Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019190123.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A.III. und A.IV. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 4. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag mit Bescheid vom 23. März 2018 zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des Bescheides (Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten) als unbegründet ab (Spruchpunkte A.I. und A.II.). Im Übrigen gab das BVwG der Beschwerde jedoch statt und stellte in Abänderung des Bescheides des BFA fest, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und dem Mitbeteiligten der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 für die Dauer von zwölf Monaten erteilt werde (Spruchpunkte A.III. und A.IV.). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).
4 Begründend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei im Iran geboren worden, wo er sein gesamtes bisheriges Leben verbracht habe. Seine Eltern und eine Schwester würden nach wie vor im Iran leben. Die Familie des Mitbeteiligten stamme ursprünglich aus der Provinz Logar, sie habe Afghanistan aber bereits vor Jahrzehnten, jedenfalls deutlich vor der Geburt des Revisionswerbers verlassen, um in den Iran zu gehen. Der Mitbeteiligte habe keine Angehörigen in Afghanistan.
5 Der Mitbeteiligte habe in Österreich für den Lehrberuf „Berufsfotograf“ alle drei Klassen der Berufsschule erfolgreich abgeschlossen. Mit Bescheid des AMS vom 31. Mai 2016 sei dem Mitbeteiligten eine Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Berufsfotograf (Lehrling/Auszubildender) für die Zeit vom 1. Juli 2016 bis 30. September 2019 erteilt worden. Der Mitbeteiligte habe am 1. Juli 2016 bei der F GmbH eine Lehre als Berufsfotograf begonnen. Mit Änderung des Lehrvertrages vom 10. November 2016, ausgestellt von „Jugend am Werk“, sei das Lehrverhältnis bis zum 31. Dezember 2020 verlängert worden. Der Mitbeteiligte beziehe derzeit eine Lehrlingsentschädigung in näher genannter Höhe und beginne ab Juni 2019 das vierte Lehrjahr, was mit einer Erhöhung der Lehrlingsentschädigung einhergehe. Der Mitbeteiligte habe mehrere Deutschkurse besucht und die Prüfung auf dem Niveau B1 abgelegt. Er verfüge bereits über sehr gute Sprachkenntnisse und habe sich im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG mit dem erkennenden Richter problemlos und flüssig auf Deutsch verständigen können. Dem Mitbeteiligten seien von zahlreichen Personen in seinem schulischen, beruflichen und familiären Umfeld hohe Integrationsbemühungen attestiert worden, die sogar in Medienberichten positiv aufgenommen worden seien. Der Mitbeteiligte habe auch bei seiner beruflichen Tätigkeit einen nachhaltig positiven Eindruck hinterlassen. Er habe seinen Arbeitswillen neben seinen besonders guten schulischen Leistungen, etwa auch bei freiwilligen Fotoprojekten, unter Beweis gestellt. Zudem habe der Mitbeteiligte während seines Aufenthaltes im Bundesgebiet an integrativen Aktivitäten teilgenommen, soziale Kontakte geknüpft und sei bereits gut in die österreichische Gesellschaft integriert. Der Mitbeteiligte sei strafrechtlich unbescholten und beziehe seit 1. Juli 2016 keine Leistungen mehr aus der Grundversorgung.
6 Im gegenständlichen Falle könne somit keineswegs davon ausgegangen werden, dass der Mitbeteiligte die in Österreich verbrachte Zeit nicht genützt hätte, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Zudem lege das Verhalten des Mitbeteiligten nicht nahe, dass von ihm eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgehe. Die Bindungen des Mitbeteiligten an seinen Herkunftsstaat seien demgegenüber wenig intensiv ausgeprägt. Er sei im Iran geboren und habe außer im Zuge seiner Flucht nie in Afghanistan gelebt, wo er auch keine Familienangehörigen mehr habe. Bei Berücksichtigung aller Aspekte würden im Rahmen einer Gesamtbetrachtung im Entscheidungszeitpunkt die privaten Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib im Bundesgebiet und an der Fortführung seines Privatlebens die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens überwiegen. Es würde sich daher eine Rückkehrentscheidung als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK erweisen. Gemäß § 9 Abs. 3 BFA‑VG sei somit die Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten auf Dauer unzulässig und sei unter Berücksichtigung des vom Mitbeteiligten erzielten Einkommens eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 zu erteilen.
7 Gegen die Spruchpunkte A.III. und A.IV. des angefochtenen Erkenntnisses richtet sich die vorliegende Amtsrevision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem vom Mitbeteiligten eine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
8 Die Revision führt unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung unter anderem aus, das BVwG sei von der (näher dargestellten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der bei Rückkehrentscheidungen im Sinn des Art. 8 EMRK vorzunehmenden Interessenabwägung abgewichen, weil es in seiner Interessenabwägung das Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG („die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren“) völlig unberücksichtigt gelassen und die Integration des Mitbeteiligten in Österreich in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Eine außergewöhnliche Konstellation, in der trotz des erst etwa dreijährigen Aufenthaltes des Mitbeteiligten in Österreich von einem Überwiegen der öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung durch die privaten Interessen des Mitbeteiligten an einem Verbleib im Inland auszugehen wäre, liege nicht vor.
9 Die Revision erweist sich aus diesem Grund als zulässig und auch als berechtigt.
10 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 20.11.2019, Ra 2019/20/0269, mwN).
11 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, mwN).
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 28. Februar 2019, Ro 2019/01/0003, dargelegt, dass es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Auf die nähere Begründung dieser Entscheidung wird gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen.
13 Die Amtsrevision zeigt in diesem Zusammenhang zutreffend auf, dass das BVwG ‑ welches lediglich ausführt, dass keineswegs davon ausgegangen werden könne, dass der Mitbeteiligte die in Österreich verbrachte Zeit nicht genützt hätte, um sich zu integrieren ‑ den Umstand, wonach die integrationsbegründenden Schritte des Mitbeteiligten in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Mitbeteiligte seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, unberücksichtigt gelassen hat. Insofern hat das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und seinen Anwendungsspielraum überschritten.
Die Interessenabwägung erweist sich daher als unvertretbar (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, mwN).
14 Hinzu tritt, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt und in Fällen, in denen eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vorliegt, regelmäßig erwartet wird, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären (vgl. VwGH 20.11.2019, Ra 2019/20/0269, mwN).
Das BVwG geht im vorliegenden Fall, ohne es ausdrücklich auszusprechen, im Ergebnis von einer solchen, einer Rückkehrentscheidung entgegenstehenden Integration des Mitbeteiligten aus, während die Amtsrevision diese explizit bestreitet und zusammengefasst geltend macht, dass sich der gegenständliche Fall nicht von vergleichbaren ‑ näher bezeichneten ‑ anderen unterscheide, die bereits Gegenstand von höchstgerichtlichen Entscheidungen gewesen seien und in denen die persönlichen Verhältnisse der Betroffenen nicht ausgereicht hätten, um ihnen unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK einen dauernden Verbleib in Österreich zu ermöglichen. Zu Recht macht die Amtsrevision unter Hinweis auf den ‑ im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt ‑ etwas mehr als dreijährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet geltend, dass die getroffenen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis die Annahme von „außergewöhnlichen Umständen“ im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht decken. Dass gegenständlich eine solche Verdichtung der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten vorliege, dass bereits von „außergewöhnlichen Umständen“ gesprochen werden könne, lässt die Begründung der angefochtenen Entscheidung nicht erkennen.
15 Das Erkenntnis war somit im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 19. März 2021
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