VwGH Ra 2017/22/0111

VwGHRa 2017/22/01119.8.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision der M B in W, vertreten durch Mag. Okan Ersoy, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Karlsplatz 3/2, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 24. April 2017, VGW-151/019/2168/2017- 6, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Normen

61993CJ0434 Ahmet Bozkurt VORAB;
62014CJ0561 Genc VORAB;
ARB1/80 Art13;
ARB1/80 Art6;
EURallg;
NAG 2005 §21a Abs1;
NAG 2005 §44 Abs2;
NAG 2005 §8 Abs1 Z5;
VwRallg;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017220111.L00

 

Spruch:

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Die Revisionswerberin, eine türkische Staatsangehörige, ist seit September 1989 in Österreich als Mitglied des Verwaltungs- und technischen Personals der Ständigen Vertretung der Republik Türkei bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beschäftigt. Zuletzt besaß sie eine bis 20. Dezember 2015 gültige blaue Legitimationskarte.

2 Mit Antrag vom 15. Dezember 2015 begehrte die Revisionswerberin die Erteilung des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU". Am 18. August 2016 modifizierte sie ihren Antrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit" quotenfrei und gab an, sie arbeite seit 28 Jahren in Wien und werde demnächst in Pension gehen. Am 23. August 2016 langte beim Landeshauptmann von Wien (Behörde) ein Schreiben der Ständigen Vertretung der Republik Türkei vom 19. August 2016 ein, worin bestätigt wird, dass die Revisionswerberin schriftlich ihre Absicht bekanntgegeben habe, Anfang April 2017 in Pension zu gehen, was seitens der Vertretung akzeptiert werde.

3 Mit Schreiben vom 16. November 2016 forderte die Behörde die Revisionswerberin auf, einen Sprachnachweis auf Niveau A1 vorzulegen, und belehrte sie gemäß § 21a Abs. 5 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Daraufhin legte die Revisionswerberin ein "Zertifikat" eines vom Österreichischen Integrationfonds (ÖIF) zertifizierten Deutsch-Alphabetisierungslehrers vor, wonach sie den Deutschkurs A1 regelmäßig besucht und Privatunterricht bekommen habe; der Kurs habe von 12. September 2016 bis 12. November 2016 gedauert und es seien insgesamt 60 Einheiten zu je 50 Minuten durchgeführt worden. Dass die Revisionswerberin einen Antrag gemäß § 21a Abs. 5 NAG gestellt hätte, wird weder vorgebracht, noch ergibt sich dies aus den Verwaltungsakten.

4 Die Behörde wies mit Bescheid vom 12. Dezember 2016 den Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels "Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit" wegen nicht nachgewiesener Sprachkenntnisse ab.

5 Das Verwaltungsgericht Wien (VwG) gab der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde der Revisionswerberin - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - keine Folge und erklärte eine ordentliche Revision für unzulässig.

Begründend führte es im Wesentlichen aus, eine Verletzung der "Stillhalteklausel" (des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980, im Folgenden kurz: ARB 1/80) liege nicht vor, weil das Erfordernis von Sprachkenntnissen den Zugang zur Beschäftigung nicht einschränke. Dies sei im vorliegenden Fall jedoch von untergeordneter Bedeutung, weil die Revisionswerberin angekündigt habe, in Pension gehen zu wollen. Das von der Revisionswerberin vorgelegte "Zertifikat" vom 12. November 2016 bestätige zwar den regelmäßigen Besuch eines Deutschkurses und den Erhalt von Privatunterricht, weise jedoch nicht den Erwerb adäquater Sprachkenntnisse nach.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Die Revisionswerberin führt zur Zulässigkeit aus, das angefochtene Erkenntnis widerspreche der hg. Rechtsprechung zur Stillhalteklausel gemäß Art. 13 ARB 1/80, wonach für türkische Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung ordnungsgemäß seien, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt eingeführt werden dürften (Hinweis ua. auf VwGH (24.6.2010,) 2007/21/0531). Das Erfordernis des Nachweises von Deutschkenntnissen stelle eine Beschränkung und damit eine unzulässige Schlechterstellung im Sinn des ARB 1/80 dar. Darüber hinaus komme der Revisionswerberin ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich ARB 1/80 aufgrund einer die Dauer von vier Jahren überschreitenden ordnungsgemäßen Beschäftigung in Österreich zu (Hinweis auf EuGH Sevince, C- 192/89). Auch sei das Verwaltungsgericht nicht auf ihr Vorbringen, wonach ihr der Aufenthalt aufgrund des Sonderfalles der unselbständigen Erwerbstätigkeit (§ 62 NAG) zu bewilligen sei, eingegangen.

8 Die Revision ist aufgrund der Ausführungen zum ARB 1/80 zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

9 Art. 6 und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) lauten (auszugsweise):

"Artikel 6

(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Art. 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat

(2) Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.

(3) ...

Artikel 13

Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen."

§ 8 Abs. 1 Z 5, § 21a und § 44 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), lauten auszugsweise:

"Arten und Form der Aufenthaltstitel

§ 8 (1) Aufenthaltstitel werden erteilt als

...

5. ‚Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit', die zur befristeten Niederlassung ohne Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt;

...

Nachweis von Deutschkenntnissen

§ 21a. (1) Drittstaatsangehörige haben mit der Stellung eines Erstantrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 2, 4, 5, 6 oder 8 Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen. Dieser Nachweis hat mittels eines allgemein anerkannten Sprachdiploms oder Kurszeugnisses einer durch Verordnung gemäß Abs. 6 oder 7 bestimmten Einrichtung zu erfolgen, in welchem diese schriftlich bestätigt, dass der Drittstaatsangehörige über Kenntnisse der deutschen Sprache zumindest zur elementaren Sprachverwendung auf einfachstem Niveau verfügt. Das Sprachdiplom oder das Kurszeugnis darf zum Zeitpunkt der Vorlage nicht älter als ein Jahr sein.

