VwGH Ra 2019/01/0088

VwGHRa 2019/01/00882.9.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und den Hofrat Dr. Kleiser sowie die Hofrätin Mag. Liebhart-Mutzl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 4. Dezember 2018 mündlich verkündete und am 1. Februar 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes

Zl. W109 2160934-1/16Z bzw. W109 2160934-1/20E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: Y H in N, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019010088.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seiner Spruchpunkte A) III. und A) IV. (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels), wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 2. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 10. Mai 2017 wurde dieser Antrag vollinhaltlich abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

4 Mit dem am 4. Dezember 2018 mündlich verkündeten und am 1. Februar 2019 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis wurde die Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz als unbegründet abgewiesen (A) I. und A) II.) sowie festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten gemäß § 9 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei und dem Mitbeteiligten gemäß §§ 54, 55 und 58 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt (A) III. und A) IV.). Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das BVwG für nicht zulässig (B) ). 5 Begründend führte das BVwG zur Person des Mitbeteiligten ua. aus, dieser habe an mehreren Deutschkursen teilgenommen, besuche die Berufsschule und sei seit 1. Oktober 2018 Lehrling als Isoliertechniker/Monteur. Der Mitbeteilige halte sich seit spätestens 2. November 2015 in Österreich auf, verfüge über zahlreiche Bekannte in Österreich, beziehe keine Unterstützungsleistungen aus öffentlichen Geldern, sei selbsterhaltungsfähig und bestens integriert. Er sei Vollwaise, habe seinen Herkunftsstaat mit 18 Jahren verlassen und es gebe keine Angehörigen im Herkunftsstaat, zu denen er Kontakt pflege. 6 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG hinsichtlich der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung aus, der unbescholtene Mitbeteiligte lebe seit etwa drei Jahren in Österreich und habe sich von Beginn an um umfassende Integration bemüht. Er gehe einer Beschäftigung als Arbeiterlehrling - welches im Sinne des wirtschaftlichen Wohls des Landes positiv zu berücksichtigen sei - nach und sei in seinem Lehrbetrieb sehr gut integriert. Er erziele sein eigenes Einkommen und sei nicht auf öffentliche Gelder angewiesen. Der Mitbeteiligte spreche Deutsch und nehme am sozialen Leben in seinem Wohnumfeld teil, wobei er von diesem sehr geschätzt und als gut integriert beschrieben werde. Sein Arbeitgeber beschreibe ihn als engagiert, teamfähig und gewissenhaft. Die Aufenthaltsdauer des Mitbeteiligten schlage zwar nachteilig aus, die in knapp drei Jahren erlangte Integration rechtfertige jedoch die Erteilung eines Aufenthaltstitels. Zudem habe der Mitbeteiligte keine Familienangehörigen in Afghanistan. Die privaten Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib im österreichischen Bundesgebiet würden somit die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens überwiegen.

7 Gegen die Spruchpunkte A) III. und A) IV. dieses Erkenntnisses (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels) richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.

8 Zur Zulässigkeit führte die Revision zusammengefasst und unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aus, das BVwG habe dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die diesem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende große Bedeutung beigemessen. Im Revisionsfall liege keine derart außergewöhnliche Konstellation vor, dass trotz des erst etwa dreijährigen Aufenthaltes die privaten Interessen des Mitbeteiligten das öffentliche Interesse überwiegen würden. Die Umstände, dass ein Fremder perfekt Deutsch spreche, sozial vielfältig vernetzt und integriert sei, für seinen Lebensunterhalt selbst aufkomme und nie straffällig geworden sei, würden keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale darstellen. Auch einer Berufstätigkeit und einer Ausbildung komme für sich betrachtet keine wesentliche Bedeutung zu. Sämtliche der vom BVwG herangezogenen Aspekte seien während eines unsicheren Aufenthalts entstanden und daher in ihrem Gewicht gemindert. Zudem seien öffentliche Interessen nicht zu Gunsten des Fremden in die Interessenabwägung miteinzubeziehen.

9 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Amtsrevision unter Kostenzuspruch.

 

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.

12 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes

ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. für viele VwGH 18.3.2019, Ra 2019/01/0068, mwN).

13 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit den von der Amtsrevision angesprochenen Rechtsfragen bereits in seinem Erkenntnis vom 28. Februar 2019, Ro 2019/01/0003, umfassend auseinandergesetzt und in dieser Entscheidung zusammengefasst ausgeführt, dass die Berücksichtigung einer Lehre beziehungsweise eine Berufsausübung als öffentliches Interesse zugunsten des Fremden unzulässig ist und es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Auf die nähere Begründung dieser Entscheidung wird gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen.

15 Auch zeigt die Amtsrevision im Zusammenhang mit dem etwa erst dreijährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass gegenständlich jedenfalls noch nicht von einer solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. dazu etwa VwGH jeweils vom 10.4.2019, Ra 2019/18/0049 und Ra 2019/18/0058, sowie VwGH 19.6.2019, Ra 2019/01/0051).

16 Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen, dass es im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK nicht auf das Bestehen einer Kernfamilie im Heimatland ankommt, sondern lediglich auf "Bindungen zum Heimatstaat des Fremden" (vgl. nochmals etwa VwGH 19.6.2019, Ra 2019/01/0051, mwN).

17 Indem das BVwG daher insgesamt fallbezogen das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber den festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet hat (wobei auch die Berücksichtigung des wirtschaftlichen Wohls des Landes als öffentliches Interesse zugunsten des Fremden nicht in Betracht kommt, vgl. hierzu nochmals VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, sowie 19.6.2019, Ra 2019/01/0051) und nicht ausreichend berücksichtigte, dass der Mitbeteiligte sämtliche Integrationsschritte im Bewusstsein seines unsicheren Aufenthaltsstatus setzte, sowie weiters auf das Fehlen einer Kernfamilie im Herkunftsstaat abstellte, hat das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und damit seinen Anwendungsspielraum überschritten.

18 Das Erkenntnis war deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 2. September 2019

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