Normen
VwGVG 2014 §24 Abs1
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs3
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180327.L00
Spruch:
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 21. Oktober 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Nach dem Tod seiner Eltern habe er mit seinem Bruder bei seinem Onkel väterlicherseits gelebt, welcher ihn und seinen Bruder schlecht behandelt sowie geschlagen habe. Der Mitbeteiligte habe dann als Hirte gearbeitet und sei von seinem Arbeitgeber ebenfalls geschlagen worden, wobei dieser ihm die Hand gebrochen habe. Zudem habe der Arbeitgeber von ihm verlangt, vor ihm zu tanzen. Aus Angst, sexuell missbraucht zu werden, habe der Mitbeteiligte Afghanistan verlassen.
2 Mit Bescheid vom 23. Mai 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.). 3 Mit Beschluss vom 19. Juli 2019 behob das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) den bekämpften Bescheid und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück (Spruchpunkt A). Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).
4 Begründend führte das BVwG aus, dass das BFA keinerlei Feststellungen zur Praxis von sogenannten "Bacha Bazi" (Tanzjungen) getroffen habe, obwohl es sich auf "diesbezügliche - jedoch nicht vorliegende - Informationen und landeskundliche Erhebungen seitens der Staatendokumentation" bezogen habe, wonach der Mitbeteiligte ohnedies zu alt für die angesprochene Praxis gewesen sei - obwohl er zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides gerade 18 Jahre alt gewesen sei - und zudem nur feminin aussehende Jungen ohne jeden Bartwuchs dafür herangezogen würden. Im Übrigen sei schon der Hinweis des BFA auf das Alter des Mitbeteiligten im Rahmen der Einvernahme völlig unbegründet und mit keiner Quelle belegt worden. Somit könne nicht von der Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes ausgegangen werden. Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das BVwG liege nicht im Sinne des Gesetzes.
5 Gegen diesen Beschluss wendet sich vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit geltend macht, dass eine Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG erst dann möglich sei, wenn der maßgebliche Sachverhalt noch nicht feststehe und dessen Feststellung durch das Verwaltungsgericht nicht im Interesse der Raschheit oder der Kostenersparnis gelegen sei. Seien lediglich ergänzende Ermittlungen vorzunehmen, liege die - bloß ergänzende - Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das BVwG jedenfalls im Interesse der Raschheit. Bei einer derart vorzunehmenden Abwägung sei nicht nur auf die voraussichtliche Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens allein abzustellen, sondern auch Bedacht auf die Dauer des bis zur meritorischen Entscheidung insgesamt erforderlichen Verfahrens zu nehmen. Bescheide, die in der Begründung dürftig seien, würden keine Zurückweisung in der Sache rechtfertigen, wenn brauchbar Ermittlungsergebnisse vorlägen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung zu vervollständigen seien. 6 Bei der Frage, ob Männer im Alter des Mitbeteiligten gefährdet seien, als "Bacha Bazi" missbraucht zu werden, handle es sich um solche ergänzende Ermittlungen, die das BVwG im Interesse der Raschheit selbst durchführen hätte müssen. Im aktuellen Länderinformationsblatt mit der letzten Kurzinformation vom 4. Juni 2019 finde sich ein Kapitel zu "Tanzjungen". Da dieses dem BVwG ohnedies jederzeit zugänglich sei, hätte das BVwG im Interesse der Raschheit die fehlenden Länderberichte aus dem Länderinformationsblatt einholen müssen. Daher weiche das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab. 7 Die Zurückverweisung erscheine auch bereits im Hinblick auf § 5 Abs. 3 BFA-VG unzulässig. Nach dieser Bestimmung sei das BVwG berechtigt, das BFA im Rahmen der Staatendokumentation um die Sammlung von verfügbaren Informationen und die Auswertung von vorhandenen oder zu sammelnden Informationen zu einer bestimmten Frage im Wege der Amtshilfe zu ersuchen und das BFA habe einem solchen Ersuchen zu entsprechen. Die dem BFA aufgetragene Einholung von Länderberichten könne das BVwG in diesen Fällen ebenso durch eine Anfrage an die Staatendokumentation veranlassen. Auf diese Weise könnte das Verfahren wesentlich rascher beendet werden, als wenn das BFA nach einer Zurückverweisung dieselben Ermittlungen durch die Staatendokumentation vornehmen ließe und dem Mitbeteiligten wieder eine Beschwerde an das BVwG offen stünde.
8 Der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.
9 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.
10 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs
ist in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (vgl. grundlegend VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063). 11 Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden; eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 2.9.2019, Ra 2019/01/0086, mwN).
12 Sind (lediglich) ergänzende Ermittlungen vorzunehmen, liegt die (ergänzende) Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht im Interesse der Raschheit im Sinn des § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG, zumal diesbezüglich nicht bloß auf die voraussichtliche Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens alleine, sondern auf die Dauer des bis zur meritorischen Entscheidung insgesamt erforderlichen Verfahrens abzustellen ist. Nur mit dieser Sichtweise kann ein dem Ausbau des Rechtsschutzes im Sinn einer Verfahrensbeschleunigung Rechnung tragendes Ergebnis erzielt werden, führt doch die mit der verwaltungsgerichtlichen Kassation einer verwaltungsbehördlichen Entscheidung verbundene Eröffnung eines neuerlichen Rechtszugs gegen die abermalige verwaltungsbehördliche Entscheidung an ein Verwaltungsgericht insgesamt zu einer Verfahrensverlängerung (vgl. VwGH 12.8.2019, Ra 2019/20/0192, mwN).
13 Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens führte das BFA am 21. Oktober 2014, am 24. Oktober 2014 sowie am 18. April 2016 eine Einvernahme des Mitbeteiligten durch. Dabei hat das BFA den Mitbeteiligten zu seinen Fluchtgründen und zu den Gründen für eine allenfalls weiterhin bestehende Gefährdung in Afghanistan befragt. Des Weiteren wurden die zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung aktuellen Länderfeststellungen ermittelt. Davon ausgehend ist nicht ersichtlich, dass das BFA im Sinne der bereits genannten Judikatur jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen habe, nur völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder nur ansatzweise ermittelt habe. Darüber hinaus ist nicht zu erkennen, dass das BFA schwierige Ermittlungen unterlassen habe, nur damit diese durch das BVwG vorgenommen werden.
14 Dem BVwG ist zwar zuzustimmen, dass das BFA es unterlassen hat, Länderberichte hinsichtlich der Praxis der Tanzjungen in die Entscheidung miteinzubeziehen. In diesem Zusammenhang ist jedoch den Ausführungen der Revision zuzustimmen, dass dem BVwG das zum Entscheidungszeitpunkt aktuelle Länderinformationsblatt leicht zugänglich gewesen wäre und sich in diesem auch Ausführungen hinsichtlich der Praxis der Tanzjungen finden. Es ist nicht ersichtlich, dass krasse bzw. besonders gravierende Ermittlungslücken seitens des BFA vorliegen würden. 15 Zudem legte das BVwG nicht dar, dass die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens bzw. die Beischaffung der fehlenden Länderfeststellungen in Bezug auf die Praxis der Tanzjungen durch das Verwaltungsgericht selbst nicht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre (vgl. VwGH 2.9.2019, Ra 2019/01/0086, mwN).
16 Im Lichte der hg. Rechtsprechung wäre das BVwG daher verpflichtet gewesen, auf den bisherigen Ermittlungsergebnissen des BFA aufzubauen und allenfalls notwendige, ergänzende Ermittlungen - etwa eine weitere Einvernahme oder eine Ergänzung der Länderfeststellungen - selbst durchzuführen. In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof bereits festgehalten, dass für die Verwaltungsgerichte auf dem Boden des § 28 VwGVG nicht bloß eine ergänzende Sachverhaltsermittlungskompetenz besteht und auch die Notwendigkeit der Durchführung für sich genommen keinen Grund für eine Aufhebung und Zurückverweisung darstellt. Dasselbe gilt für das Erfordernis ergänzender Einvernahmen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung (vgl. VwGH 20.6.2017, Ra 2017/18/0117, mwN).
17 Aufgrund der dargelegten Erwägungen war der angefochtene Beschluss in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 6. Dezember 2019
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