VwGH Ra 2017/21/0194

VwGHRa 2017/21/019414.11.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Samonig, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30. August 2017, W197 2168379-1/4E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: R G, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH ARGE Rechtsberatung in 1170 Wien, Wattgasse 48), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §66 Abs4;
BFA-VG 2014 §22a Abs1;
BFA-VG 2014 §22a Abs1a;
BFA-VG 2014 §22a Abs3;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §76;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §27;
VwGVG 2014 §28 Abs6;
VwGVG 2014 §28;
VwRallg;

 

Spruch:

Das bekämpfte Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung (Spruchpunkte A I. und A II.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Die Mitbeteiligte, eine irakische Staatsangehörige, reiste am 8. August 2017 gemeinsam mit zwei Geschwistern nach Österreich ein und versuchte am 9. August 2017 nach Deutschland weiterzureisen, wo ihre Eltern und weitere Geschwister leben.

2 Der Mitbeteiligten und den mit ihr reisenden Geschwistern wurde jedoch die Einreise nach Deutschland verweigert und sie wurden nach Österreich zurückgewiesen. Hier verhängte dann das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) nach Einvernahme der Geschwister - u.a. - gegen die Mitbeteiligte mit Mandatsbescheid vom 10. August 2017 gemäß Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Anordnung zur Außerlandesbringung und der Sicherung der Abschiebung.

3 Das BFA ging insbesondere davon aus, dass die Mitbeteiligte schon am 1. August 2017 in Rumänien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, sich dem dortigen Verfahren jedoch entzogen und versucht habe, unentdeckt nach Deutschland weiterzureisen. Insbesondere habe sie sich auch nicht an die österreichischen Behörden gewendet und bei ihren Befragungen am

9. sowie am 10. August 2017 angegeben, sich gleich wieder nach Deutschland begeben zu wollen. Zudem seien keine Anzeichen einer Integration im Inland ersichtlich.

4 Die in der Folge auf Grund dieses Bescheides in Schubhaft angehaltene Mitbeteiligte stellte am 17. August 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 23. August 2017 erhob sie Schubhaftbeschwerde, über die das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 30. August 2017 unter Spruchpunkt A I. wie folgt entschied:

"Der Beschwerde wird stattgegeben, und die Anhaltung vom 10.08.2017, 14.00 Uhr bis zur Entlassung von (Mitbeteiligte) für rechtswidrig erklärt."

5 Außerdem verpflichtete das BVwG den Bund zum Kostenersatz an die Mitbeteiligte (Spruchpunkt A II.) und wies den Antrag der Mitbeteiligten, sie von der Eingabegebühr zu befreien, als unzulässig zurück (Spruchpunkt A III.). Schließlich sprach das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Begründend gab das BVwG zunächst den "Verfahrensgang" wieder. Dabei führte es u.a. an, dass die Mitbeteiligte entgegen dem vorliegenden Eurodac-Treffer die Asylantragstellung in Rumänien bestritten habe; außerdem habe sie angegeben, nicht nach Rumänien zurückkehren zu wollen.

7 Die dem "Verfahrensgang" nachfolgenden "Feststellungen" des BVwG erschöpfen sich in Folgendem (sprachliche Unzulänglichkeiten im Original):

"1.1. Die (Mitbeteiligte) ist illegal in Österreich eingereist, im Bundesgebiet weder familiär, beruflich noch sozial im Bundegebiet integriert, mittellos und nicht in der Lage ihren Unterhalt auf legale Art sicher zu stellen.

1.2. Die (Mitbeteiligte) ist in Österreich auf Grund ihres Asylantrags von der Grundversorgung nicht ausgeschlossen.

1.3. Im Hinblick auf die Fluchtgefahr nicht festgestellt werden können, in der Judikatur des VwGH so bezeichnete, besondere Gesichtspunkte die erkennen lassen, dass eine von den typischen Dublin-Fällen abweichende Konstellation vorliegt, aus der konkrete Anhaltspunkte auf eine drohende Verfahrensvereitelung des Fremden geschlossen werden könnten."

