VwGH Ra 2019/20/0402

VwGHRa 2019/20/040227.4.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. Juli 2019, Zl. W194 2183032-1/12E, betreffend Feststellung der dauernden Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach dem BFA-VG und Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: M A M in K, vertreten durch Mag.a Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Ringstraße 9), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019200402.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A) III. und A) IV. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 21. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 1. Dezember 2017 zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (IV.), stellte fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (V.) und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest

(VI.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten nach Durchführung einer Verhandlung mit den Spruchpunkten A) I. und A) II. als unbegründet ab. Mit dem Spruchpunkt A) III. stellte es in Abänderung des Bescheides des BFA fest, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten auf Dauer unzulässig sei und erteilte ihm mit Spruchpunkt A) IV. den Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus". Weiters sprach das BVwG aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. 4 Begründend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte lebe seit zwei Jahren im gemeinsamen Haushalt mit einer Österreicherin und ihrem Lebensgefährten. Er werde als fester Bestandteil ihrer Familie wahrgenommen. Seit Oktober 2017 absolviere der Mitbeteiligte eine Lehre zum Metalltechniker - Werkzeugbautechnik und habe die erste und zweite Fachklasse jeweils mit gutem Erfolg abgeschlossen. Der Mitbeteiligte beziehe aus dieser Tätigkeit ein regelmäßiges monatliches Einkommen und sei selbsterhaltungsfähig. Er nehme am sozialen und gesellschaftlichen Leben in Österreich aktiv teil, spreche gut Deutsch und habe die Integrationsprüfung bestanden. Der Mitbeteiligte sei freiwilliger Mitarbeiter des Roten Kreuzes gewesen und habe mehrere näher genannte Kurse besucht.

5 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG betreffend die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung aus, auch wenn der unbescholtene Mitbeteiligte noch nicht ganz vier Jahre in Österreich lebe, hier über keine Familienangehörigen verfüge und er sich jedenfalls seit Dezember 2017 seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein hätte müssen, seien die weiteren Kriterien des § 9 Abs. 2 BFA-VG zu seinen Gunsten zu werten. Er verfüge über ein schutzwürdiges Privatleben in Österreich, jedoch über kein soziales Netz in Afghanistan. Dass er eine Lehre absolviere, sei bei der Beurteilung des Grades an Integration zu seinen Gunsten gewertet worden. Die von der Rechtsprechung geforderten außergewöhnlichen Umstände, die bei einem unter fünfjährigen Aufenthalt gefordert wären, lägen vor, weil der Mitbeteiligte einen hohen Grad an Integration vorweise. Es müsse davon ausgegangen werden, dass sich der Lebensmittelpunkt des Mitbeteiligten nach Österreich verlagert habe und seine Eingliederung in die österreichische Gesellschaft nachhaltig gelungen sei. Die intensiven privaten Interessen würden die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthaltes überwiegen. Eine Rückkehrentscheidung erweise sich daher auf Dauer als unzulässig.

6 Die vom BFA eingebrachte Revision richtet sich nach ihrer Erklärung über den Umfang der Anfechtung gegen die Spruchpunkte A) III. und A) IV. des angefochtenen Erkenntnisses. 7 Nach Vorlage dieser Revision sowie der Verfahrensakten durch das BVwG hat der Verwaltungsgerichtshof das Vorverfahren eingeleitet. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.

 

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Das BFA bringt zur Zulässigkeit der Amtsrevision zusammengefasst vor, das BVwG habe dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen, indem es die Integration des Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Es bestehe ein großes öffentliches Interesse an einem geordneten Fremdenwesen. Dieses werde nur in Ausnahmefällen vom Interesse des Fremden an seinem Privatleben in Österreich überwogen. Eine derart außergewöhnliche Konstellation, dass trotz des erst etwa dreieinhalbjährigen Aufenthaltes des Mitbeteiligten dessen Integration das öffentliche Interesse überwiege, liege im Revisionsfall jedoch nicht vor. Einer Berufstätigkeit und einer Ausbildung komme für sich betrachtet keine wesentliche Bedeutung zu. Sämtliche vom BVwG herangezogenen Aspekte seien zudem dadurch gemindert, dass sie während eines unsicheren Aufenthaltsstatus entstanden seien.

10 Die Revision ist zulässig und begründet.

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes

ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. VwGH 18.3.2019, Ra 2019/01/0068, mwN).

12 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078, mwN).

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Lehrverhältnissen bei der Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK bereits festgehalten, dass die Berücksichtigung einer Lehre beziehungsweise einer Berufsausübung als öffentliches Interesse zugunsten des Fremden unzulässig ist und es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht akzeptiert werden, dass der Fremde mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN). 14 Es entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt und in Fällen, in denen eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vorliegt, regelmäßig erwartet wird, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären (vgl. VwGH 20.11.2019, Ra 2019/20/0269, mwN).

15 Die Amtsrevision zeigt im Zusammenhang mit dem weniger als vierjährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass gegenständlich jedenfalls noch nicht von einer solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. dazu etwa VwGH 10.4.2019, Ra 2019/18/0049; 19.6.2019, Ra 2019/01/0051; 23.10.2019, Ra 2019/19/0289). 16 Das BVwG hielt fest, dass der Mitbeteiligte seine in Österreich verbrachte Zeit genützt habe, um sich in vielerlei Hinsicht in die österreichische Gesellschaft zu integrieren, und dabei ein schützenwertes Privatleben in Österreich entwickelt habe. Es würdigte die guten Deutschkenntnisse, die angefangene Lehre sowie die gute Integration des Mitbeteiligten in eine österreichische Familie, bei der er lebe. Dass diese Integrationsschritte aber eine außergewöhnliche Konstellation bildeten, lässt das angefochtene Erkenntnis nicht erkennen. Insbesondere dem Umstand, dass der Mitbeteiligte seine integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitraum gesetzt hat, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, hat das BVwG zu wenig Beachtung geschenkt. Die Interessenabwägung des BVwG erweist sich daher als unvertretbar. 17 Das Erkenntnis war deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 27. April 2020

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