VwGH Ra 2020/14/0236

VwGHRa 2020/14/02367.7.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in der Revisionssache des A B, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. November 2019, W204 2178637‑1/9E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

B-VG Art133 Abs4
MRK Art3
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020140236.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 11. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, aufgrund seiner Tätigkeit für die afghanische Armee von den Taliban bedroht worden zu sein.

2 Mit Bescheid vom 25. Oktober 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 20. November 2019 nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 26. Februar 2020, E 4681/2019‑9, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision zusammengefasst vor, das BVwG habe veraltete Länderberichte herangezogen, obwohl zum Entscheidungszeitpunkt aktuelle Länderberichte vom 13. November 2019 verfügbar gewesen wären, aus denen sich in einigen Punkten gravierende Verschlechterungen der Situation in Afghanistan ergäben. Hätte das Gericht diese Berichte berücksichtigt, hätte es die für den Revisionsweber relevanten ‑ näher dargestellten ‑ Verschlechterungen erkennen müssen. In Hinblick auf die höhere Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle, die allgemein verschlechterte Versorgungslage sowie die angespanntere Lage am Arbeitsmarkt hätte das BVwG eine innerstaatliche Fluchtalternative verneinen müssen.

9 Das BVwG habe sich mit den vorgebrachten Rekrutierungsversuchen durch die Taliban nicht hinreichend befasst. Sowohl die aktuellen Länderberichte als auch die Richtlinien des UNHCR vom 30. August 2018 würden auf Rekrutierungsversuche hinweisen. Nach den UNHCR‑Richtlinien sei für eine Person, die von den Taliban verfolgt werde, eine innerstaatliche Fluchtalternative ausgeschlossen, und ein Soldat höheren Ranges wie der Revisionswerber erfülle ein Hauptrisikoprofil. Der Revisionswerber habe Drohbriefe der Taliban vorgelegt. Der Dolmetscher in der Verhandlung habe angegeben, Schwierigkeiten mit handschriftlichen Schreiben zu haben. Hätte das Gericht einen zertifizierten Dolmetscher beauftragt bzw. die Briefe einem Experten für Drohbriefe der Taliban gezeigt, hätte es erkennen müssen, dass die Drohungen authentisch seien. Das BVwG habe angenommen, der Revisionswerber wäre bei seiner Rückkehr deshalb keiner Bedrohung ausgesetzt, weil er bereits während seiner aktiven Zeit beim Militär keiner persönlichen Bedrohung durch die Taliban ausgesetzt gewesen sei. Zwar könne der letztgenannte Umstand ein Indiz sein, aber nicht die einzige Begründung für eine fehlende Gefährdung. Das BVwG verkenne die Notwendigkeit einer Gefährdungsprognose zum Entscheidungszeitpunkt. Die Beweiswürdigung des BVwG zum Fluchtvorbringen sei unvertretbar, weil das Gericht die Unglaubwürdigkeit primär damit begründet habe, dass sich der Revisionswerber in Randdetails widersprochen habe. Durch entsprechendes Nachfragen, wozu das Gericht verpflichtet gewesen wäre, hätte eine Klärung herbeigeführt werden können. Auch habe sich das Gericht nicht mit der unentschuldigten Abwesenheit des Revisionswerbers von der Armee bzw. seiner Desertion auseinandergesetzt. Aus den Länderberichten gehe hervor, dass Desertion mit hohen Haftstrafen bedroht sei und unmenschliche Bedingungen in afghanischen Haftanstalten weit verbreitet seien.

10 Das BVwG habe es zudem unterlassen, den Pfarrer, bei dem der Revisionswerber wohne, einzuvernehmen, obwohl dieser in der Verhandlung anwesend gewesen sei. Hätte es ihn einvernommen, hätte das Gericht die liberale Einstellung des Revisionswerbers zur Religion sowie den Umstand erkennen müssen, dass ihm aufgrund der darin manifestierten politischen bzw. religiösen Gesinnung Verfolgung drohe.

11 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan:

12 Soweit die Revision die Nichtberücksichtigung der aktuellen Länderberichte und eine sich daraus ergebende verschlechterte Lage der Situation in Afghanistan anspricht, macht sie Verfahrensmängel geltend. Werden Verfahrensmängel ‑ wie hier Ermittlungs- und Feststellungsmängel ‑ als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass ‑ auch in der gesonderten Begründung für die Zulässigkeit der Revision zumindest auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensmangels als erwiesen ergeben hätten (vgl. VwGH 19.5.2020, Ra 2020/14/0189, mwN).