8 An diese Feststellungen schließen als "Beweiswürdigung" überschriebene Ausführungen an, wonach die Mitbeteiligte auf Unterkunft, Verpflegung und allenfalls medizinische Betreuung in einer Grundversorgungsstelle angewiesen sei; sie sei im Hinblick "auf das laufende Verfahren" von der Grundversorgung nicht ausgeschlossen. Auf Grund ihres bisherigen Verhaltens und drohender Obdachlosigkeit sei sohin nicht davon auszugehen, dass sie im Falle ihrer Freilassung aus der Schubhaft auf die für sie existenziellen notwendigen Leistungen aus der Grundversorgung verzichten und stattdessen untertauchen werde; vielmehr sei anzunehmen, dass sich die Mitbeteiligte an der zugewiesenen Unterkunft den Behörden im Verfahren "bereithalten" werde.

9 Dann heißt es wörtlich (Fehler im Original) weiter:

"Aus dem bisherigen Verhalten der (Mitbeteiligten) und im Hinblick ihres Anspruchs auf Grundversorgung hat die Behörde unter Zugrundelegung der Judikatur des VwGH keine entscheidungsrelevante Fluchtgefahr dartun können. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass die Höchstgerichte dem Schutz der Freiheit der Fremden im Schubhaftverfahren nachvollziehbar zentrale Bedeutung zubilligen. Demgegenüber räumt der VwGH allerdings dem öffentlichen Interesse auf einen wirksamen Vollzug des Fremdenrechts durch Außerlandesbringung rechtsgrundlos im Bundesgebiet aufhältiger Fremde im Rahmen der Schubhaft nur untergeordneten Stellenwert zu. Dies auch vor dem Hintergrund der alljährlichen illegalen Einreise 10.000er undokumentierter Flüchtlinge, denen nach aufwendigen Asylverfahren in Österreich kein Schutz und Aufenthaltsrecht zu gewähren war. Die rechtlichen Voraussetzungen, in solchen Fällen die Schubhaft zu verhängen, werden durch die Judikatur derart eingeengt, dass die Außerlandesbringung dadurch wesentlich behindert bzw. verunmöglicht wird. In diesem Sinne ist der VwGH in seinem Beschluss vom 15. September 2016, RA 2016/21/0256-3, den diesbezüglichen Ausführungen des BVwG auch nicht substantiell entgegengetreten. Der Verwaltungsgerichtshof ist mit seiner, die Schubhaft zur Bedeutungslosigkeit zu reduzierenden Judikatur auch nicht im Einklang mit der Europäischen Kommission, welche die EU-Staaten zu mehr Entschlossenheit bei Abschiebungen aufgefordert hat. Demnach sei es gemäß EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos ‚nicht akzeptabel, dass diejenigen, die kein Bleiberecht in der EU haben, irregulär oder heimlich in den Mitgliedsländern bleiben. (...) Rückführung und Rückübernahme sind von größter Bedeutung. (...) Es darf keinen Raum für einen Missbrauch des Systems geben.'

Die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge bringt damit das bestehende große öffentliche Interesse an einem effizienten Vollzug des Fremdenrechts in den Nationalstaaten Europas deutlich zum Ausdruck, das, ohne in die Rechte der Fremden einzugreifen, in der Judikatur der nationalen Höchstgerichte seine Abbildung finden muss.

https://www.welt.de/politik/ausland/article168122912/Bruesselfordert-von-Deutschland-entschlossenere-Abschiebungen.html "

10 Das Erkenntnis des BVwG enthält dann zu Spruchpunkt A I. - nach Wiedergabe von Rechtsvorschriften und diversen Rechtssätzen; Fehler wiederum im Original - noch folgende "Rechtliche Beurteilung":

"3.1.5. Die Behörde hat im Sinne der angewendeten gesetzlichen Bestimmungen zu Unrecht die Schubhaft wegen erheblicher Fluchtgefahr angeordnet, da im Hinblick auf den konkreten Sachverhalt und des bisherigen Verhaltens (der Mitbeteiligten) nicht davon ausgegangen werden kann, dass er sich derzeit dem Zugriff der Behörden entziehen werde.

3.1.6. Die Verhängung der Schubhaft ist auch nicht verhältnismäßig, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Sicherungszweck durch Anordnung eines gelinderen Mittels erreicht hätte werden können. Sollte sich (die Mitbeteiligte) allerdings in der Folge von der zugewiesenen Grundversorgungsstelle entfernen, wird die Verhängung der Schubhaft zulässig sein.

3.1.7. Auf Grund der gebotenen Entlassung (der Mitbeteiligten) war ein Abspruch über die weitere Anhaltung in Schubhaft obsolet, zumal die Voraussetzungen hiefür nicht vorlägen. Nicht einzugehen war auch auf die weiteren rechtlichen Ausführungen in der Beschwerde."

 

11 Über die gegen die Spruchpunkte A I. und A II. dieses Erkenntnisses erhobene Amtsrevision des Bundesministers für Inneres (BMI) hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

12 Die Revision ist, wie sich aus Nachstehendem ergibt, zulässig und berechtigt.

13 Dem BVwG ist im Sinne der Ausführungen des BMI zunächst anzulasten, dass es einen ausdrücklichen "Fortsetzungsausspruch" nach § 22a Abs. 3 BFA-VG unterlassen hat. Entgegen seiner Auffassung war dieser "Fortsetzungsausspruch" im Hinblick darauf, dass sich die Mitbeteiligte im Entscheidungszeitpunkt noch in Haft befand, auch auf Grund ihrer nach Ansicht des BVwG gebotenen Entlassung aus der Schubhaft nicht "obsolet", weil erst mit dem "Fortsetzungsausspruch" über die Rechtmäßigkeit einer weiteren Anhaltung in Schubhaft - woraus dann, wenn diese nicht für zulässig erklärt wird, erst die Verpflichtung des BFA zur Enthaftung des Fremden folgt - abgesprochen wird. Insoweit hat das BVwG daher genau betrachtet eine Entlassung vorweggenommen, ohne dass sich eine behördliche Verpflichtung zu einer solchen aus dem Spruch seines Erkenntnisses ergeben hätte. Lediglich die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses lässt die Deutung zu, es solle auch die weitere Anhaltung in Schubhaft nicht zulässig sein.

14 Davon abgesehen verbietet aber auch die unterschiedliche Struktur der Entscheidung über Schubhaftbescheid und bisherige Anhaltung auf dessen Basis einerseits sowie der Entscheidung über die Zulässigkeit der Fortsetzung der Haft andererseits (vgl. dazu nur das Erkenntnis VwGH 5.10.2017, Ro 2017/21/0007, Rn. 11) die vom BVwG vorgenommene ganzheitliche Beurteilung.

15 Die verfehlte Vorgangsweise des BVwG bildet sich im Weiteren darin ab, dass - soweit dem angefochtenen Erkenntnis überhaupt Ausführungen mit Begründungswert zu entnehmen sind (siehe dazu gleich unten) - unterschiedslos mit einem "im Hinblick auf das laufende (Asyl) Verfahren" offenstehenden Grundversorgungsanspruch argumentiert wird. Wie das für den Schubhaftbescheid vom 10. August 2017 und die darin anschließende Anhaltung bis zur Stellung des Antrags auf internationalen Schutz am 17. August 2017 relevant sein kann, entzieht sich einem sinnvollen Verständnis bzw. lässt sich nur so erklären, dass das BVwG in Verkennung der Rechtslage (siehe Rn. 14) den gebotenen Abspruch über die Beschwerde nach § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG mit dem "Fortsetzungsausspruch" nach § 22a Abs. 3 BFA-VG in unzulässiger Weise vermengt hat.

