VwGH Ra 2020/21/0010

VwGHRa 2020/21/00104.3.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Sulzbacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des I B P in W, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das am 29. Oktober 2019 mündlich verkündete und mit 19. November 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, I415 1251504-2/10E, betreffend Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs9
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210010.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Nigeria, reiste spätestens am 14. Juni 2004 nach Österreich ein und stellte hier einen Asylantrag. Das Bundesasylamt wies diesen Antrag mit Bescheid vom 2. Juli 2004 ab, erklärte (insbesondere) die Abschiebung des Revisionswerbers nach Nigeria für zulässig und wies ihn aus Österreich aus. Die dagegen erhobene Berufung, die dann als Beschwerde zu behandeln war, wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 16. September 2009 abgewiesen. 2 Der Revisionswerber verblieb in Österreich. Am 10. August 2012 wurde er von einer nigerianischen Delegation als nigerianischer Staatsangehöriger identifiziert, sodass es in der Folge zur Ausstellung eines nigerianischen Heimreisezertifikates kam. Eine letztlich für den 31. Jänner 2013 vorgesehene Abschiebung des Revisionswerbers scheiterte jedoch, weil er einerseits wegen eines Hungerstreiks am 7. Jänner 2013 aus einer im Dezember 2012 verhängten Schubhaft entlassen werden musste und weil er andererseits Ende Jänner an der von ihm angegebenen Wohnadresse - an der er laut Polizeibericht unbekannt war - nicht angetroffen werden konnte.

3 In der Folge, spätestens am 17. Februar 2015, stellte der Revisionswerber dann einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 56 Abs. 2 AsylG 2005, den er aus Anlass seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) auf einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 umänderte.

4 Mit Bescheid vom 16. Juni 2017 wies das BFA den genannten Antrag ab und erließ gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 FPG. Außerdem stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Nigeria zulässig sei und setzte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

5 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Es stellte insbesondere fest, dass sich der Revisionswerber seit über 15 Jahren in Österreich befinde. Er verfüge über ein Prüfungszeugnis für Deutsch auf Niveau A2, eine Unterhaltung auf Deutsch, selbst auf einfachem Niveau, sei jedoch im Rahmen der durchgeführten Beschwerdeverhandlung nicht möglich gewesen. Der Revisionswerber - so das BVwG weiter - gehe keiner geregelten Arbeit nach und beziehe Leistungen aus der Grundversorgung; er helfe ehrenamtlich bei der Caritas aus und erhalte dort etwas Taschengeld, außerdem erhalte er Unterstützung von der Kirche, in der er Mitglied sei, und werde auch von seiner Freundin unterstützt. "In dem vorangegangenen Verfahren" sei er großteils seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen; so habe er mehrere Termine vor der nigerianischen Delegation vereitelt, sei trotz aufrechter Meldung für die österreichischen Behörden nicht greifbar gewesen und habe durch sein Verhalten mehrmals eine Abschiebung vereitelt. Rechtlich ergebe sich daraus, dass die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen würden.

 

6 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision - das BVwG hat gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ausgesprochen, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei - hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision ist - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG nach § 25a Abs. 1 VwGG - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig; sie ist auch berechtigt.

8 Es ist unstrittig, dass sich der Revisionswerber zumindest seit Juni 2004 in Österreich befindet und somit - bezogen auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses - mehr als 15 Jahre im Bundesgebiet aufhält. Dem kommt entscheidungswesentliche Bedeutung zu.

9 Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, auf die schon in den Zulässigkeitsausführungen der Revision zutreffend Bezug genommen wird, ist nämlich bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an seinem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Außerdem erachtete der Verwaltungsgerichtshof auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte ein Überwiegen des persönlichen Interesses eines Fremden an einem Verbleib im Inland dann nicht als zwingend, wenn dem Umstände entgegen stehen, die das gegen diesen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. aus jüngerer Zeit etwa VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0243, Rn. 9, mwN).

10 Das BVwG ist auf diese Judikaturlinie nicht näher eingegangen. Es hielt allerdings in seiner rechtlichen Beurteilung fest, eine nachhaltige Integration des Revisionswerbers in Österreich liege nicht vor.

11 Übersteigt der Inlandsaufenthalt eines Fremden die Dauer von zehn Jahren, so wird allerdings (siehe oben Rn. 9) eine darüber hinausgehende nachhaltige Integration nicht verlangt. Dass der Revisionswerber aber - worauf in der hg. Rechtsprechung abgestellt wird - die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt habe, um sich sozial und beruflich zu integrieren, kann auch ungeachtet schwacher Deutschkenntnisse in Anbetracht der ehrenamtlichen Tätigkeit bei der Caritas, der Mitgliedschaft in einer Kirche und einer "Freundin" nicht gesagt werden. 12 Damit kommt es fallbezogen darauf an, ob Umstände vorliegen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers im Inland relativieren. Als solche Gesichtspunkte kämen grundsätzlich die vom BVwG festgestellten "Vereitelungshandlungen" in Betracht. Dazu ist allerdings festzuhalten, dass sich diese Handlungen nach der Aktenlage - das BVwG hat eine nähere zeitliche Einordnung nicht vorgenommen - maximal auf den Zeitraum Juli 2010 bis Jänner 2013 beziehen, somit bereits länger zurückliegen und einen Zeitrahmen von höchstens zweieinhalb Jahren umfassen. Dieser Zeitraum ist zudem jedenfalls dadurch relativiert, dass der Revisionswerber einer Ladung für den 10. August 2012 Folge leistete, sodass es dann auch zur Ausstellung eines Heimreisezertifikates kommen konnte. Davon abgesehen tritt der erwähnte Zeitraum von rund zweieinhalb Jahren gegenüber der Gesamtaufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich von mehr als 15 Jahren aber ohnehin in den Hintergrund, wobei auch miteinzubeziehen ist, dass sein Asylverfahren über fünf Jahre und das gegenständliche Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels länger als viereinhalb Jahre dauerten, ohne dass die jeweilige Verfahrensdauer dem Revisionswerber erkennbar angelastet werden könnte (siehe in diesem Sinn abermals VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0243, Rn. 12). 13 Soweit das BVwG dann noch darauf hingewiesen hat, dass sich der Revisionswerber "beharrlich" geweigert habe, seiner seit 2009 bestehenden Verpflichtung zum Verlassen Österreichs nachzukommen, ist darauf hinzuweisen, dass die bloße Nichtbefolgung eines Ausreisebefehls letztlich in einem Fall wie dem vorliegenden, der durch eine zehn Jahre deutlich übersteigende Dauer des inländischen Aufenthaltes gekennzeichnet ist, nicht von Belang ist (vgl. abermals VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0243, Rn. 13). 14 Zusammenfassend ergibt sich damit, dass die für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 gleichermaßen wie für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung maßgebliche Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG vom BVwG in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vorgenommen worden ist. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

15 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 4. März 2020

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