European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019200269.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem Spruchpunkt A) II. wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 24. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. 2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 1. Dezember 2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten mit Spruchpunkt A) I. hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des Bescheides (Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz) als unbegründet ab. Mit dem Spruchpunkt A) II. stellte es in Abänderung des Bescheides des BFA fest, dass eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gegen den Mitbeteiligten auf Dauer unzulässig sei und dem Mitbeteiligten der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer eines Jahres erteilt werde. Weiters erklärte das Verwaltungsgericht die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
4 Begründend führte das BVwG zur Person des Mitbeteiligten im Wesentlichen aus, er sei Angehöriger der Volksgruppe der Araber. Seine Mutter, vier Brüder und drei Schwestern lebten in Bagdad, wo der Mitbeteiligte vor seiner Ausreise aus dem Irak auch studiert habe. Der Mitbeteiligte verfüge über Deutschkenntnisse des Niveaus A2. Seit 1. September 2018 befinde er sich in einem Lehrverhältnis als Systemgastronomiefachmann. Diese Tätigkeit absolviere er sehr genau, gewissenhaft und zur vollsten Zufriedenheit seines Arbeitgebers. Er sei ledig und lebe derzeit in keiner Lebensgemeinschaft. Sein engster Freundeskreis beschränke sich auf das Arbeitsumfeld. Zur Begründung des Spruchpunktes A) II. führte das BVwG in rechtlicher Hinsicht aus, nach Maßgabe einer Interessenabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG sei davon auszugehen, dass das persönliche Interesse des Mitbeteiligten das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Mitbeteiligten im Bundesgebiet überwiege und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Art. 8 EMRK-Verletzung vorliege. Der Mitbeteiligte verfüge über Deutschkenntnisse des Niveaus A2. Seit 1. September 2018 gehe er zur vollsten Zufriedenheit seines Arbeitsgebers einer Lehre als Systemgastronomiefachmann nach und besuche derzeit die Berufsschule. Damit sei der eindeutige Wille des Mitbeteiligten zur Integration beurkundet. Des Weiteren befinde sich der Mitbeteiligte seit rund dreieinhalb Jahren im Bundesgebiet. Im Zusammenhalt mit seinen übrigen Integrationsbemühungen seien die Voraussetzungen für den Ausspruch der dauerhaften Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung vorgelegen und ihm eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen gewesen. 5 Die vom BFA eingebrachte Revision richtet sich nach ihrer Erklärung über den Umfang der Anfechtung gegen den Spruchpunkt A) II. des Erkenntnisses des BVwG.
6 Nach Vorlage der Revision sowie der Verfahrensakten durch das BVwG hat der Verwaltungsgerichtshof das Vorverfahren eingeleitet. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat über die Revision erwogen:
8 Das BFA macht zur Zulässigkeit der Amtsrevision unter Hinweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geltend, das BVwG sei von den von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entwickelten Grundsätzen für die nach § 9 BFA-VG vorzunehmende Interessenabwägung abgewichen. Es habe bei seiner Interessenabwägung dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die diesem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen, indem es die Integration des Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Die vom BVwG herangezogenen Merkmale der Integration begründeten im vorliegenden Fall keine außergewöhnliche Konstellation, derzufolge trotz des erst ca. dreijährigen Aufenthalts des Mitbeteiligten in Österreich das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung "von der Integration überwogen" würde.
9 Außerdem weiche das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, weil es über die Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung beziehungsweise deren Gegenstück, die Feststellung der Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 9 BFA-VG und den damit einhergehenden Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG abspreche, obwohl es der Beschwerde gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG stattgebe.
10 Die Revision ist zulässig und begründet.
11 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn
des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 2.9.2019, Ra 2019/01/0088, mwN).
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Lehrverhältnissen bei der Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK bereits festgehalten, dass die Berücksichtigung einer Lehre beziehungsweise einer Berufsausübung als öffentliches Interesse zugunsten des Fremden unzulässig ist und es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Es müsse unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht akzeptiert werden, dass der Fremde mit seinem Verhalten letztlich versucht, in Bezug auf seinen Aufenthalt in Österreich vollendete Tatsachen zu schaffen (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN). 13 Es entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt und in Fällen, in denen eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vorliegt, regelmäßig erwartet wird, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären (vgl. etwa VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0246, mwN).
14 Zu Recht macht die Amtsrevision unter Hinweis auf den erst zirka dreieinhalbjährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet geltend, dass ausgehend von den getroffenen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis noch nicht von einer solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden werden müsste. Das BVwG hat insbesondere dem Umstand, dass der Mitbeteiligte seine integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitraum gesetzt hat, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, keine Beachtung geschenkt. Dadurch hat das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und damit seinen Anwendungsspielraum überschritten. Die Interessenabwägung des BVwG erweist sich daher als unvertretbar (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, samt zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes). 15 Im Übrigen ist die Revision auch damit im Recht, wenn sie darauf hinweist, dass ein negatives Ergebnis der amtswegigen Prüfung der Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 eine Bedingung für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung ist (vgl. dazu VwGH 7.3.2019, Ro 2019/21/0002), das BVwG jedoch die bekämpfte behördliche Entscheidung spruchgemäß in Stattgebung der Beschwerde gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III. des Bescheides) aufgehoben hat. Eine Begr��ndung dafür lässt sich dem Erkenntnis des BVwG nicht entnehmen. 16 Das angefochtene Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.
Wien, am 20. November 2019
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