(2) ...

‚Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit'

§ 44. (1) ...

(2) Drittstaatsangehörigen, die Träger von Privilegien und Immunitäten waren (§ 95 FPG), kann eine ‚Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit' erteilt werden, wenn sie

  1. 1. die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und
  2. 2. in den Ruhestand versetzt worden sind."

    10 Das VwG traf im Zusammenhang mit Art. 6 ARB 1/80 keine Feststellungen, ob die Revisionswerberin als Mitglied des Verwaltungs- und technischen Personals der Ständigen Vertretung der Republik Türkei bei der OSZE als dem regulären Arbeitsmarkt zugehörig anzusehen ist. Dies kann fallbezogen jedoch dahingestellt bleiben, weil Art. 6 ARB 1/80 türkischen Staatsangehörigen - selbst wenn diese dem regulären Arbeitsmarkt angehörten - nicht das Recht verleiht, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zu verbleiben, wenn sie den Arbeitsmarkt endgültig verlassen haben. Der EuGH führte in seinem Urteil im Fall Bozkurt aus, dass die mit Art. 6 ARB 1/80 verbundene Rechtsposition nur jenen türkischen Arbeitnehmern zukomme, die erwerbstätig oder nur vorübergehend arbeitsunfähig seien. Art. 6 ARB 1/80 beziehe sich dagegen nicht auf türkische Staatsangehörige, die den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates endgültig verlassen hätten, weil sie zB das Pensionsalter erreicht hätten. Mangels einer speziellen Bestimmung, die türkischen Arbeitnehmern das Recht verleihe, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zu verbleiben, nachdem sie dort eine Beschäftigung ausgeübt hätten, entfalle daher das Aufenthaltsrecht des türkischen Staatsangehörigen, wie es in Art. 6 ARB 1/80 stillschweigend, aber zwangsläufig als Folge der Ausübung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung garantiert werde, wenn der Betroffene seine Beschäftigung auf Dauer nicht mehr ausübe (vgl. EuGH 6.6.1995, Bozkurt, C-434/93, Rn 39 f, sowie VwGH 27.10.1999, 97/09/0361).

Im vorliegenden Fall beantragte die Revisionswerberin eine "Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit"; ein solcher Aufenthaltstitel berechtigt nicht zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 8 Abs. 1 Z 5 NAG). Daher kann sich die Revisionswerberin schon aus diesem Grund nicht auf Art. 6 ARB 1/80 berufen. Ein Aufenthaltsrecht für türkische Arbeitnehmer, die dem Arbeitsmarkt auf Dauer nicht mehr angehören, lässt sich aus Art. 6 ARB 1/80 - entgegen den Ausführungen in der Revision - somit nicht ableiten.

11 Die Revisionswerberin vertritt weiter die Auffassung, vorliegend komme die in Art. 13 ARB 1/80 enthaltene Stillhalteklausel zur Anwendung.

Der Revision ist zwar insofern zuzustimmen, als die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 grundsätzlich der Anwendung von neuen Beschränkungen wie etwa eines neu eingeführten Erfordernisses des Nachweises von Deutschkenntnissen entgegensteht (vgl. etwa VwGH 18.4.2018, Ra 2018/22/0004, mwN). Der EuGH hielt dazu jedoch fest, dass eine nationale Regelung nur insoweit in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 fällt, als sie geeignet ist, die Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates durch türkische Arbeitnehmer zu beeinträchtigen (vgl. EuGH 12.4.2016, Genc, C-561/14; VwGH 31.5.2017, Ra 2016/22/0089). Er betonte weiter, Art. 13 ARB 1/80 sei nicht anzuwenden, wenn türkische Staatsangehörige nicht die Absicht hätten, sich in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates zu integrieren (EuGH 21.10.2003, Abatay und Sahin, C-317/01 und C-369/01; VwGH 18.4.2018, Ra 2018/22/0004).

Wie bereits ausgeführt, wäre eine Beschäftigung der Revisionswerberin am regulären Arbeitsmarkt in Österreich mit dem beantragten Aufenthaltstitel "Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit" nicht zulässig. Im Übrigen steht das Vorbringen, dass die Revisionswerberin "derzeit nicht beabsichtigt, den Ruhestand anzutreten", im Widerspruch zum Inhalt der Verfahrensakten (Antragsänderung vom 18. August 2016, Schreiben der Ständigen Vertretung der Republik Türkei vom 19. August 2016) und stellt somit eine unzulässige Neuerung dar.

Ausgehend davon ist für die Revisionswerberin auch aus der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 nichts zu gewinnen.

12 Angesichts dessen ging das VwG im Ergebnis zutreffend davon aus, dass der Antrag der Revisionswerberin nach geltendem Recht zu beurteilen und § 21a Abs. 1 NAG, wonach Drittstaatsangehörige Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen haben, somit ebenfalls relevant ist. Das VwG qualifizierte auch zu Recht das von der Revisionswerberin vorgelegte "Zertifikat" lediglich als Besuchsbestätigung, weil daraus nicht ersichtlich ist, dass die Revisionswerberin über Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt. Die Abweisung des Antrages der Revisionswerberin auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit" wegen nicht nachgewiesener Sprachkenntnisse war somit rechtens.

13 Das VwG war auch nicht gehalten, das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung des Aufenthaltstitels nach § 62 NAG zu prüfen, weil ein solcher Antrag von der Revisionswerberin gar nicht gestellt wurde.

14 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am 9. August 2018

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