13 Um von einer realen Gefahr („real risk“) einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist (vgl. VwGH 28.4.2020, Ra 2020/14/0158 bis 0161, mwN). Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. VwGH 7.5.2020, Ra 2020/19/0081, mwN).

14 Die Revision vermag mit den pauschalen, auf die allgemeine Situation in Afghanistan bezogenen Ausführungen nicht darzutun, dass das BVwG bei seiner Beurteilung von diesen Leitlinien abgewichen wäre. Zum einen zeigt sie nicht fallbezogen und konkret den Revisionswerber betreffend auf, welche individuellen Feststellungen zu seiner Person zu treffen gewesen wären. Zum anderen legt sie mit der Darstellung der Verschlechterungen der Situation in Afghanistan, die sich aus den nicht berücksichtigten aktuelleren Länderberichten ergeben soll, weder dar, dass in der Stadt Mazar‑e Sharif solche exzeptionellen Umstände vorlägen, die eine Verletzung nach Art. 3 EMRK garantierten Rechte des Revisionswerbers darstellen, noch dass dem ‑ ungeachtet der schwierigen wirtschaftlichen Lage ‑ gesunden und arbeitsfähigen Revisionswerber eine Ansiedelung unter Berücksichtigung der aktuellen Lage ‑ auch in Bezug auf die Sicherheitslage ‑ dort nicht zumutbar wäre (vgl. VwGH 23.6.2020, Ra 2020/20/0188, mwN). Damit fehlt es dem behaupteten Verfahrensmangel an Relevanz für den Verfahrensausgang.

15 Soweit die Revision Begründungsmängel hinsichtlich des erstatteten Fluchtvorbringens moniert und sich gegen die Beweiswürdigung wendet, ist ihr entgegenzuhalten, dass sich das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in der es sich einen persönlichen Eindruck verschaffen konnte, in einer auf den Einzelfall Bedacht nehmenden Beweiswürdigung mit dem Vorbringen des Revisionswerbers zu den Gründen seiner Flucht auseinandergesetzt hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser als Rechtsinstanz tätig und im Allgemeinen nicht zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Einzelfall berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 19.5.2020, Ra 2019/14/0328, mwN). Dem Fluchtvorbringen der Bedrohung des Revisionswerbers durch die Taliban sprach das BVwG unter mehreren individuellen Gesichtspunkten die Glaubwürdigkeit ab. Es führte widersprüchliche, nicht lebensnahe und nicht plausible Angaben, teilweise Steigerungen sowie ein oberflächlich erstattetes Vorbringen des Revisionswerbers ins Treffen. Dabei befasste es sich auch ausdrücklich mit dem Umstand, dass der Revisionswerber bereits in der mündlichen Verhandlung Teile der Übersetzung der Drohbriefe beanstandete, kam jedoch näher begründet zum Ergebnis, dass diese Briefe auch abgesehen davon in sich widersprüchlich seien.

16 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur möglichen Asylrelevanz von Wehrdienstverweigerungen kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen ‑ wie etwa der Anwendung von Folter ‑ jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine „bloße“ Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (vgl. VwGH 7.5.2020, Ra 2020/19/0103, mwN). Dass gegenständlich ein Zusammenhang zwischen der Desertion und den ‑ allenfalls auch nur unterstellten ‑ politischen oder religiösen Überzeugungen des Revisionswerbers bestünde, macht die Revision jedoch nicht geltend.

17 Es gelingt dem Revisionswerber mit seinem Vorbringen nicht, darzulegen, dass die Beweiswürdigung in unvertretbarer Weise vorgenommen worden wäre und sich die Erwägungen des BVwG in seiner Gesamtheit als unschlüssig darstellen würden. Auch eine tragende Grundsätze des Verfahrensrechts berührende Verkennung der Begründungspflicht (vgl. dazu VwGH 19.5.2020, Ra 2019/14/0328; 28.02.2019, Ra 2018/12/0023) ist nicht ersichtlich.

18 Soweit die Revision die unterbliebene zeugenschaftliche Einvernahme des Pfarrers anspricht, steht der Berücksichtigung des dazu erstatteten Vorbringens betreffend die liberale religiöse Einstellung des Revisionswerbers im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof das aus § 41 VwGG abzuleitende Neuerungsverbot entgegen, weil sich ein entsprechendes Vorbringen erstmals in der Revision findet.

19 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 7. Juli 2020

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