16 Der Verweis auf einen bestehenden Grundversorgungsanspruch, dem im Übrigen angesichts der jedenfalls vom BFA unterstellten Weiterreiseabsicht der Mitbeteiligten nach Deutschland fallbezogen nur eingeschränkt Bedeutung beigemessen werden kann, ist das einzige erkennbare Begründungselement der angefochtenen Entscheidung. Darüber hinaus begnügt sie sich im Wesentlichen, im Rahmen der "Beweiswürdigung", mit der oben unter Rn. 9 dargestellten Kritik an Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Schubhaft. Ein Begründungswert ist diesen Ausführungen schon deshalb nicht zu entnehmen, weil ihnen jeder Fallbezug fehlt. Wenn überhaupt, so lassen diese Ausführungen, wie in der Amtsrevision mit Recht angemerkt wird, lediglich erkennen, dass das BVwG im Ergebnis an der Richtigkeit seiner eigenen Entscheidung zweifelt.

17 Im Einzelnen braucht auf diese "Überlegungen" des BVwG aber nicht eingegangen werden; sie sind als reine Polemik zu qualifizieren, entbehren einer sachlichen Grundlage und sind in Bezug auf die angesprochenen (hier aber gar nicht vorliegenden) Fälle von ehemaligen Asylwerbern nach rechtskräftigem Abschluss ihres Verfahrens schlichtweg falsch. Festzuhalten ist jedoch, dass sie mangels Bezugnahme auf konkrete rechtliche Überlegungen des Verwaltungsgerichtshofes über das hinaus gehen, was in einer gerichtlichen Entscheidung in Auseinandersetzung mit der Judikatur eines Höchstgerichtes zulässig erscheint und insoweit die Autorität der Staatsfunktion Gerichtsbarkeit insgesamt in Frage stellen. An dieser Einschätzung ändert auch der - gleichfalls nicht näher explizierte - Verweis auf den, eine Amtsrevision in Schubhaftsachen zurückweisenden, hg. Beschluss vom 15.9.2016, Ra 2016/21/0256, nichts. Verschwiegen wird nämlich, dass in diesem Zurückweisungsbeschluss abschließend unter Rn. 14 ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, es sei "fallbezogen auch unerheblich, dass das BVwG im Einzelnen nicht tragfähige Überlegungen, unter undifferenzierter Bezugnahme auf nicht näher genannte ‚Judikatur der Höchstgerichte', anstellte." Damit wurde in hinreichender Deutlichkeit zu erkennen gegeben, dass die in dem dem genannten Beschluss zu Grunde liegenden Erkenntnis des BVwG angestellten Erwägungen verfehlt waren.

18 Der nach dem Gesagten jedenfalls unpassenden "Beweiswürdigung" des BVwG steht gegenüber, dass es die gebotene Auseinandersetzung mit dem konkreten Fall nahezu völlig unterlassen hat. Insbesondere ist es auf die unter Rn. 3 wiedergegebenen Überlegungen des BFA in seinem Schubhaftbescheid vom 10. August 2017, bei deren Zutreffen in Verbindung mit der geäußerten Absicht, nicht nach Rumänien zurückkehren zu wollen, am Maßstab der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (siehe etwa schon das Erkenntnis VwGH 25.03.2010, 2008/21/0617) jedenfalls von erheblicher Fluchtgefahr auszugehen wäre, und auf die dazu aufgestellten Behauptungen in der erhobenen Schubhaftbeschwerde - was allerdings die Durchführung der dort beantragten Beschwerdeverhandlung vorausgesetzt hätte - überhaupt nicht eingegangen. Das angefochtene Erkenntnis erweist sich somit auch deshalb als rechtswidrig. Es war aber im Umfang seiner Anfechtung schon im Hinblick auf die insoweit prävalierende Rechtswidrigkeit seines Inhaltes (siehe insbesondere Rn. 15) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 14. November 2017

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