VwGH Ra 2017/21/0085

VwGHRa 2017/21/008531.8.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Honeder, über die Revision des A S A, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 3. April 2017, W117 2151320-1/5E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

32013R0604 Dublin-III Art28 Abs2;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
BFA-VG 2014 §22a Abs3;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z6b;
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der 1998 geborene Revisionswerber ist somalischer Staatsangehöriger und stellte 2016 in Italien einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Am 17. März 2017 reiste der Revisionswerbers mit einem Linienbus von Italien nach Österreich ein. Bei der Mautstelle Schönberg wurde er polizeilich kontrolliert und konnte dabei nur eine italienische "Identitätskarte" vorlegen, die jedoch nicht zum Grenzübertritt berechtigt. Dem zunächst festgenommenen Revisionswerber wurde letztlich nach Kontaktnahme mit dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) eine "Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme" ausgehändigt, in der darauf hingewiesen wurde, dass Italien der "zuständige Dublin-Staat" sei und eine Anordnung zur Außerlandesbringung dorthin ergehen werde. Sodann wurde der Revisionswerber entlassen.

3 Noch am selben Tag wurde der Revisionswerber erneut aufgegriffen, und zwar am Bahnhof Wörgl. Das hiervon informierte BFA ersuchte die einschreitenden Beamten der Polizeiinspektion Wörgl, den Revisionswerber zu befragen. Gemäß der darüber aufgenommen Niederschrift gab der Revisionswerber, in Englisch vernommen, Folgendes an:

"Sind sie gesund?

Ja ich bin gesund.

Haben sie in Österreich Verwandte und Bekannte?

Nein.

Verfügen sie über Barmittel, wie wollen sie ihren Unterhalt finanzieren?

Ich habe EUR 20,-- Bargeld und möchte in Deutschland einer Arbeit nachgehen.

Verfügen sie in Österreich über eine Unterkunftsmöglichkeit? Nein.

Sie wissen, dass sie sich in Österreich nicht aufhalten dürfen und Italien der für sie zuständige Dublinstaat ist? Warum und wann haben sie Italien verlassen?

Ja. Ich möchte jedoch nur nach Deutschland weiterfahren. Nein, ich dachte, dass ich in ganz Europa herumfahren darf. Darum reiste ich heute von Italien nach Österreich in Richtung Deutschland.

Ich hatte die Möglichkeit, diese Niederschrift Seite für Seite durchzulesen, bzw. durchlesen zu lassen. Ich hatte die Möglichkeit, Korrekturen vornehmen zu lassen."

4 Seitens der Polizeiinspektion Wörgl wurde nach Übermittlung dieser Niederschrift an das BFA diesem über dessen Aufforderung dann noch folgende "Sachverhaltsdarstellung" übersendet:

"Am 17.03.2017, 12:30 Uhr, erstattete der ÖBB Wachdienst, telefonisch auf der BLS Kufstein die Anzeige, dass sie soeben am Bahnhof Wörgl, Bahnsteig 1, einen Flüchtling aufgegriffen hätten. Die Patrouille ... von der PI Wörgl fuhren zum Bahnhof und trafen dort kurze Zeit später ein. Aufgrund dessen, dass sich (der Revisionswerber) nicht ausweisen konnte, wurde er auf die PI Wörgl verbracht und nach dem Fremdengesetz vorläufig festgenommen. Bei der Personsdurchsuchung fanden die Beamten eine Bescheid des BFA vom 17.03.2017. Aufgrund dessen wurde Kontakt mit der Sachbearbeiterin aufgenommen. Diese ordnete an, dass er aufgefordert werden solle, sich nach Italien zu begeben, da er sich illegal in Österreich aufhalte. Dies wurde (dem Revisionswerber) mitgeteilt und er gab deutlich in englischer Sprache bekannt, dass er mit Sicherheit nicht mehr nach Italien zurückfahren werde, da er nach Deutschland will, da man dort Arbeit finde und für ihn gesorgt würde. Daraufhin wurde nochmals Kontakt mit dem BFA aufgenommen und über Auftrag eine Verwaltungsniederschrift aufgenommen. Diese wurde mittels Mail übersandt. Als mit (dem Revisionswerber) ein nochmaliges mündliches Gespräch während einer Zigarettenpause (wurde von ihm erbeten) geführt wurde, gab er dem Beamten nochmals an, dass er niemals nach Italien zurückkehren werde. Sein Ziel sei und ist Deutschland."

5 In der Folge wurde der Revisionswerber in das polizeiliche Anhaltezentrum Innsbruck überstellt und es wurde über ihn mit Mandatsbescheid - noch vom 17. März 2017 - gemäß Art. 28 Abs. 1 und 2 der Dublin III-VO iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung sowie zur Sicherung der Abschiebung angeordnet. Dieser Bescheid basierte insbesondere darauf, dass der Revisionswerber bereits am Vormittag des 17. März 2017 darüber belehrt worden sei, dass "Italien der für (ihn) zuständige Dublin-Staat" sei; dennoch sei er in Richtung Deutschland weitergereist und habe am Nachmittag des 17. März 2017 gegenüber den Beamten der Polizeiinspektion Wörgl wiederholt erklärt, nach Deutschland und keinesfalls nach Italien weiterreisen zu wollen; er habe trotz Belehrung weiterhin darauf bestanden, nach Deutschland weiterreisen zu wollen und nicht nach Italien zurückkehren zu wollen; er habe sich somit, was die Einreise- und Durchreisebestimmungen der Republik Österreich und anderer EU-Staaten anlange, uneinsichtig gezeigt.

