zivilrechtlichen) Kindschaftsrechts regelt (vgl. die Gesetzesmaterialien zu BGBl. I Nr. 15/2013, RV 2004 BlgNR, 24. GP , S. 16, wonach das „Wohl des minderjährigen Kindes ... der leitende Grundsatz des Kindschaftsrechts“ ist und dort „in allen Angelegenheiten, die die Obsorge oder den persönlichen Kontakt betreffen, als leitender Gesichtspunkt zu berücksichtigen ist.“). Im Rahmen der nach § 9 BFA‑VG vorzunehmenden Interessenabwägung kommt den Kriterien des § 138 ABGB hingegen nach der erwähnten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes lediglich die Funktion eines „Orientierungsmaßstabs“ für die Behörde bzw. das Verwaltungsgericht zu. Zudem sei nochmals klargestellt, dass die Berücksichtigung des Kindeswohls im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung darstellt; das Kindeswohl ist daher bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen von Fremden nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium.

18 Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA‑VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung bzw. Interessenabwägung hängt vielmehr von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab.

19 Der Verwaltungsgerichtshof ist im Revisionsmodell aber nicht dazu berufen, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern - diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten. Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell vielmehr eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof ist nur dann unausweichlich, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. auch dazu VwGH 2020/20/0408, mwN).

20 Ausgehend von den dargestellten Grundsätzen wird in der Revision nicht dargetan, dass die im vorliegenden Fall vom Bundesverwaltungsgericht nach § 9 BFA‑VG durchgeführte Interessenabwägung ‑ auch unter dem Aspekt der Berücksichtigung des Kindeswohls ‑ mit einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangelhaftigkeit belastet wäre (vgl. abermals VwGH Ra 2020/20/0408).

21 In der Revision werden daher keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme, weshalb sie gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen war.

Wien, am 17. Mai 2021

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte