VwGH Ra 2019/01/0428

VwGHRa 2019/01/04286.4.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Oktober 2019, Zl. W177 2131977- 1/34E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: O I in N, vertreten durch Mag. Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Ringstraße 9), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019010428.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seiner Spruchpunkte A II. und III. (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels), wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 26. November 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 15. Juni 2016 wurde dieser Antrag vollinhaltlich abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

4 Mit Erkenntnis des BVwG vom 17. Oktober 2019 wurde die Beschwerde des Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 und § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen (A I.) und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei (A II.). Zudem wurde dem Mitbeteiligten gemäß §§ 54 und 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt (A. III.). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (B.).

5 Begründend stellte das BVwG - soweit für das Revisionsverfahren relevant - fest, der Mitbeteiligte halte sich seit November 2014 in Österreich auf und pflege freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und Afghanen, darüber hinaus hätten keine substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden können. Der Mitbeteilige gehe gemeinnützigen Tätigkeiten nach, habe diverse Deutschkurse besucht und einige Module zur Nachholung des Pflichtschulabschlusses bestanden. Der Mitbeteiligte habe eine Lehre als Elektrotechniker begonnen, diese aber aufgrund von sprachlichen Defiziten und Lerndefiziten abbrechen müssen. Er verfüge aber über eine Arbeitsbewilligung als Küchengehilfe in der Hotellerie, sei nicht von der Grundversorgung abhängig und selbsterhaltungsfähig. Der unbescholtene Mitbeteiligte habe durch seinen Fleiß sowie seine offene und freundliche Art große Fortschritte zur Führung eines selbständigen Lebens in Österreich gemacht.

6 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG zusammengefasst aus, es könne von einem "mehr als ausreichenden Grad der Integration" des Mitbeteiligten ausgegangen werden. Vom Mitbeteiligten gehe keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aus und würden die privaten Interessen des Mitbeteiligten gegenüber den öffentlichen Interessen überwiegen. Eine Rückkehrentscheidung stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in die durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte des Mitbeteiligten dar.

7 Gegen die Spruchpunkte A II. und III. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision. 8 Zur Zulässigkeit führt die Revision zusammengefasst und unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aus, das BVwG habe dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die diesem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen. Im Revisionsfall liege keine derart außergewöhnliche Konstellation vor, dass trotz des beinahe fünfjährigen Aufenthaltes die privaten Interessen des Mitbeteiligten gegenüber den öffentlichen Interessen überwiegen würden. Die Umstände, dass ein Fremder perfekt Deutsch spreche, sozial vielfältig vernetzt und integriert sei, für seinen Lebensunterhalt selbst aufkomme und nie straffällig geworden sei, würden keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale darstellen. Auch dem Vorliegen einer Einstellungszusage oder einer Ausbildung komme für sich betrachtet keine wesentliche Bedeutung zu. Sämtliche der vom BVwG herangezogenen Aspekte seien während eines unsicheren Aufenthalts entstanden und daher in ihrem Gewicht gemindert.

9 Der Mitbeteiligte erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes

ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG.

12 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, sowie VwGH 2.9.2019, Ra 2019/01/0088, jeweils mwN).

13 Die Amtsrevision zeigt im Zusammenhang mit der kurzen Aufenthaltsdauer des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass gegenständlich jedenfalls noch nicht von einer solchen Verdichtung der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten auszugehen ist, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. dazu etwa VwGH 19.6.2019, Ra 2019/01/0051, mwN; vgl. zum Nichtvorliegen einer erforderlichen "außergewöhnlichen Integration" in ähnlichen Fällen weiters VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0189 und Ra 2019/18/0212). 14 Zudem hat der Verwaltungsgerichtshof im erwähnten Erkenntnis Ro 2019/01/0003 mit näherer Begründung ausgeführt, dass es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Die Amtsrevision weist zu Recht darauf hin, dass das BVwG im Revisionsfall auch diesen Aspekt nicht berücksichtigt hat. 15 Indem das BVwG daher im vorliegenden Fall das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber den festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet hat, hat es seinen Anwendungsspielraum überschritten.

16 Das Erkenntnis war deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 6. April 2020

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