VwGH Ra 2018/21/0112

VwGHRa 2018/21/011220.12.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30. April 2018, Zl. G312 2128809-2/25E, betreffend ersatzlose Behebung eines Aufenthaltsverbotes (mitbeteiligte Partei: Ing. M V in O, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §53 Abs6;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §67 Abs1;
FrPolG 2005 §67 Abs2;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018210112.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit Bescheid vom 16. August 2016 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Mitbeteiligten, einen sich nach den dazu bislang getroffenen Feststellungen (mit Unterbrechungen) seit Mai 2004 in Österreich befindenden, spätestens seit September 2006 durchgehend im Bundesgebiet aufhältigen polnischen Staatsangehörigen, dem im Oktober 2008 eine Anmeldebescheinigung für EWR-Bürger ausgestellt worden war, gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot. Es erteilte ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub und erkannte einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab.

2 Begründend berief sich das BFA darauf, dass der Mitbeteiligte zwischen 22. April 2005 und 29. Mai 2015 wiederholt, vor allem wegen (zum Teil schwerer) Körperverletzung (jeweils Versetzen mehrerer Faustschläge in das Gesicht sowie mehrerer Fußtritte gegen Kopf und Oberkörper anderer Personen, wodurch diese näher beschriebene schwere Verletzungen erlitten, einmal zudem Stoßen einer Person über eine Stufe mit gravierenden Verletzungsfolgen) und Gefährdung der körperlichen Sicherheit (unter Alkoholeinfluss verschuldeter Verkehrsunfall vom 3. Jänner 2005), zu Geldstrafen sowie zu bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafen verurteilt worden sei.

Mit rechtskräftigem Urteil vom 26. August 2015 habe das Landesgericht Wels über ihn wegen des Verbrechens der schweren Nötigung, des Vergehens der Nötigung und des Vergehens der Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von 20 Monaten (davon 14 Monate bedingt nachgesehen) verhängt; gemäß § 21 Abs. 2 StGB sei seine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angeordnet worden.

Dem sei zu Grunde gelegen, dass er seine Ehefrau am 8. Mai 2015 durch die Äußerung, er werde sie umbringen, sollte sie sich scheiden lassen, zur Aufrechterhaltung der Ehe sowie durch Versetzen eines Stoßes und mehrerer Fußtritte gegen die Hüfte, also mit Gewalt, zur Duldung der Mitnahme zweier gemeinsamer Kinder aus der Wohnung genötigt habe. Dabei habe er ihr durch Schläge mit einem Schuh, wodurch sie zu Boden gestürzt sei, eine Prellung der linken Schulter, der linken Hüfte und des linken Oberkörpers, also vorsätzlich Verletzungen am Körper, zugefügt.

Im Einzelnen verwies das BFA auf das genannte Strafurteil. Darin wurde ausgeführt, der Mitbeteiligte sei zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig bzw. fähig gewesen, das Unrecht seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln; er habe die Taten aber unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades (dissoziale und beginnende organische Persönlichkeitsstörung, verbunden mit Polytoxikomanie), welche auch in einem Kausalzusammenhang mit seinen Taten stehe, begangen. Nach seiner Person, seinem Zustand und der Art seiner Taten liege eine hochgradige potenzielle Gefährlichkeit vor; es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass er - ohne Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher und entsprechende Therapie - künftig unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad den zuletzt dargestellten Sachverhalten vergleichbare Taten gegen Leib und Leben Dritter mit schweren Folgen oder u.a. Todesdrohungen, demnach Taten, die eine Unterbringung nach § 21 Abs. 2 StGB schon für sich rechtfertigen, begehen werde.

3 Mit dem angefochtenen - nach mündlicher Verhandlung vom 29. März 2017 und 4. April 2018 erlassenen - Erkenntnis vom 30. April 2018 gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) einer gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde statt und behob den genannten Bescheid ersatzlos.

4 Begründend führte das BVwG unter anderem aus, der verheiratete Mitbeteiligte befinde sich nach Verbüßung der letztgenannten Freiheitsstrafe im gelockerten Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs. 2 StGB. Er bereue das frühere Fehlverhalten, habe sowohl seine Alkoholabhängigkeit überwunden als auch frühere Nebenbeschäftigungen als "Security", die Anlass für mehrere Verurteilungen wegen Körperverletzungsdelikten gewesen seien, aufgegeben. Mittlerweile beziehe er eine unbefristete Berufsunfähigkeitspension.

Mit seiner österreichischen Frau habe er sich versöhnt, er nehme mit ihr an einer Paartherapie teil und erhalte regelmäßig Besuch von ihr sowie seiner Familie. Der Mitbeteiligte, dessen Mutter und Schwester in Österreich lebten, sei für sechs Kinder sorgepflichtig. Er kümmere sich fürsorglich, während Ausgängen im Rahmen der Vollzugslockerung, um die drei gemeinsamen und die drei weiteren im Familienverband lebenden Kinder seiner nunmehrigen Frau (aus deren früherer Beziehung), jeweils österreichische Staatsbürger.

Forensisch psychologische Gutachten bescheinigten ihm eine "mäßig günstige" bzw. "mäßige Gefährlichkeitsprognose". Eine Rückfälligkeit mit Schäden an der Gesundheit von Personen sei aber auszuschließen, sofern sich der Mitbeteiligte weiterhin seiner medizinischen Behandlung unterziehe. Bei Bereitschaft zu weiterführenden Therapien könne eine tendenziell günstige Prognose erstellt werden, die "Wahrscheinlichkeit weiterer Delikte in absehbarer Zeit" sei also "nicht sehr wahrscheinlich".

5 Rechtlich verneinte das BVwG das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Anwendung des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG. Hingegen bejahte es ein Daueraufenthaltsrecht (§ 53a Abs. 1 NAG) des Mitbeteiligten, sodass nach § 66 Abs. 1 letzter Satz FPG zu prüfen sei, ob sein Verhalten aus derzeitiger Sicht "geeignet" erscheine, eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darzustellen. Mit Blick auf das geänderte Umfeld, sein geändertes Verhalten sowie die Bereitschaft, an Therapien und medizinischer Behandlung teilzunehmen, seine Reue und Einsicht des begangenen Fehlverhaltens sowie auf die geänderten Verhaltensweisen in schwierigen Lebenslagen sei anzunehmen, dass er sich in Zukunft rechtskonform verhalten werde. Es sei daher von einer (maßgeblichen) Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit nicht mehr auszugehen. Eine Rückfälligkeit in strafrechtlich relevantes Verhalten sei mit großer Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Unter diesen Umständen sei die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes "im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 9 BFA-VG als nicht zulässig zu werten."

6 Dagegen richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage, Durchführung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch den Mitbeteiligten erwogen hat:

7 Entgegen dem - den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden (§ 34 Abs. 1a VwGG) - Ausspruch des BVwG ist die gegenständliche Revision, wie sich aus dem Folgenden ergibt, zulässig. Sie ist auch berechtigt.

8 Das BVwG hat seine Entscheidung trotz eines Hinweises auf § 9 BFA-VG im Ergebnis nur damit begründet, dass vom Mitbeteiligten keine maßgebliche Gefährdung mehr ausgehe. Dabei legte es zugrunde, dass der Mitbeteiligte ein Daueraufenthaltsrecht erworben habe und daher der Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG heranzuziehen sei. Dieser Ansicht tritt die Amtsrevision mit Verweis auf die ab 2005 begangenen Straftaten des Mitbeteiligten entgegen. Darauf muss allerdings nicht näher eingegangen werden, weil sich auch am Boden des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG, wie vom BFA ergänzend geltend gemacht, die Annahme einer günstigen Gefährdungsprognose im Hinblick auf die wiederholte Straffälligkeit des Mitbeteiligten und den im Zeitpunkt der Entscheidung durch das BVwG noch andauernden - wenn auch gelockerten - Maßnahmenvollzug als unvertretbar erweist. Der Vollständigkeit halber ist allerdings anzumerken, dass das Vorliegen eines Daueraufenthaltsrechtes des Mitbeteiligten in einer Konstellation, wie sie hier vorliegt, auch zur Anwendung des verschärften Maßstabs nach § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG führen könnte, wenn sich der Mitbeteiligte (wie von ihm auch in der Revisionsbeantwortung geltend gemacht wird - und wovon bereits das BFA in seinem Bescheid vom 16. August 2016 ausgegangen war) bereits seit 2004 - und nicht erst seit September 2006, wie vom BVwG unter Bezugnahme auf Meldedaten (siehe dazu, dass diesen bloßer Indizcharakter zukommt, VwGH 30.8.2018, Ra 2018/21/0049, Rn. 20, mwN) unterstellt - durchgehend in Österreich aufhalten sollte (siehe EuGH 17.4.2018, C-316/16 und C-424/16 , insb. Rn. 65- 75, mwN).

9 Zunächst ist klarzustellen, dass eine maßgebliche Gefährdung auch bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung (vgl. § 53 Abs. 6 FPG) bejaht werden kann, wenn nicht etwa eine Behandlung und Medikation Gewähr dafür bieten, dass eine auf sie zurückzuführende Gefährdung künftig auszuschließen sein wird (vgl. dazu etwa VwGH 3.7.2018, Ra 2018/21/0081, Rn. 7 bis 9, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof judiziert überdies in ständiger Rechtsprechung, dass der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen ist, ob und wie lange er sich (hier:

nach dem beim Mitbeteiligten im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung durch das BVwG noch andauernden, wenn auch durch Freigänge gelockerten Maßnahmenvollzug) in Freiheit wohlverhalten hat, was auch im Fall einer (erfolgreich) absolvierten Therapie gilt (vgl. dazu beispielsweise VwGH 15.9.2016, Ra 2016/21/0262, Rn. 7; VwGH 25.1.2018, Ra 2018/21/0004, Rn. 8; VwGH 26.4.2018, Ra 2018/21/0044, Rn. 7, und VwGH 3.7.2018, Ra 2018/21/0050, Rn. 10, jeweils mwN).

10 Der Mitbeteiligte hatte im vorliegenden Fall, nach einem am 3. Jänner 2005 unter Alkoholeinfluss verschuldeten Verkehrsunfall, neben weiteren Straftaten insbesondere wiederholt von massiver Aggression gekennzeichnete Gewaltdelikte begangen, die auch nur zum Teil mit seiner früheren Nebenbeschäftigung als "Security" im Zusammenhang gestanden waren. Überdies war noch mit Beschluss des Landesgerichtes Steyr vom 28. November 2017 festgestellt worden, dass die weitere Unterbringung des Mitbeteiligten in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher iSd § 21 Abs. 2 StGB notwendig sei.

Die Annahme des BVwG, aus fremdenrechtlicher Sicht könne von einem Wegfall der Gefährlichkeit bereits im Zeitpunkt der nunmehr angefochtenen Entscheidung, also während noch offenen Maßnahmenvollzuges und somit Fehlens eines Wohlverhaltens in Freiheit sowie trotz einer (soweit dies den in Rn. 4 wiedergegebenen unklaren Feststellungen überhaupt zweifelsfrei entnommen werden kann) nur mäßig günstigen Gefährlichkeitsprognose ausgegangen werden, erweist sich demnach auch unter Heranziehung des Gefährdungsmaßstabes des § 66 Abs. 1 letzter Halbsatz FPG als unvertretbar.

11 Nach dem Gesagten hat das BVwG das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, sodass es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Wien, am 20. Dezember 2018

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