6 Der Revisionswerber erhob Beschwerde nach § 22a BFA-VG. In dieser brachte er u.a. vor, dass die ihm zunächst ausgehändigte "Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme" in deutscher Sprache gehalten gewesen sei. Außerdem verfüge er nur über "sehr rudimentäre" Englischkenntnisse, weshalb seine in dieser Sprache durchgeführte Einvernahme seitens der Beamten der Polizeiinspektion Wörgl offenbar zu Missverständnissen geführt habe. Es könne ihm (daher) auch nicht vorgeworfen werden, gegen die Einreisebestimmungen der Europäischen Union verstoßen zu haben, weil er insbesondere nicht über die Dublin III-VO - gemeint: für ihn nachvollziehbar - aufgeklärt worden sei. Insbesondere zu den Sprachkenntnissen des Revisionswerbers, zur Klärung seiner Kooperationsbereitschaft und der Bereitschaft, das Verfahren in Österreich abzuwarten - auch im Hinblick auf das Vorliegen der Voraussetzungen für gelindere Mittel - wurde die Einvernahme des Revisionswerbers im Rahmen einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.

7 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 3. April 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde als unbegründet ab, stellte gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG, Art. 28 Abs. 2 Dublin III-VO sowie § 76 Abs. 2 Z 2 und Abs. 3 Z 1 und Z 6b FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen im Entscheidungszeitpunkt vorlägen und traf diesem Ergebnis entsprechende Kostenaussprüche. Außerdem erklärte das BVwG eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

 

8 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichthof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortungen erstattet wurden, erwogen:

9 In der Revision wird schon im Rahmen der Zulässigkeitsausführungen geltend gemacht, dass das BVwG zu Unrecht, in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, von der Durchführung der beantragten Beschwerdeverhandlung abgesehen habe. Das trifft zu, weshalb sich die Revision als zulässig und als berechtigt erweist.

10 Einleitend ist anzumerken, dass das angefochtene Erkenntnis - insbesondere wegen in den Text ständig (auch wiederholend) eingestreuter wörtlicher Wiedergaben von Aktenteilen - nur schwer lesbar ist. Es lässt sich aber doch erkennen, dass (auch) das BVwG das im gegenständlichen Fall für die Verhängung von Schubhaft erforderliche Vorliegen von "erheblicher Fluchtgefahr" - und insbesondere das Unterbleiben eines gelinderen Mittels - wesentlich damit begründete, dass sich der Revisionswerber im Zuge seines zweiten polizeilichen Aufgriffes "beharrlich" geweigert habe, nach Italien zurückzureisen. Dabei hielt es mehrfach - eine Passage aus dem Schubhaftbescheid vom 17. März 2017 wörtlich wiedergebend - fest, dass der Revisionswerber am Nachmittag des 17. März 2017 den Beamten der Polizeiinspektion Wörgl wiederholt erklärt habe, nach Deutschland und keinesfalls nach Italien weiterreisen zu wollen.

11 Die Einschätzung, der Revisionswerber habe sich beharrlich geweigert, nach Italien zurückzureisen, bzw. am Nachmittag des 17. März 2017 wiederholt gegenüber den Beamten der Polizeiinspektion Wörgl erklärt, nach Deutschland und keinesfalls nach Italien weiterreisen zu wollen, beruht auf der oben unter Rz 4 wörtlich wiedergegebenen Sachverhaltsdarstellung. Diese gibt ihrerseits den Ablauf und den Inhalt der Gespräche zwischen dem Revisionswerber und den Beamten der Polizeiinspektion Wörgl wieder, wozu der Revisionswerber aber in seiner Beschwerde an das BVwG der Sache nach geltend gemacht hat, es sei infolge seiner mangelnden Sprachkenntnisse zu Kommunikationsschwierigkeiten bzw. Missverständnissen gekommen. Das stellt das BVwG beweiswürdigend in Abrede, ohne sich jedoch - im Rahmen der beantragten Beschwerdeverhandlung - einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschafft zu haben.

12 Dazu ist indes schon einleitend anzumerken, dass die genannte Sachverhaltsdarstellung insoweit unpräzise ist, als sie von einem Bescheid des BFA vom 17. März 2017 spricht, obwohl es einen solchen Bescheid gar nicht gegeben hat (sondern offenkundig nur eine "Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme"). Vor allem aber ist darauf hinzuweisen, dass die mit dem Revisionswerber aufgenommene Niederschrift vom 17. März 2017 für sich betrachtet keinen Hinweis auf eine nachdrücklich geäußerte Ausreiseunwilligkeit nach Italien enthält und dass die Verständigung zwischen dem Revisionswerber und den Beamten der Polizeiinspektion Wörgl - mag es dort auch zu der Einschätzung gekommen sein, der Revisionswerber verfüge über gute Englischkenntnisse - auch nach den Feststellungen des BVwG teils mit Hilfe des "Google-Übersetzers Deutsch-Arabisch" erfolgte. Jedenfalls im Hinblick darauf lagen entgegen der Einschätzung des BVwG nicht die Voraussetzungen nach § 21 Abs. 7 BFA-VG vor, um trotz des ausdrücklich darauf gerichteten Antrags des Revisionswerbers von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abzusehen. Vielmehr hätte sich das BVwG im Rahmen einer solchen Verhandlung vom Revisionswerber ein Bild machen müssen, um seine Sprachkenntnisse und darauf aufbauend die Aussagekraft der Sachverhaltsdarstellung der Polizeiinspektion Wörgl verlässlich beurteilen zu können. Nur auf dieser Grundlage und auf Basis der weiteren in der Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse hätte das BVwG - allenfalls, nach Maßgabe des Verhandlungsergebnisses - zu der von ihm für wesentlich erachteten Einschätzung gelangen dürfen, der Revisionswerber habe sich in Bezug auf Italien beharrlich ausreiseunwillig gezeigt.

13 Nach dem Gesagten ist das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

14 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

15 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 31. August 2017

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