VwGH Ra 2019/19/0282

VwGHRa 2019/19/028223.10.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Mai 2019, W104 2161854/10E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: A A M, vertreten durch Dr. Peter Lechenauer und Dr. Margrit Swozil, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Hubert-Sattler-Gasse 10), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019190282.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A.II. und A.III. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte ist afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er stellte am 19. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem AsylG 2005.

2 Der Mitbeteiligte brachte vor, seine Familie stamme aus der afghanischen Provinz Ghazni. Als er vier Jahre alt gewesen sei, sei sein Vater von den Taliban ermordet worden. Die Grundstücke seiner Familie seien von Feinden der Familie in Besitz genommen worden. Er sei daher noch im Kleinkindalter gemeinsam mit seinen Familienangehörigen nach Pakistan geflüchtet. Im Jahr 2015 sei er nach Afghanistan in die Stadt Kandahar zurückgekehrt. Dort sei er von einer unbekannten Person bedroht worden, weshalb er erneut geflüchtet sei. Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan drohe ihm Verfolgung durch die Feinde seiner Familie.

3 Mit Bescheid vom 21. April 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab. Weiters sprach das BFA aus, dass dem Mitbeteiligten ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen sowie festgestellt werde, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.

4 In seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde brachte der Mitbeteiligte vor, die Feststellungen des BFA zur Lage in Afghanistan seien unzureichend. Nach den tatsächlichen Verhältnissen stehe ihm - entgegen den Annahmen des BFA - keine innerstaatliche Fluchtalternative in den großen Städten Afghanistans offen. Weiters machte der Mitbeteiligte im Beschwerdeverfahren nunmehr geltend, zum christlichen Glauben konvertiert zu sein und einer näher bezeichneten Freikirche anzugehören.

5 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Im Übrigen gab das BVwG der Beschwerde Folge und sprach aus, dass dem Mitbeteiligten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt A.II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 27. Mai 2020 erteilt werde (Spruchpunkt A.III.). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B). 6 Das BVwG erachtete das Fluchtvorbringen des Mitbeteiligten - insbesondere auch eine Konversion zum Christentum - nicht als glaubhaft. Es stellte fest, dass der Vater des Mitbeteiligten ermordet worden sei und der Mitbeteiligte danach im Alter von vier Jahren mit seiner Familie nach Pakistan geflüchtet sei. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohe dem Mitbeteiligten jedoch nunmehr keine Verfolgung mehr durch Feinde seines Vaters bzw. seiner Familie. Es sei auch nicht glaubhaft, dass der Mitbeteiligte im Jahr 2015 selbst bedroht worden wäre bzw. überhaupt nochmals nach Afghanistan zurückgekehrt wäre. Die Muttersprache des Mitbeteiligten sei Dari. Er habe in Pakistan Berufserfahrung als Händler erworben.

7 In Afghanistan habe der Mitbeteiligte keine Familienangehörigen mehr. Seine Familie sei in Pakistan. Die Provinz Ghazni, aus der er ursprünglich stamme, gehöre zu den volatilen und stark von bewaffneten Konflikten zwischen der Regierung und regierungsfeindlichen Gruppierungen betroffenen Provinzen. Bei einer Rückkehr in diese Provinz bestehe daher die Gefahr, im Zuge der Kampfhandlungen verletzt oder getötet zu werden. Auch die Hauptstadt Kabul sei von innerstaatlichen Konflikten bzw. öffentlichkeitswirksamen Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen betroffen. Dagegen blieben die Provinzen Balkh und Herat von bewaffneten Auseinandersetzungen weitgehend verschont. Es sei daher nicht davon auszugehen, dass eine Niederlassung in den unter der Kontrolle der Regierung stehenden Städten Mazar-e Sharif (Provinz Balkh) oder Herat (Stadt) für den Mitbeteiligten eine Gefahr für seine körperliche Integrität aufgrund von Kampfhandlungen bzw. Anschläge bedeuten würde. Es sei dem Mitbeteiligten aber nicht möglich, bei einer Ansiedlung in diesen Städten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, so wie es auch seine Landsleute führen könnten. Er liefe Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten. 8 Zur allgemeinen Lage in Afghanistan traf das BVwG unter Berufung auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation nähere Feststellungen.

9 Im Rahmen der Beweiswürdigung führte das BVwG aus, die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Mitbeteiligten bzw. seinen familiären Verhältnissen sowie zu seiner Flucht aus Afghanistan im Alter von vier Jahren gründeten sich auf die gleichbleibenden Angaben des Mitbeteiligten im Verfahren. Es sei auch glaubhaft, dass der Vater des Mitbeteiligten ermordet worden sei, nicht aber dass dem Mitbeteiligten deshalb selbst in Afghanistan noch Gefahr drohe. Die Angaben des Mitbeteiligten, im Jahr 2015 nach Afghanistan zurückgekehrt und dort bedroht worden zu sein, seien vage und (aus näher genannten Gründen) widersprüchlich gewesen. Entgegen dem Vorbringen des Mitbeteiligten drohe ihm - wie sich aus den Länderberichten ergebe - aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara keine Verfolgung. Wohl komme es zu sozialer Diskriminierung, es bestehe aber keine Gefahr, dass der Mitbeteiligte aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Hazara Übergriffen ausgesetzt wäre.

