VwGH Ra 2019/01/0057

VwGHRa 2019/01/005720.5.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des H M in W, vertreten durch Dr. Farah Abu‑Jurji, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Währinger Straße 5‑7/15, gegen das am 8. November 2018 mündlich verkündete und am 2. Jänner 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, Zl. VGW‑152/065/5935/2018‑12, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Wiener Landesregierung), zu Recht erkannt:

Normen

StbG 1985 §27 Abs1
62017CJ0221 Tjebbes VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019010057.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Das Land Wien hat dem Revisionswerber die Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Dem Revisionswerber wurde mit Bescheid der Wiener Landesregierung vom 10. Oktober 1991 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen.

2 Mit Bescheid vom 6. März 2018 stellte die belangte Behörde gemäß §§ 39 und 42 Abs. 3 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) fest, dass der Revisionswerber die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG durch Wiedererwerb der ägyptischen Staatsangehörigkeit „spätestens am 2. Mai 2012“ verloren habe. Der Revisionswerber sei nicht österreichischer Staatsbürger.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Das Verwaltungsgericht nahm es zusammengefasst als erwiesen an, dass der Revisionswerber, der von Beruf Jurist sei, zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt zwischen seiner Entlassung aus dem ägyptischen Staatsverband am 3. Dezember 1991 und der Ausstellung eines ägyptischen Reisepasses am 2. Mai 2012 den Wiedererwerb der ägyptischen Staatsbürgerschaft beantragt und zuvor nicht um Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft angesucht habe. Zu einem ebenfalls nicht feststellbaren Zeitpunkt in diesem Zeitraum sei dem Revisionswerber die ägyptische Staatsbürgerschaft wieder verliehen worden; er sei im Besitz eines am 2. Mai 2012 ausgestellten ägyptischen Reisepasses und eines im Juli 2014 ausgestellten ägyptischen Personalausweises.

5 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht aus, der Revisionswerber habe mit dem Erwerb der ägyptischen Staatsangehörigkeit gemäß § 27 Abs. 1 StbG ex lege die österreichische Staatsbürgerschaft verloren. Da der Behörde bei der Beurteilung, ob ein Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG eingetreten sei, kein Ermessen zukomme, bleibe kein Raum für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung.

6 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die in ihrer Zulässigkeitsbegründung im Wesentlichen geltend macht, es sei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) auch im Falle eines ex lege Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft die Verhältnismäßigkeit des Verlustes der Unionsbürgerschaft zu prüfen.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

9 Gemäß § 27 Abs. 1 StbG verliert die Staatsbürgerschaft, wer auf Grund seines Antrages, seiner Erklärung oder seiner ausdrücklichen Zustimmung eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, sofern ihm nicht vorher die Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft bewilligt worden ist.

10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Bestimmung des § 27 Abs. 1 StbG voraus, dass der Staatsbürger eine auf den Erwerb der fremden Staatsbürgerschaft gerichtete „positive Willenserklärung“ abgibt und die fremde Staatsbürgerschaft infolge dieser Willenserklärung tatsächlich erlangt. Da das Gesetz verschiedene Arten von Willenserklärungen („Antrag“, „Erklärung“, „ausdrückliche Zustimmung“) anführt, bewirkt jede Willenserklärung, die auf Erwerb einer fremden Staatsbürgerschaft gerichtet ist, im Falle deren Erwerbs den Verlust der (österreichischen) Staatsbürgerschaft. Auf eine förmliche Verleihung der fremden Staatsangehörigkeit kommt es nicht an (vgl. etwa VwGH 30.9.2019, Ra 2018/01/0477, mwN).

11 Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hätte (vgl. etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, mwN). Dass dem Verwaltungsgericht ein derartiger krasser Fehler der Beweiswürdigung unterlaufen wäre, wird nicht aufgezeigt:

12 Die Revision rügt eine unrichtige Beweiswürdigung betreffend die Feststellung des Verwaltungsgerichtes, der Revisionswerber habe den Wiedererwerb der ägyptischen Staatsangehörigkeit beantragt. Das Verwaltungsgericht kam jedoch nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Auseinandersetzung mit den vorgelegten Dokumenten und der ägyptischen Rechtslage in nicht unvertretbarer Weise zu dieser Feststellung.

13 Soweit sich die Revision gegen die unterlassene Vornahme einer Verhältnismäßigkeitsprüfung wendet, kommt ihr hingegen Berechtigung zu:

14 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ausgehend vom festgestellten Vorliegen der Voraussetzungen für den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG und einem damit verbundenen gleichzeitigen Verlust des Unionsbürgerstatus nach der Rechtsprechung des EuGH vom 12. März 2019 in der Rechtssache C‑221/17, Tjebbes u.a., von der zuständigen nationalen Behörde und gegebenenfalls dem nationalen Gericht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. dazu VwGH 17.12.2019, Ro 2019/01/0012 und 0013; 28.1.2020, Ra 2019/01/0466, jeweils mwN).

15 Zu den Kriterien einer solchen unionsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung kann gemäß § 43 Abs. 2 iVm Abs. 9 VwGG auf die Begründung des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofes vom 18. Februar 2020, Ra 2020/01/0022, Rn. 21 ‑ 26, verwiesen werden. Demnach hält der Verwaltungsgerichtshof neben der vom Verfassungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 17. Juni 2019, E 1302/2019, vertretenen verfassungsrechtlichen Sicht (weiterhin) eine derartige Verhältnismäßigkeitsprüfung nach den Kriterien des EuGH in der Rechtssache Tjebbes u.a., für unionsrechtlich geboten. Eine solche unionsrechtlich gebotene Prüfung erfordert eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles durchgeführte Gesamtbetrachtung. Bei einer solchen Gesamtbetrachtung wird jedoch regelmäßig der vom Verfassungsgerichtshof aus verfassungsrechtlicher Sicht angeführte Umstand, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft (nach § 28 Abs. 1 StbG) nicht wahrgenommen hat, von maßgeblicher Bedeutung sein. Dieser Umstand entbindet das Verwaltungsgericht aber nicht von der unionsrechtlich gebotenen Gesamtbetrachtung, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist (vgl. VwGH 27.2.2020, Ra 2020/01/0050, mwN).

16 Da das Verwaltungsgericht entgegen dieser Rechtsprechung keine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

17 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

18 Soweit der Revisionswerber anregt, der Verwaltungsgerichtshof möge gemäß Art. 267 AEUV beim EuGH einen Antrag auf Vorabentscheidung stellen, genügt es, darauf hinzuweisen, dass der EuGH in der bereits zitierten Entscheidung Tjebbes u.a. die angesprochene Rechtsfrage beantwortet und die für die Verhältnismäßigkeitsprüfung relevanten Kriterien festgelegt hat.

19 Die Kostenentscheidung gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 20. Mai 2020

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte