VwGH Ra 2018/19/0217

VwGHRa 2018/19/021721.5.2019



Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Lachmayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. März 2018, I420 21614871-1/7E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: A E in B), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018190217.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A) II., A) III. und A) IV. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am 28. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag mit Bescheid vom 24. Mai 2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise des Mitbeteiligten wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).

3 Mit Schriftsatz vom 25. Juli 2017 erhob der Mitbeteiligte eine gegen sämtliche Spruchpunkte dieses Bescheides gerichtete Beschwerde.

4 Das Bundesverwaltungsgericht führte daraufhin am 7. März 2018 eine mündliche Verhandlung durch, in der der Mitbeteiligte - soweit gegenständlich entscheidungsrelevant - vorbrachte, er habe bis zu seinem zwölften Lebensjahr in Afghanistan und anschließend fünfzehn Jahre im Iran gelebt. Er sei in der Provinz Ghazni geboren und danach nach Kabul gegangen. Er sei damals sehr klein gewesen. In Kabul sei er bis zu seinem zwölften Lebensjahr geblieben. Seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester, zu denen der Mitbeteiligte Kontakt habe, lebten im Iran und hätten dort keine finanziellen Probleme. Sein Bruder arbeite als Maurer, seine Schwester arbeite nicht. In Afghanistan, wo er zwei Jahre lang die Koranschule besucht habe, hielten sich jedoch keine Verwandten mehr auf. Im Iran habe er bei einem Schuhmacher und einem Maurer gearbeitet.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung zog der Mitbeteiligte nach Beratung mit seiner Vertreterin die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides zurück. 5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 14. März 2018 stellte das Bundesverwaltungsgericht das Beschwerdeverfahren gegen Spruchpunkt I. des Bescheides ein (Spruchpunkt A) I.). Es erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A) II.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A) III.) und behob die Spruchpunkte III. und IV. des Bescheides ersatzlos (Spruchpunkt A) IV.). Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt B)).

Begründend hielt das Bundesverwaltungsgericht fest, der Mitbeteiligte habe bis zu seinem zwölften Lebensjahr "in der Provinz Ghazni bzw. in Kabul" gelebt und danach mit seiner Familie Afghanistan "in Richtung" Iran verlassen, wo er sich bis zu seiner Ausreise nach Österreich aufgehalten habe. Er habe zwei Jahre eine Koranschule besucht und verfüge über keine Berufsausbildung. Im Iran habe er bei einem Schuhmacher und einem Maurer gearbeitet. Er verfüge in Afghanistan über keine sozialen Kontakte oder familiären Anknüpfungspunkte. Sein Vater sei bereits verstorben, seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester lebten im Iran. Bei einer Ansiedlung in der Provinz Ghazni drohe ihm ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit. Außerhalb der Provinz Ghazni, insbesondere in der Stadt Kabul, liefe er Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, nicht befriedigen zu können und werde er insofern in eine ausweglose Lage geraten.

In seiner rechtlichen Beurteilung zu den Spruchpunkt A) II. und A) III. vertrat das Bundesverwaltungsgericht die Ansicht, die aktuelle Situation in Afghanistan sei (unverändert) weder sicher noch stabil. Die Herkunftsprovinz des Mitbeteiligten, "Ghazni", gehöre zu den relativ volatilen Provinzen Afghanistans und sei noch immer stark umkämpft. Es sei daher davon auszugehen, dass dem Mitbeteiligten bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohen würde. Es sei daher zu prüfen, ob dem Mitbeteiligten die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zumutbar sei. Er habe lediglich als Kind in Afghanistan gelebt und weise keine Kenntnisse betreffend die dortigen örtlichen Verhältnisse, insbesondere auch nicht über die örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten in afghanischen Großstädten wie Kabul, Mazare Sharif oder Herat auf. Ebenso wenig verfüge er über soziale oder familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan, insbesondere nicht in einer der Großstädte. Zudem könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Mitbeteiligte, der keine Berufsausbildung habe, zumindest in der Anfangsphase des Aufbaues einer neuen Existenz in der Lage sei, auf einen finanziellen Rückhalt zurückzugreifen, weil die ihm bekannten Angehörigen im Iran lebten. In Hinblick auf die glaubhaften Angaben zur finanziellen Situation seiner Familienangehörigen im Iran sei nicht von der Möglichkeit einer finanziellen Unterstützung des Mitbeteiligten durch seine Familie auszugehen. Aus den Länderberichten sei ersichtlich, dass sich die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmitteln insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären Rückhalt meist nur unzureichend darstelle. Dazu komme, dass der Mitbeteiligte einer ethnischen und religiösen Minderheit angehöre, sodass auch vereinzelt Übergriffe auf ihn als vermeintlich "Fremden" möglich seien.

Das Bundesverwaltungsgericht ging daher davon aus, der Mitbeteiligte würde im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan in eine für ihn ausweglose Situation geraten, weil ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und er darüber hinaus einem massiven Sicherheitsrisiko ausgesetzt wäre. Er würde - bezogen auf das gesamte Staatsgebiet - in eine ausweglose Lebenssituation geraten und real Gefahr laufen, eine Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 und 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden.

6 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhob gegen die Spruchpunkte A) II. bis IV. dieses Erkenntnisses Revision.

 

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Amtsrevision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit vorgebracht, das angefochtene Erkenntnis weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes ab. Das Bundesverwaltungsgericht sei zunächst von Ghazni als Herkunftsprovinz des Mitbeteiligten ausgegangen. Es habe jedoch nicht berücksichtigt, dass der Mitbeteiligte zwar dort geboren worden, jedoch in Kabul (nicht bloß vorübergehend) aufgewachsen sei. Es sei daher in Hinblick auf eine Rückkehr in seinen Herkunftsort Kabul nicht das Zumutbarkeitskalkül einer innerstaatlichen Fluchtalternative, sondern die reale Möglichkeit einer Art. 3 EMRK relevanten Verletzung zu prüfen gewesen. In dieser Hinsicht habe das Bundesverwaltungsgericht nicht dargelegt, dass die Gewalt dort ein die Schwelle des Art. 3 EMRK überschreitendes Ausmaß angenommen habe und der Mitbeteiligte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Opfer eines Gewaltaktes sein werde. Vielmehr habe sich das Bundesverwaltungsgericht in seiner rechtlichen Beurteilung mit der Sicherheitslage in Kabul überhaupt nicht auseinandergesetzt. Es sei zwar eine schwierige Lebenssituation für den Mitbeteiligten im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsort Kabul bei der Arbeits- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht aufgezeigt worden, jedoch nicht die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit eine Verletzung des Art. 3 EMRK. Zudem bringe die Prüfung der Rückkehr nach Kabul unter dem Blickwinkel des Zumutbarkeitskalküls einer innerstaatlichen Fluchtalternative kein anderes Ergebnis.

9 Die Revision ist zulässig und begründet.

10 Die Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht in Hinblick auf

eine Rückkehr des Mitbeteiligten nach Kabul nicht das Zumutbarkeitskalkül einer innerstaatlichen Fluchtalternative, sondern die (bei einer Rückkehr in den Herkunftsort maßgebliche) reale Möglichkeit einer Art. 3 EMRK relevanten Verletzung hätte prüfen müssen, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben. Das angefochtene Erkenntnis erweist sich nämlich - wie die folgenden Ausführungen zeigen - unabhängig von der Beantwortung dieser Frage als rechtswidrig:

11 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden hg. Judikatur ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. etwa VwGH 12.6.2018, Ra 2018/20/0284; 5.4.2018, Ra 2018/19/0078; 21.3.2018, Ra 2018/18/0075; 25.5.2016, Ra 2016/19/0036).

12 Die Prüfung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 stellt eine rechtliche Beurteilung dar, die auf Basis der getroffenen Feststellungen zu erfolgen hat (vgl. VwGH 10.8.2017, Ra 2016/20/0389).

13 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in seiner rechtlichen Beurteilung zu den Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht mit den Feststellungen zu Kabul auseinandergesetzt. Den - zum Entscheidungszeitpunkt im März 2018 getroffenen - Feststellungen ist zwar zu entnehmen, dass die dortige Lage sowohl hinsichtlich der Sicherheitslage als auch der wirtschaftlichen Situation angespannt sei. Das Prüfungskalkül des Art. 3 EMRK für die Annahme einer solchen Menschenrechtsverletzung erfordert aber das Vorhandensein einer die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz bedrohenden Lebenssituation unter exzeptionellen Umständen. Derartige Umstände liegen nach den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses in Bezug auf Kabul jedoch nicht vor. 14 Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinen Feststellungen zwar die Möglichkeit einer schwierigen Lebenssituation für den Mitbeteiligten im Fall seiner Rückführung nach Kabul aufgezeigt, dies in Bezug auf die Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht. Die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit eine Verletzung des Art. 3 EMRK im Sinn der obigen Rechtsgrundsätze wird damit aber nicht dargetan (vgl. VwGH 5.12.2017, Ra 2017/01/0236, mwN).

15 Aber auch die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, dem Mitbeteiligten sei die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul nicht zumutbar, ist eine rechtliche Beurteilung, die in den Feststellungen keine Deckung findet. 16 So reicht nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine schwierige Lebenssituation (bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht), die ein Asylwerber bei Rückführung in das als innerstaatliche Fluchtalternative geprüfte Gebiet vorfinden würde, für sich betrachtet nicht aus, um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen. Mit Bezug auf die Verhältnisse in Afghanistan wurde ausgeführt, es könne zutreffen, dass ein alleinstehender Rückkehrer ohne familiären Rückhalt und ohne finanzielle Unterstützung in der afghanischen Hauptstadt Kabul (anfangs) mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sei. Soweit es sich aber um einen jungen und gesunden Mann, der über Schulbildung und Berufserfahrung verfüge, handle, sei - auf der Grundlage der allgemeinen Länderfeststellungen zur Lage im Herkunftsstaat - nicht zu erkennen, dass eine Neuansiedlung in Kabul nicht zugemutet werden könne. Dies stehe auch im Einklang mit der Einschätzung der - im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts maßgeblichen - UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, denen zufolge es alleinstehenden, leistungsfähigen Männern im berufsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilität möglich sei, auch ohne Unterstützung durch die Familie in urbaner Umgebung zu leben (vgl. zB VwGH 10.9.2018, Ra 2018/19/0312, mwN).

17 Das Bundesverwaltungsgericht ist somit von der hg. Rechtsprechung abgewichen, weshalb die Entscheidung - im Umfang der Anfechtung - wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Wien, am 21. Mai 2019

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