Normen
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
NAG 2005 §2 Abs1 Z9
NAG 2005 §47 Abs2
VwGG §34 Abs1
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2020220135.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1.1. Der Revisionswerber, ein nepalesischer Staatsangehöriger, stellte am 31. Juli 2018 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG. Zusammenführende sollte seine im Mai 2014 geborene Tochter (im Folgenden: Kind) sein, die mit ihrer Mutter (im Folgenden: Mutter), beide sind österreichische Staatsbürgerinnen, im Bundesgebiet lebt. In eventu begehrte der Revisionswerber die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Angehöriger“ gemäß § 47 Abs. 3 NAG.
1.2. Der Landeshauptmann von Wien wies mit dem im zweiten Rechtsgang erlassenen Bescheid vom 21. Oktober 2019 den gegenständlichen Antrag ab. Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde.
2. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 16. April 2020 wies das Verwaltungsgericht Wien (im Folgenden: Verwaltungsgericht) die Beschwerde des Revisionswerbers gegen den Bescheid vom 21. Oktober 2019 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Es führte dazu im Wesentlichen aus, der Revisionswerber sei kein „Familienangehöriger“ iSd § 2 Abs. 1 Z 9 NAG iVm § 47 Abs. 2 NAG und auch kein „Angehöriger“ iSd § 47 Abs. 3 NAG. Ein Anspruch auf den Aufenthaltstitel könne auch nicht aus Art. 8 EMRK abgeleitet werden, wäre doch mit der Verweigerung des Titels eine maßgebliche Gefährdung des Familien- und Privatlebens nicht verbunden. Ein Anspruch ergebe sich ebensowenig aus Art. 20 AEUV, zumal bei Versagung des Titels das zusammenführende Kind nicht de facto gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen.
Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
3. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende außerordentliche Revision, die aus den nachfolgenden Erwägungen nicht zulässig ist.
4. Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nicht einheitlich beantwortet wird.
Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
5. In der Revision wird ‑ wie im Folgenden dargelegt wird ‑ eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht aufgezeigt.
6. Der Revisionswerber macht zunächst nur pauschal geltend, es fehle Rechtsprechung zur Frage, ob auch ein minderjähriger österreichischer Staatsbürger Zusammenführender sein könne. Insofern genügt es jedoch, auf die dazu bereits vorliegende Rechtsprechung hinzuweisen (vgl. etwa VwGH 24.3.2022, Ra 2018/22/0093, mwN).
7.1. Der Revisionswerber releviert weiters, das Verwaltungsgericht hätte seine Eigenschaft als (Familien)Angehöriger iSd § 2 Abs. 1 Z 9 (iVm § 47 Abs. 2) bzw. § 47 Abs. 3 NAG nicht verneinen dürfen, sondern unter Bedachtnahme auf die Besonderheiten des Falls diese unsachlich differenzierenden Bestimmungen nach der Absicht des Gesetzgebers und unter Lückenschließung durch Analogie richtig auslegen müssen.
7.2. Vorliegend ergibt sich freilich aus dem klaren und eindeutigen Gesetzeswortlaut (vgl. zu dessen vorrangiger Maßgeblichkeit etwa VwGH 4.10.2018, Ra 2017/22/0056, Pkt. 4.1., mwN), dass eine Person wie der Revisionswerber auf Basis der vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen nicht unter die in Rede stehenden Legaldefinitionen fällt. Ein gegenteiliger Wille des Gesetzgebers wird nicht konkret behauptet und ist auch nicht zu sehen.
Eine analoge Anwendung verwandter Rechtsvorschriften, die in der Revision nicht konkret genannt werden, kommt ebenso nicht in Betracht. Eine solche würde eine planwidrige Regelungslücke voraussetzen (vgl. etwa VwGH 20.12.2022, Ro 2018/08/0001, Pkt. 9.3., mwN), die vorliegend nicht gegeben ist.
8.1. Der Revisionswerber rügt weiters, das Verwaltungsgericht hätte den beantragten Aufenthaltstitel unter Abkoppelung des Familienangehörigenbegriffs von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG mit Blick auf Art. 8 EMRK erteilen müssen, um eine Gefährdung des Familienlebens mit dem zusammenführenden Kind hintanzuhalten.
8.2. Zutreffend ist, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs in bestimmten Konstellationen zur Erzielung eines der EMRK gemäßen Ergebnisses der Begriff des Familienangehörigen in § 47 Abs. 2 NAG von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln ist und in einem solchen Fall auch der betreffende Angehörige als Familienangehöriger, dem ein Anspruch auf Familiennachzug zukommt, erfasst ist (vgl. noch einmal VwGH 24.3.2022, Ra 2018/22/0093, Pkt. 5.3., mwN).
Von einer solchen besonderen Konstellation kann jedoch nur ausnahmsweise bei Vorliegen ganz besonderer Umstände, wie vor allem bei Bestehen eines besonderen familiären Betreuungsbedarfs erheblich schutzbedürftiger (etwa kranker) Personen oder bei Bestehen besonders enger familiärer Beziehungen bzw. Bindungen (vor allem von Kindern) zu im Aufnahmestaat verfestigt aufhältigen Bezugspersonen (vor allem Eltern) ausgegangen werden (vgl. eingehend neuerlich VwGH 24.3.2022, Ra 2018/22/0093, Pkt. 5.4., mwN).
8.3. Vorliegend ging das Verwaltungsgericht auf Basis der getroffenen Feststellungen davon aus, dass eine besondere Konstellation im soeben aufgezeigten Sinn nicht vorliege. Dass diese Würdigung unvertretbar wäre, wird in der Revision nicht begründet dargelegt und ist auch nicht zu sehen.
Aufgrund der festgestellten Art und Weise des bisherigen Familienlebens des Revisionswerbers mit der Mutter und dem Kind (so wurde das gesunde Kind bislang vorwiegend von der auch allein obsorgeberechtigten Mutter betreut und versorgt, eine häusliche Gemeinschaft mit dem Revisionswerber bestand nur bis zur Beendigung seiner Beziehung mit der Mutter, der Revisionswerber nahm bislang die Betreuung des Kindes auch nur tageweise während der in Österreich verbrachten Zeiten wahr, er verfügt bereits über eine finnische Daueraufenthaltsberechtigung und ist auch immer wieder beruflich in der Schweiz aufhältig) ist das Verwaltungsgericht jedenfalls nicht unvertretbar davon ausgegangen, dass der Familiennachzug des Revisionswerbers nicht ‑ wegen des Vorliegens ganz besonderer Umstände im Sinn der obigen Ausführungen ‑ erforderlich sei. Das Familienleben des Revisionswerbers mit dem 2014 geborenen Kind kann ‑ wovon das Verwaltungsgericht nicht unvertretbar ausging ‑ durchaus auch weiterhin während der mit seinem finnischen Aufenthaltstitel möglichen Aufenthalte im Bundesgebiet sowie während der Abwesenheiten mittels moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden. Auch eine Gefährdung des Kindeswohls ist bei der gegebenen Sachlage ‑ zumindest derzeit ‑ nicht zu befürchten.
8.4. Nach dem Gesagten hat somit das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Einzelfallbeurteilung das Vorliegen einer besonderen Konstellation, in der nach der oben aufgezeigten Judikatur ausnahmsweise der beantragte Aufenthaltstitel mit Blick auf Art. 8 EMRK zu erteilen wäre, jedenfalls nicht unvertretbar verneint.
9.1. Der Revisionswerber moniert ferner, das Verwaltungsgericht hätte den beantragten Aufenthaltstitel auch mit Blick auf Art. 20 AEUV erteilen müssen, um zu verhindern, dass das Kind ‑ trotz des finnischen Aufenthaltstitels des Revisionswerbers, der zwar regelmäßig zu verlängern sei, wobei der Verfahrensausgang aber „nicht als jedenfalls positiv anzunehmen“ sei, und im Hinblick auf die finanziellen Zuwendungen des Revisionswerbers an die Mutter und das Kind ‑ doch gezwungen sein könnte, das Unionsgebiet zu verlassen.
9.2. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und der (sich darauf beziehenden) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass einem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt wird, indem er sich ‑ (unter anderem) im Fall der Verweigerung eines Aufenthaltstitels für einen drittstaatsangehörigen Familienangehörigen ‑ de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (vgl. unter Bezugnahme auf EuGH 15.11.2011, Dereci u.a., C‑256/11, Rn. 64 bis 66, etwa VwGH 8.9.2022, Ra 2021/22/0135, Rn. 15, mwN; siehe zu den bei dieser Beurteilung maßgeblichen Kriterien etwa zuletzt VwGH 7.6.2023, Ra 2019/22/0088, Pkt. 6.2., mwN).
9.3. Vorliegend zeigte der Revisionswerber nicht konkret auf und ist auch nicht zu sehen, inwiefern dem Kind und der Mutter der tatsächliche Genuss des Kernbestands ihrer Rechte aus dem Unionsbürgerstatus verwehrt würde und sie de facto zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen wären, wenn dem Revisionswerber der beantragte Aufenthaltstitel versagt würde.
Auf Basis des vom Verwaltungsgericht festgestellten Sachverhalts lebt die allein obsorgeberechtigte Mutter zusammen mit dem vorwiegend von ihr betreuten Kind in geordneten Verhältnissen (mit ortsüblicher Unterkunft und eigenem Einkommen aus einer Teilzeitbeschäftigung) im Bundesgebiet, sie ist folglich als Hauptbezugsperson anzusehen. Der Revisionswerber beteiligt sich zwar tageweise während seines Aufenthalts in Österreich an der Betreuung des Kindes, zu dem er ein gutes Verhältnis hat, und kann auch während seiner Abwesenheiten mit dem Kind auf elektronischem Weg kommunizieren. Allerdings besteht ‑ wie das Verwaltungsgericht nachvollziehbar würdigte ‑ kein derartiges Abhängigkeits- bzw. Naheverhältnis, dass bei Versagung des Aufenthaltstitels das Kind und die Mutter Österreich verlassen müssten oder zumindest eine erhebliche Beeinträchtigung des Kindeswohls zu erwarten wäre (vgl. dazu auch bereits oben Pkt. 8.3.).
Davon abgesehen verfügt ‑ wie das Verwaltungsgericht zu Recht hervorhob ‑ der Revisionswerber bereits über eine finnische Daueraufenthaltsberechtigung, sodass ein Verlassen des Unionsgebiets für das Kind und die Mutter schon deshalb nicht naheliegend erscheint. Dass die finnische Daueraufenthaltsberechtigung in Hinkunft nicht mehr verlängert werden könnte, wird in der Revision nicht konkret behauptet, sondern nur ganz vage (hypothetisch) in den Raum gestellt, und ist daher ‑ zumindest derzeit ‑ nicht abzusehen. Für die weitere bloß freiwillige finanzielle Unterstützung der Mutter sowie die Unterhaltsleistung für das Kind ist ‑ da der Revisionswerber hauptsächlich in der Schweiz berufstätig ist ‑ die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels ebensowenig erforderlich.
9.4. Nach dem Vorgesagten hat das Verwaltungsgericht somit auch die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels mit Blick auf Art. 20 AEUV jedenfalls nicht unvertretbar verneint.
10. Insgesamt wird daher keine Rechtsfrage aufgeworfen, der nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war deshalb gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
Wien, am 21. November 2023
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