10 Nach den Berichten des EASO ("Country Guidance Afghanistan" vom Juni 2018) seien maßgebliche Faktoren für die Frage, ob sich ein Rückkehrer in Herat (Stadt) eine Lebensgrundlage aufbauen könne: Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten, sozialer und ökonomischer Hintergrund, Bildungshintergrund, Zugang zu einem sozialen Unterstützungsnetzwerk und die Religion. Der Mitbeteiligte sei ein junger, volljähriger Mann. Er sei, obwohl er nicht "ganz gesund" sei und insbesondere an einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie Spannungskopfschmerzen leide, in der Lage, am Erwerbsleben teilzunehmen. Ausgehend davon, dass der Mitbeteiligte Afghanistan bereits mit vier Jahren verlassen habe, sei jedoch davon "auszugehen", dass er mit den dortigen Gegebenheiten sowie den Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuchen nicht vertraut sei, zumal auch nicht "zu erwarten" sei, dass dem Mitbeteiligten durch seine Familie afghanische Lebensgewohnheiten vermittelt worden wären. Auch sei davon "auszugehen", dass der Mitbeteiligte durch seinen Aufenthalt in Pakistan eine "entsprechende Sprachfärbung" aufweise, wodurch er in Afghanistan als Rückkehrer erkennbar sei. Er habe daher mit Diskriminierung zu rechnen, die zu einer Erschwernis der Arbeits- und Wohnungssuche führe. Nach den Länderinformationen komme sozialen Netzwerken, insbesondere der Großfamilie, in Afghanistan eine wichtige Rolle bei der Sicherung des wirtschaftlichen Überlebens - etwa bei der Arbeitssuche - zu. Über solche Netzwerke verfüge der Mitbeteiligte nicht. Durch die Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe könnte der Mitbeteiligte nur kurzfristig ein Auslangen finden. In den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 werde auch von einer Dürre in einigen Provinzen Afghanistans berichtet, wobei auch die Provinzen Herat und Balkh betroffen seien. In Zusammenschau der "spezifischen individuellen Merkmale" des Mitbeteiligten sowie der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat sei somit davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte auch in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) nicht Fuß fassen und dort kein Leben ohne unbillige Härte führen könnte, sondern in eine ausweglose Situation geraten würde.

11 In rechtlicher Hinsicht folgerte das BVwG, dem Mitbeteiligten sei mangels drohender Verfolgung der Status eines Asylberechtigten nicht zuzuerkennen. Es bestehe jedoch die reale Gefahr, dass der Mitbeteiligte bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz seiner Familie Opfer eines bewaffneten Konfliktes werden könnte. Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative stehe nicht zur Verfügung, weil der Mitbeteiligte aus den aufgezeigten Gründen auch in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat nicht Fuß fassen könnte. Es sei daher der Status des subsidiär Schutzberechtigen zuzuerkennen.

12 Gegen die Spruchpunkte A.II. und A.III. dieses Erkenntnisses richtet sich die außerordentliche Revision des BFA. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.

 

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

14 Das BFA bringt zur Zulässigkeit seiner Revision zusammengefasst vor, das BVwG sei von der - näher zitierten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen.

15 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

16 Der vorliegende Revisionsfall gleicht in den für seine

Erledigung wesentlichen Punkten jenem, den der Verwaltungsgerichtshof mit dem Erkenntnis vom 17. September 2019, Ra 2019/14/0160, entschieden hat. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird auf die in diesem Erkenntnis enthaltene Begründung verwiesen.

17 Wie in dem diesem Erkenntnis zugrunde liegenden Fall handelt es sich im vorliegenden Fall bei dem Mitbeteiligten nach den Feststellungen um einen jungen, erwerbsfähigen Mann, der der Volksgruppe der Hazara angehört, Afghanistan bereits im Kleinkindalter verlassen hat und im Ausland in einer afghanischen Familie aufgewachsen ist. Auch im vorliegenden Fall erweist sich die Annahme des BVwG, die sich nicht auf Angaben des Mitbeteiligten selbst stützen kann, der Mitbeteiligte sei mit den Gegebenheiten sowie den Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuchen in Afghanistan nicht vertraut, nicht als nachvollziehbar. Es ergibt sich nicht, dass die Situation des Mitbeteiligten sich maßgeblich von jener unterscheidet, in der sich afghanische Staatsangehörige befinden, die sich Zeit ihres Lebens in Afghanistan aufgehalten haben und die gleichfalls keine detaillierten Ortskenntnisse betreffend der afghanischen Großstädte aufweisen.

18 Auch hinsichtlich der allgemeinen Situation in Afghanistan - etwa auch betreffend die Lage der Hazara und der Unterstützungen für Rückkehrer - hat das BVwG mit dem genannten Revisionsfall, Ra 2019/14/0160, übereinstimmende Feststellungen getroffen. Soweit das BVwG sich im vorliegenden Fall ergänzend auch darauf stützte, dass in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 von einer Dürre in den Provinzen Herat und Balkh berichtet werde, so kann allein daraus noch nicht darauf geschlossen werden, dass eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK infolge des Fehlens der Lebensgrundlage bei Niederlassung in den Städten Mazare Sharif und Herat bestünde (vgl. in diesem Sinn VwGH 19.6.2019, Ra 2018/01/0475; 4.3.2019, Ra 2018/20/0540).

19 Von Relevanz könnte in diesem Zusammenhang die aktuelle Versorgungslage sein, die sich in den genannten Städten im Entscheidungszeitpunkt ergibt. Dazu hat das BVwG im vorliegenden Fall jedoch keine aktuellen Länderberichte eingeholt bzw. keine Feststellungen getroffen (vgl. dagegen die in VwGH Ra 2019/14/0160, Rn. 15, wiedergegeben Berichte). Dies stellt einen Verfahrensmangel dar. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist von den mit Asylverfahren befassten Behörden bzw. Gerichten nämlich zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einbeziehen. Folglich hatte auch das BVwG seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (vgl. etwa VwGH 26.3.2019, Ra 2019/19/0043, mwN).

20 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

Wien, am 23. Oktober 2019

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